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E-Book

Schlaf gut, mein Schatz

Eltern, die ihre Kinder töten

AutorAndreas Marneros
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783105606285
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Warum töten Eltern ihr eigenes Kind? Der Psychiater und Gerichtsgutachter Andreas Marneros beleuchtet den Hintergrund solcher Taten und fragt nach ihrer möglichen Prävention. Denn die Fallgeschichten, die er erzählt, machen deutlich, dass Kindstötung nicht immer aus Brutalität oder Vernachlässigung geschieht, sondern oft unter dem Diktat einer schweren psychischen Krankheit, deren frühzeitige Erkennung und Behandlung tragische Folgen unter Umständen verhindern kann. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Prof. Dr. med. Andreas Marneros, geb. 1946 auf Zypern, studierte Medizin in Thessaloniki. 1983 Berufung zum Professor für Klinische Psychiatrie in Köln. 1985 Berufung auf den Lehrstuhl für Medizinische Psychologie und Allgemeine Psychopathologie an der Universität Bonn. Von 1992-2012 Lehrstuhlinhaber und Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.Zahlreiche Publikationen und verschiedene Auszeichnungen.

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Leseprobe

Teil A: Tötung aus Liebe – der erweiterte Suizid


Anne und Christian


Liebe, die versklavt


Es war ein wunderschöner sonniger Septembertag. Der letzte Sonntag in diesem Monat. Die Sonne strahlte, wärmte und machte glücklich. Ob sich alle bewusst darüber waren, dass es eine Art Abschiedsparty der Sonne war? Bald würden kalte, dunkle und graue Tage folgen. Und heute wollten alle Menschen noch einmal etwas von der Sonne haben, bevor sie Abschied nahm.

Der Englische Garten in München war voller Menschen: Spaziergänger, Radfahrer, Jogger, spielende und glücklich lärmende Kinder. Jugendliche spielten auf dem Rasen Fußball, Federball, Volleyball und maßen ihre Kräfte – immer mit Blick auf die vorbeigehenden Mädchen. Junge Paare tauschten Zärtlichkeiten aus. Der Teich war voll von den unterschiedlichsten Booten. Familien mit Kindern amüsierten sich prächtig darauf, und junge Paare genossen die romantische Zweisamkeit auf dem Wasser.

Anne, bekleidet mit einem leichten Trenchcoat – den sie trotz der Wärme nicht ausgezogen hatte – drehte mit kleinen, langsamen Schritten enge Kreise in der Nähe des Ufers. Sie ging nicht weiter weg, da sie in der Nähe der Wiese bleiben musste. Christian war nämlich dort und ließ seinen neuen großen Drachen hoch zum Himmel steigen. Anne blieb in Christians Nähe. Sie blieb fast immer in seiner Nähe. Auch Christian entfernte sich selten weit von Anne – seiner Mutter. Er wollte es so, und auch sie wollte es gern so haben.

Anne schien die glücklich lärmende Umgebung nicht zu beachten. Die strahlende Sonne, die Bäume, die schon begonnen hatten, Rotgold und warm leuchtendes Gelb zu tragen, das Licht und das Wasser, die Menschen und Tiere schienen weit von ihr entfernt zu sein. Die ganze lärmende Freude schien an ihr vorbeizuziehen, schien sie nicht zu erreichen.

Anne setzte sich langsam auf eine Bank am Ufer, so dass sie sowohl in Richtung Wasser sehen als auch Christian im Auge behalten konnte. Anne verlor Christian nie aus den Augen. Anne konnte es nicht ertragen, Christian aus den Augen zu verlieren. Sie saß da und dachte intensiv über Christian nach. Doch auch Frank ging ihr nicht aus dem Kopf.

