1 Schlaf und psychische Gesundheit – eine kurze Einleitung
Guter, ungestörter, erholsamer und erfrischender Schlaf hat für die meisten Menschen eine sehr hohe Priorität. Allgemein wird angenommen, dass gesunder Schlaf eine wesentliche Voraussetzung für Wohlbefinden, seelische Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Ausdauer am Tage ist. Umgekehrt wird ein als schlecht erlebter Schlaf häufig nicht nur in Zusammenhang mit Müdigkeit und Tagesschläfrigkeit gebracht, sondern auch für Depressivität, Antriebsmangel und verminderte Widerstandskraft gegen körperliche Erkrankungen verantwortlich gemacht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Schlafstörungen zu den häufigsten Gründen zählen, deretwegen Patienten ihren Hausarzt aufsuchen (Wittchen et al. 2001).
Schlafstörungen haben allerdings keinesfalls immer Krankheitswert. Im Gegenteil, kurzfristige Störungen des Ein- und Durchschlafens oder eine Verminderung der Schlafdauer im Rahmen akuter psychosozialer Belastungen oder akuter körperlicher Erkrankungen verschiedenster Art sind in aller Regel harmlos und vorübergehend und beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit tagsüber nicht oder zumindest nicht wesentlich. Ähnlich wie wir zwingend auf die ausreichende Zufuhr adäquater Nahrung angewiesen sind und doch einige Tage fasten können, ohne Sorge um unsere Gesundheit haben zu müssen, so ist auch Schlaf in ausreichender Qualität und Quantität ein unbedingtes Muss, und doch können wir einen kurzfristigen Mangel problemlos ausgleichen.
Länger- und langfristige Schlafstörungen, die viele Wochen, Monate oder Jahre andauern, stellen hingegen ein erhebliches und ernsthaftes Gesundheitsproblem dar. Die 12-Monats-Prävalenz klinisch relevanter Schlafstörungen beträgt in Europa mindestens 10% (Wittchen et al. 2011; Arnardóttir et al. 2016). Ursächlich führend sind psychiatrische Erkrankungen einschließlich der primären Insomnie und nächtlicher Atmungsstörungen, aber darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer relevanter Kausalitäten. Schlafstörungen sind gut behandelbare Erkrankungen. Die therapeutischen Optionen reichen von einer nächtlichen Überdruckbeatmung beim obstruktiven Schlafapnoesyndrom über pharmakologische Strategien bis hin zu sehr effektiven verhaltenstherapeutischen Verfahren bei verschiedensten Formen der Insomnie. Schlafstörungen führen bei vielen Patienten zu erhöhter Schläfrigkeit und gehören damit auch zu Hauptursachen müdigkeitsbedingter Unfälle im Haushalt, bei der Arbeit und im Straßenverkehr (Karimi et al. 2014). Zunehmend wird klar, dass Schlafstörungen auch ursächlich an der Entstehung metabolischer Erkrankungen, insbesondere Übergewicht und Diabetes, beteiligt sind. Und schließlich wird begründet vermutet, dass Schlafstörungen nicht nur Symptome psychiatrischer Erkrankungen sind, sondern deren Entstehung auch begünstigen können (Riemann und Hajak et al. 2009).
Dennoch ist sowohl die klinische, wissenschaftliche Beschreibung der Phänomenologie von Schlafstörungen als auch die ihrer Ursachen und gesundheitlichen Folgen deutlich komplexer, als dies auf den ersten Blick scheint.
Ein wesentliches Problem stellt in diesem Zusammenhang die Diskrepanz zwischen der subjektiven Beurteilung des Schlafes und den Ergebnissen objektiver Messungen dar. Es kommt durchaus häufig vor, dass Menschen ihren Schlaf als völlig ungestört beschreiben und empfinden, obwohl sich im Schlaflabor erhebliche Störungen der Schlafkontinuität oder eine Verminderung der Schlafdauer objektivieren lassen. Ganz typisch ist dies bei Patienten mit nächtlichen Atmungsstörungen wie zum Beispiel dem obstruktiven Schlafapnoesyndrom. Umgekehrt klagen sehr viele Patienten über schwere Störungen des Ein- und Durchschlafens oder eine verminderte Dauer oder Erholsamkeit des Nachtschlafes, ohne dass sich im Schlaflabor relevante Normabweichungen objektivieren lassen. Dies ist typisch für Patienten mit primärer Insomnie, kommt aber auch häufig bei Schlafstörungen im Rahmen anderer psychiatrischer Erkrankungen vor.
