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E-Book

Vom Übersetzen zum Simultandolmetschen

Handwerk und Kunst des zweitältesten Gewerbes der Welt

AutorJürgen Stähle
VerlagFranz Steiner Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl413 Seiten
ISBN9783515097901
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,00 EUR
Übersetzen ist Entscheiden. Simultandolmetschen ist blitzschnelles Entscheiden. Erst beim Übersetzen offenbaren Text und Rede ihre sprachliche Qualität. Und: Nur exzellente Übersetzer können gute Simultandolmetscher sein.
Aber wie geht das - gleichzeitig hören und sprechen? Kann der Dolmetscher dabei noch über Inhalte nachdenken? Zumal: Ein guter Simultandolmetscher ist immer einen Satz voraus.

Grimme-Preisträger Jürgen Stähle, Simultandolmetscher für ZDF, ARD und ARTE, führt hier mit großer Kenntnis und Esprit in die Welt des Dolmetschens und Übersetzens ein.
Ein aus der Praxis geschriebenes Lesebuch für Studenten und Sprachlehrer, auch für den interessierten Nachwuchs - und für jeden, der einen tieferen Einblick in die Mechanismen von Sprache und Sprechen, vom Übersetzen als Überwindung der Sprachgrenzen gewinnen möchte.

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Leseprobe

Kapitel 1
Der Simultandolmetscher – das unbekannte Wesen


Der Beruf des Simultandolmetschers – ein unbekannter Beruf. Ein Beruf, von dem viele Menschen mit großer Bewunderung sprechen – ja, von dem sogar eine gewisse Faszination ausgeht. Ist die Feststellung, ein Beruf sei unbekannt, mit der Annahme, er übe Faszination aus, vereinbar? Sind freiberufliche Simultandolmetscher im Reich der freischaffenden Künstler beheimatet? Helfen uns die Muster und die materiellen Bedingungen ihrer Arbeit, vielleicht auch ihre Rolle in der Gesellschaft, sie ein wenig genauer zu verorten? Wie ist es bei ihnen mit dem Einkommensniveau, das schließlich immer wieder herangezogen wird, um einen Beruf einzuschätzen? Sind sie insofern eher mit freien Journalisten oder mit verwandten Berufen, wie Übersetzern und Sprachlehrern, zu vergleichen? Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen, in die Kabinen der Simultandolmetscher, um Antworten auf diese Fragen zu versuchen. „Der Simultandolmetscher, das unbekannte Wesen“ – diese Anspielung auf einen Aufklärungsfilm der Sechzigerjahre – soll Programm und Motto für die vorliegenden Aufzeichnungen sein.

Als ich vor vielen Jahren – die Tinte auf meinem Diplomzeugnis war noch nicht ganz getrocknet – zu meinem ersten Engagement aufbrach, besuchte ich auf dem Wege zum Konferenzort eine Tante und erzählte ihr voller Stolz von diesem ersten Schritt in mein Berufsleben. „Ja, bekommst du das denn auch bezahlt, mein Junge?“, lautete ihre erste Reaktion. Immer wieder bin ich in den frühen Jahren meiner beruflichen Laufbahn Menschen begegnet, die erstaunt waren zu hören, dass die Tätigkeit des Dolmetschens durch eigens dafür ausgebildete, hochspezialisierte Experten für mehrsprachige Kommunikation ausgeübt wird. Dass viele dieser etwas schwer einzuordnenden Sprachprofis auf freiberuflicher Grundlage für Stunden oder Tage engagiert werden, um bei internationalen Zusammenkünften zu dolmetschen.

