Sabine Merta
Schlank!
Ein Körperkult der Moderne
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN: 978-3-515-09615-7
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© 2009 S. Franz Steiner Verlag, Stuttgart
Einbandgestaltung: deblik, Berlin
eBook-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Einführung
»Mehr Menschen als das Schwert tötet der Fraß.«1 Dieses Zitat des griechischen Arztes Galenus stammt aus einem Schlankheitsführer der 1920er Jahre und gilt heute mehr denn je. Fast jeder dritte Deutsche leidet unter Übergewicht, 15 bis 20 % der Kinder unter Fettsucht. Zu fettes Essen und Bewegungsarmut sind zur Gesundheitsgefahr Nummer eins geworden. Die gesundheitlichen Folgen chronischer Überernährung sind vor allem Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus und Krebs. Etwa ein Drittel der Ausgaben im Gesundheitssystem entfällt auf ernährungsbedingte Krankheiten. Die Übergewichtsbekämpfung ist damit zur neuen »sozialen Frage« der modernen Wohlstandsgesellschaften geworden.
Gesundheitliche Überlegungen und der Wunsch nach einer schlanken, sportlichen Körpergestalt lassen die Verbraucher zu Diätkost, Reformwaren, »Bio«-Kost und »Light«-Produkten greifen und treiben sie in die Fitness-Studios. Vor allem Frauen versuchen durch eine »Diät« ihre Figur zu verbessern bzw. ihr Gewicht zu vermindern. Was aber versteht man eigentlich unter »Diät halten«?
Darunter wird im Allgemeinen ein gezügeltes Essverhalten, d. h. eine verminderte Nahrungszufuhr verstanden. Diese semantische Beschränkung auf eine kalorienreduzierte Kost erfuhr der Diätbegriff jedoch erst in den 1920er Jahren. In dieser Untersuchung wird das Wort »Diät«, das sich von dem griechischen dìaitá (rechte Lebensweise) ableitet, wie in der Ernährungsreformbewegung des 19. Jahrhunderts in seiner ursprünglichen Bedeutung zur Bezeichnung einer alternativen, von dem üblichen Ernährungsstil abweichenden Lebensweise benutzt, da historisch nachweisbare Diätkostformen bereits existierten, ehe die moderne Kalorienlehre propagiert wurde.
Heute ist die Diätkost aus dem Alltagsleben kaum noch wegzudenken. Die Diät- und Reformwarenindustrie und die Fitness-Branche verzeichnen Zuwachsraten wie nie zuvor. Die Schlankheitswelle hat breite Teile der Bevölkerung erfasst. Aber über den historischen Ursprung und die Entwicklungszusammenhänge der Diätkost und Schlankheitsmode ist wenig bekannt. Hier existieren vielfach lediglich vage Vermutungen, etwa dass moderne Diät-, Reform- und Reduktionskost »Erfindungen« neuester Zeit seien und das Resultat eines extremen Schlankheitsideals, dessen Geschichte allenfalls bis zum übertriebenen Modeideal der 1960er Jahre zurückreiche, das durch das berühmte englische Fotomodell Twiggy »verkörpert« wurde.
Das Hauptziel des vorliegenden Buches wird es daher sein, zu dieser Entwicklung erstmals verlässliche historische Grundlagen zu liefern. Drei Hauptfragen werden im Mittelpunkt stehen:
- Wann lassen sich erste wirkliche Vorläufer der modernen Diätkost, die sich zum einen im Laufe der Zeit unter dem Einfluss eines neuen Schlankheitskultes zu einer Reduktionskost entwickelten, zum anderen aber auch nie ihren ursprünglichen hygienischen Nutzen als Heilkost verloren, historisch nachweisen?
- Wann lassen sich erste hygienische Körperideen aufspüren, die zu einer allmählichen Bewusstseinsänderung in Bezug auf den Körper führen konnten und das Schönheitsideal eines schlanken, jugendlich-sportlichen Körpers mitgeprägt haben?
- Wie eng waren verändertes Ernährungsbewusstsein (Ernährung und Gesundheit) und Körperbewusstsein (Ernährung und physische Ästhetik) seit dem späten 19. Jahrhundert miteinander verknüpft?