Subjektive Wahrnehmung und objektiv messbare Aspekte des Schlafes sind allerdings nicht völlig unabhängig voneinander. Insbesondere bei Gesunden sind die entsprechenden Korrelationen hoch, die Zusammenhänge also eng. Im Kontext gestörten Schlafes hingegen können die Diskrepanzen enorm sein, was einerseits darauf hindeutet, dass Schlaferleben mit objektiven Messungen nicht umfassend und vollständig beschreibbar ist, andererseits aber auch zeigt, dass nicht jede Form einer Schlafstörung dem subjektiven Erleben und Empfinden direkt zugänglich ist.
Ähnlich verhält es sich mit Störungen der Tagesbefindlichkeit, die mit Schlafstörungen einhergehen. Messbare Veränderungen, wie zum Beispiel eine erhöhte Einschlafneigung oder verminderte Vigilanz am Tage gehen nicht zwingend mit dem subjektiven Eindruck von Tagesmüdigkeit einher und umgekehrt klagen viele Patienten ohne objektivierbare Veränderungen der Vigilanz über extreme Müdigkeit; oft zeigen diese Patienten sogar eine gegenüber Gesunden verminderte Einschlafneigung.
Schlafgestörte Patienten berichten über eine Vielzahl von Befindlichkeitsstörungen am Tage. Hierzu zählen neben Schläfrigkeit, Müdigkeit und Erschöpftheit Irritabilität, Unruhe, Traurigkeit und Konzentrationsstörungen. Überhaupt finden sich nahezu alle psychopathologischen Symptome bei schlafgestörten Patienten und umgekehrt gelten Schlafstörungen in unterschiedlicher Ausprägung als Symptome nahezu aller psychiatrischen Störungen (Baglioni und Riemann 2016). Diese enge Assoziation begründet die hohe Relevanz der Schlafmedizin für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Bedeutung gestörten Schlafes für die psychische Gesundheit geht dabei weit über die symptomorientierte Betrachtungsweise hinaus. Schlafstörungen sind zwar häufig Symptom einer anderen psychiatrischen Erkrankung, sie können aber auch im Sinne einer primären Insomnie die Kernsymptomatik einer eigenständigen psychiatrischen Störung darstellen oder sie können hinweisend auf eine andere komorbide schlafmedizinische Problematik sein.
Komorbide schlafmedizinische Erkrankungen kommen bei psychiatrischen Patienten einerseits akzidentell in der gleichen Häufigkeit vor wie in der Allgemeinbevölkerung. Manche treten aber auch überzufällig häufig auf, wie zum Beispiel das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom oder das Restless-legs-Syndrom (RLS). Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von der Induktion eines RLS durch manche Psychopharmaka über die erhöhte Prävalenz der Adipositas, eines Risikofaktors für nächtliche Atmungsstörungen, bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, bis hin zu möglicherweise direkten Kausalzusammenhängen.
Einige wenige Fragen zum Schlaf sind Teil jeder sorgfältigen psychiatrischen Statuserhebung, auch dann, wenn Patienten von sich aus keine Schlafstörungen berichten. Hierzu gehören nicht nur Fragen, die das Ein- und Durchschlafen betreffen, sowie spezifische schlafbezogene Phänomene wie Schnarchen, Albträume oder das frühmorgendliche Erwachen, sondern auch Aspekte der Vigilanz am Tage, z. B. Müdigkeit oder Tagesschläfrigkeit. Wenn aus Sicht des Patienten schlafbezogene Symptome weder im Vordergrund stehen noch als sehr belastend erlebt werden und der psychopathologische Befund sowie die Anamnese eine eindeutige psychiatrische Diagnose erlauben, ist eine differenziertere schlafbezogene Diagnostik entbehrlich.
Wenn jedoch aus Sicht des Patienten oder des Untersuchers Schlafstörungen, Müdigkeit und/oder Tagesschläfrigkeit prominent und subjektiv deutlich beeinträchtigend sind, sind zunächst eine ausführlichere Anamnese und die Anwendung einfacher Messinstrumente, wie eines Schlaftagebuches und/oder spezifischer Selbstbeurteilungsfragebögen indiziert. Bei einem Teil der Patienten sind darüber hinaus apparative Untersuchungen, zum Beispiel eine Polygraphie oder Polysomnographie zielführend, wie dies detailliert im Kapitel zur Schlafmedizinischen Diagnostik diskutiert wird.
Eine nicht unerhebliche Zahl von Patienten sieht subjektiv nicht nur die Schlafstörung ganz im Fokus ihrer Beschwerden, sondern führt darüber hinaus auch jegliche Störung der Tagesbefindlichkeit direkt auf die Schlafstörung zurück. Unter solchen Patienten finden sich nicht selten depressive Erkrankte, denen es extrem schwerfällt, eine »klassisch« psychiatrische Diagnose zu akzeptieren, meist deshalb, weil solche Diagnosen – auch die Depression – immer noch als...