Frank war ein gut aussehender 38-jähriger Mann. Er war drei Jahre älter als sie. Von Beruf war er Musiklehrer und unterrichtete am gleichen Gymnasium wie sie. Anne war von Beruf ebenfalls Lehrerin. Menschlich verstanden sie sich gut. Ein paar Mal waren sie gemeinsam essen gegangen oder musizierten miteinander. In der Regel taten sie das zusammen mit anderen Freunden. Nachdem ihr Mann sich vor drei Jahren von ihr hatte scheiden lassen, zeigte Frank zunehmendes Interesse an Anne. Damit war er nicht der Einzige. Auch andere gut aussehende, gebildete und gut situierte Männer interessierten sich für Anne. Kein Wunder, denn Anne war eine elegante, schlanke Frau mit schwarzen langen Haaren und großen dunklen Augen. Ihre Gesichtszüge erinnerten sehr an mediterrane Schönheiten. Man neigte dazu, sie mit Figuren auf griechischen Amphoren und Vasen oder mit römischen Wandmalereien zu vergleichen. Ihr Stimme war sanft und warm. Sie sprach fast immer leise und langsam. Wenn sie sprach, richteten sich ihre großen schwarzen Augen auf ihr Gegenüber. Die Wärme, die sie ausstrahlte, kam dadurch besonders zum Ausdruck. Vor ihrer Ehe mit Eduard hatte sie viele Verehrer gehabt. Sie entschied sich jedoch für den jungen, etwas unbeholfenen, manchmal kindlich-hilflos wirkenden Eduard. Sie war damals ein junges Mädchen und studierte Germanistik an der Maximilians-Universität in München. Eduard studierte an einer Theater- und Filmakademie. Fünf Jahre später wurde die Ehe geschieden. Die beiden waren zu unterschiedlich, um auf Dauer zusammen leben zu können. Während ihrer Ehe war Christian zur Welt gekommen. Kurz vor der Scheidung war er gerade vier Jahre alt geworden.

Nach der Scheidung meldeten sich neue Verehrer bei Anne. Doch sie hatte alle abgewiesen. Anne war so enttäuscht von der Ehe mit Eduard, dass sie nicht wieder das Risiko einer Beziehung eingehen wollte. Manchmal meinte sie auch, dass es zu früh für eine neue Beziehung sei. Am häufigsten aber entdeckte sie bei sich, dass Christian der wichtigste Grund war, solche Beziehungen zurzeit abzulehnen. Genauer gesagt: ihre Hingabe für Christian. Wenn sie mit jemandem etwas unternahm, hatte sie immer das bedrückende Gefühl, Christian zu vernachlässigen. Christian allein zu lassen. Das Gefühl, dass Christian allein, ungeschützt und hilflos mit einem mehr oder weniger fremden Babysitter unglücklich sein könnte. Sie fühlte sich befreit, wenn der Abend vorbei war und sie zu Christian zurück konnte. Im Kino, im Theater oder in Konzerten begann irgendwann, mitten während der Vorstellung, eine Geduldsprobe. Ihre Gedanken waren dann nur noch bei Christian und bei sich selbst. Sie hatte das Gefühl, sie verletze eine Pflicht. Die Pflicht, immer für Christian da zu sein. Er war bereits von seinem Vater allein gelassen worden, und das verdoppelte ihre Pflicht als Mutter. Dachte sie zumindest. Nach der Scheidung zog Christians Vater von München weg. Er ging nach Hamburg zu einer anderen Frau und arbeitete dort am Theater. Seine Kontakte zu Christian beschränkten sich auf immer seltener werdende Telefonate und rare Besuche. Christian klammerte sich buchstäblich an die Mutter. Er verlangte dabei wenig und ließ seine Ansprüche auch kaum sichtbar werden. Doch sowohl Anne als auch die anderen bemerkten, wie wohl sich Christian in der Nähe seiner Mutter fühlte. Wie wohl er sich fühlte, wenn er seiner Mutter eine Freude machen konnte. Und er machte seiner Mutter viel Freude. Christian merkte auch, dass seine Mutter immer für ihn da war. Nachdem der Vater weggezogen war, hatten Christian und Anne alles gemeinsam unternommen. Es entstand eine engste Mutter-Sohn-Beziehung zwischen ihnen.