Zu diesen Fragekomplexen sind in den vergangenen Jahrzehnten bereits verschiedene Veröffentlichungen aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen erschienen. Sie sollen hier einleitend kurz genannt werden:
Erste Einführungen in die Problemfelder Naturheilkunde und Lebensreform des 19. und 20. Jahrhunderts bieten aus medizinhistorischer Perspektive die Bücher von Karl Eberhard Rothschuh (»Naturheilbewegung, Reformbewegung und Alternativbewegung«), Cornelia Regin (»Selbsthilfe und Gesundheitspolitik: Die Naturheilbewegung im Kaiserreich«) und Martin Dinges (»Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich ca. 1870 – ca. 1933«). Hinzu kommen die beiden sozialhistorischen Dissertationen von Wolfgang R. Krabbe (»Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform«) und Judith Baumgartner (»Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel«) sowie eine grundlegende Studie der Berliner Soziologin Eva Barlösius zur Sozial- und Organisationsstruktur der Lebensreformbewegung (»Naturgemäße Lebensführung: Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende«). All diese Arbeiten berühren das Thema Schlankheitskult aber nur am Rande und schöpfen die Quellen nicht aus.
Zu den theoretischen Vorstellungen und praktischen Konzepten über Gesundheit, Diät und Körperästhetik um die Jahrhundertwende in Deutschland gibt es im Gegensatz zum englischsprachigen Raum noch keine zusammenfassende Monographie. Es existieren bisher lediglich vier internationale Studien zur Schlankheitsthematik: das Buch »Fat-History« von Peter N. Stearns, das die amerikanischen Verhältnisse mit der französischen Ess- und Körperkultur vergleicht, die Arbeit »Culture and weight consciousness« des englischen Psychiaters Mervat Nasser, die die soziokulturellen Hintergründe von Essstörungen erforscht, die Studie »Paradox of Plenty« von Harvey Levenstein über den historischen Zusammenhang von Gesundheit und Ernährung in Amerika sowie das Buch »Dick oder dünn? Körperkult im Wandel der Zeit« über die französischen Verhältnisse. Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf die deutschen Verhältnisse übertragen, da die deutsche Naturheilbewegung des 19. Jahrhunderts mit ihrer Breitenwirkung nicht erfasst wurde.
In der übrigen vorliegenden Literatur werden die Themen Diät und Schlankheit entweder zu oberflächlich oder nur aus speziellen Blickwinkeln, meist aus psychologischer, medizinischer, soziologischer oder frauengeschichtlicher Perspektive, betrachtet, ohne sie vor ihrem allgemeinen historischen Hintergrund zu reflektieren. Aus psychologischer Sicht behandelt beispielsweise Tilmann Habermas in mehreren Veröffentlichungen die kulturhistorischen Entstehungsbedingungen von seelisch bedingten Essstörungen. Weitere Untersuchungen zur Geschichte der Essstörungen und Ernährungskrankheiten stammen etwa von Jacobs Brumberg, Walter Vandereycken und dem Berliner Psychologen Christian Klotter.
Der Lübecker Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt bietet höchst Lesenswertes in seinem Überblick zur »Kulturgeschichte der Körpererfahrung«, stellt aber nicht die notwendige Verbindung zwischen Diätetik und Körperkult her; die Amerikanerin Naomi Wolf kritisiert dagegen die »erbarmungslose« industrielle Geschäftemacherei mit dem modernen Schlankheitsideal der westlichen Welt. Der Sozialwissenschaftler Thomas Kleinspehn beschränkt seine Untersuchung »Warum sind wir so unersättlich?« auf einen psychoanalytischen Forschungs- und Interpretationsansatz des Essens zwischen Normalität und Abweichungen, vergisst aber nach den historischen Ursachen für die Entstehung dieser von der Gesellschaft konstruierten Körpernormen zu fragen. Informativer für die von uns gewählte Problemstellung ist das von Angelika Grauer und Peter F. Schlottke herausgegebene Buch »Muss der Speck weg? Der Kampf ums Schönheitsideal«. Die Autoren schneiden dabei das Thema der historischen Entwicklung von Körperschönheitsidealen kurz an, führen es aber nicht weiter aus.
Auf dem Gebiet der Frauen- und Geschlechterforschung gibt es ebenfalls einige neuere Arbeiten, die das moderne Schlankheitsideal kritisch beleuchten. So klagt etwa Martina Bick in ihrem Buch »Warum sollen wir Dicken uns dünne machen?« den »Schlankheitsterror« an, der gerade auf Frauen durch die Medien und durch die Allgemeinheit ausgeübt werde, und auch das von Alice Schwarzer herausgegebene Emma-Buch »Durch Dick und Dünn« macht den modisch diktierten extremen Schlankheitskult für das Entstehen lebensgefährlicher Essstörungen verantwortlich. Der Zürcher Medizinhistoriker Erwin H. Ackerknecht schneidet in seiner Arbeit »Therapie von den Primitiven bis zum 20. Jahrhundert« die Geschichte der Diät an, führt sie aber nur auf die medizinisch-ernährungswissenschaftlichen Errungenschaften der Jahrhundertwende zurück, ohne die gleichzeitig...