 

Ja, die beiden wurden unzertrennlich. Es war eine gegenseitige tiefe Liebe, die sie füreinander empfanden. Für Anne war Christian der Mensch, den sie über alles liebte. Alles in ihrem Leben hatte nur ein Ziel: das Wohlergehen und das Glück ihres Kindes. Es war aber nicht nur Liebe, nicht nur Fürsorge, Hingabe und ein Gefühl der Pflicht zur Aufopferung, das sie für Christian empfand. Vielmehr war es eine glühende Besessenheit.

Anne war von ihren Gefühlen okkupiert. Sie konnte nichts anderes tun als das, was für Christian gut war. Auch wenn das auf ihre Kosten ging. Auch wenn das Verzicht für sie bedeutete. Die okkupierende Liebe für Christian ließ ihr keine Freiheit mehr. Auch nicht die Freiheit, ihr Leben zu genießen. Auch nicht die Freiheit, ihr Leben anders zu gestalten. Aus Angst, dass sie dadurch Christian schaden könnte.

So hatte sie alle Angebote für eine neue Beziehung ausgeschlagen. Obwohl sie in den rebellischen 60er Jahren im weltoffenen München studiert und die sexuelle Revolution miterlebt hatte, hielt sie nicht viel von passageren kurz andauernden Beziehungen. In ihrem Kopf war es klar: «Jeder soll die Freiheit haben, glücklich zu werden, so, wie er es will und kann. Auch durch die Trennung von Sexualität und Liebe, von Sexualität und Moral.» So sprach Annes Verstand. Aber ihr Herz verlangte tiefe, stabile, unerschütterliche Gefühle. Es verlangte nach Ordnung – auch in der Liebe. Nach Ordnung, auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Freizügigkeit in der Sexualität, Freizügigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen war für sie gleichbedeutend mit Unordnung.

Und es gab nichts, was sie weniger ertragen konnte als Unordnung.

Eine fesselnde Ordnung. Eine diktierte Pflicht


Diese Liebe zur Ordnung, ja diese Fixierung auf Ordnung, war ihr in ihrer Ehe zum Verhängnis geworden. Da prallten zwei Welten aufeinander: auf der einen Seite ihr Drang nach Ordnung, auf der anderen Seite Eduards chaotische Unordnung. Was Anne an Eduard anfangs so anziehend gefunden hatte – seine kindlich anmutende Hilflosigkeit, seine Sympathie erweckende Unbeholfenheit, seine ganze Persönlichkeit, die Annes Hilfsbereitschaft weckte –, führte während der wenigen Ehejahre sehr bald zur Konfrontation zwischen Ordnung und Unordnung.

 

Annes Ordnungsliebe – die nicht nur Eduard übertrieben fand – erstreckte sich nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen, Prinzipien und immaterielle Dinge, sondern ganz besonders auch auf den Alltag. Kein Glas, kein Teller, kein Besteck durfte nach Beendigung des Essens, auch nicht für ein paar Minuten, ungespült und unsortiert bleiben. Kleine Fusseln auf dem Teppichboden mussten sofort aufgehoben werden. Die Betten mussten direkt nach dem Aufstehen gemacht werden. Die Wäsche im Wäscheschrank war fast wie mit einem Lineal sortiert. Der Schreibtisch und seine Schubladen waren eine Musterausstellung für Ordnung: die Schreibfläche sauber und glänzend poliert. Nie ein Stück Papier. Nie ein Bleistift. Kein offenes Buch. Keine leere Kaffeetasse. Nichts als Sauberkeit und Ordnung! In einer Schublade lagen die Bleistifte, immer gut gespitzt, stets an der gleichen Stelle. Daneben, säuberlich getrennt, die Kugelschreiber. In einem separaten Fach lagen die drei Füllfederhalter. Korrespondenzpapier lag in der zweiten Schublade, schnurgerade sortiert. Die Bücher im Bücherregal waren nach Größe und Farbe sortiert. Die Dekoration stand auf den Regalen symmetrisch in gleichen Abständen, millimetergenau angeordnet.

Anne hatte nicht viele Freunde. Die wenigen aber, die sie hatte, waren echte tiefe Freundschaften. Einige davon dauerten bereits viele Jahre seit ihrer Schulzeit an.

Schon als sie 20 Jahre alt...

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