Es gibt Berufe, über die niemand ohne besonderen Anlass nachdenkt. Sie sind einfach zu fest in unseren Alltag eingewoben. Tagtäglich, ja routineartig haben wir mit ihnen zu tun, begegnen wir ihren Vertretern. Nehmen wir den Arztberuf: Wir denken zwar über die Arbeit des Arztes und ihre Inhalte nicht weiter nach, aber es würde uns auch nicht einfallen, von dem Arzt als unbekanntem Wesen zu sprechen. Es muss eine Anmutung von Geheimnisvollem im Spiel sein, es darf nicht auf den ersten Blick für jedermann zu beantworten sein, wie etwas gemacht wird, ob es überhaupt möglich ist, welche Fertigkeiten jemand mitbringen muss – es braucht eine gewisse Aura von Akrobatik und Zauberei. Denn sonst würden wir ja vielleicht auch von einem Dachdecker, dem in luftiger Höhe niemand auf die Finger sieht (daher „Das kannst du halten wie ein Dachdecker“) oder von einem Tiefseetaucher, dem noch niemand von uns bei der Arbeit zugesehen hat, als dem „unbekannten Wesen“ sprechen.

Sodann gibt es Berufe, über die wir aus dem gegenteiligen Grund nicht nachdenken: Sie sind am anderen Ende der Skala, weit weg von unserem Alltagsleben angesiedelt. Und sie werden womöglich von vielen Menschen gar nicht als Beruf betrachtet oder wahrgenommen. In diese Kategorie gehören auch die Simultandolmetscher. Über sie will ich schreiben, muss aber gleich einschränken, dass wir eigentlich von dem Berufsbild der Konferenzdolmetscher reden. Nicht jeder dieser besonders ausgebildeten Dolmetscher muss auch über die Kompetenz zum Simultandolmetschen verfügen, nicht alle dolmetschen in allen ihren Arbeitssprachen simultan, sondern manchmal nur gesprächsweise oder im später vorzustellenden Konsekutivmodus. Aber wir nennen uns lieber Simultandolmetscher, weil – unbekanntes Wesen hin oder her – diese Bezeichnung mehr aussagt. Und weil wir fast immer, wenn wir uns als Konferenzdolmetscher bezeichnen, gefragt werden, ob wir auch „dieses Simultan machen“.

Wichtig für die Unterscheidung zwischen unbekanntem Wesen und vertrautem, alltäglichem Beruf ist auch die Frage, ob wir mit einem Beruf unwillkürlich ein bestimmtes Gesicht verbinden. Kaum ist vom Arztberuf die Rede, und schon sehen wir vor unserem geistigen Auge unseren Hausarzt. Dasselbe gilt für unseren Bäcker, den Pastor oder unseren Lieblingsmoderator im Fernsehen. Aber ein Simultandolmetscher? Wie steht es mit Ihrer Vertrautheit mit diesem Beruf und seinen Vertretern? Wenn Sie nicht in Ihrem persönlichen Umfeld einen solchen kennen und sich daher direkt an der Quelle über den Beruf informieren können, dann werden Sie die Simultandolmetscher mehr als die Vertreter anderer Berufe als unbekannte Wesen empfinden.

Zu dem unscharfen Bild, das die meisten Zeitgenossen von dem Beruf des Konferenzdolmetschers und erst recht von einzelnen Inhalten und dem ihm zugrunde liegenden Anforderungsprofil haben, passt die Beobachtung, dass viele Laien überrascht reagieren, wenn sie erste Einzelheiten erfahren: etwa dass diese hochspezialisierten Sprachmittler, die heute vorwiegend als Simultandolmetscher eingesetzt werden, ihren Beruf meistens im Rahmen eines Hochschulstudiums erlernen. Dass sie im Idealfall schon vor Aufnahme des Studiums überdurchschnittliche Sprachkenntnisse und -fertigkeiten mitbringen (schließlich soll das Studium keine Sprachausbildung sein). Oft sind Außenstehende auch erstaunt, dass nur relativ wenige Dolmetscher einen zweisprachigen Familienhintergrund aufweisen. Auch wissen die meisten nicht, dass Dolmetscher sich nach Abschluss der Ausbildung für eine Tätigkeit als angestellte bzw. beamtete Dolmetscher oder als sogenannte Freelancer entscheiden müssen – wenn alles gut geht, dann für die Dauer eines ganzen Berufslebens. Aber nur wenn es besonders gut geht, erreichen diese Freiberufler materielle und wirtschaftliche Bedingungen, wie sie auch anderen akademischen freien Berufen normalerweise zuteil werden.

Auf welche Annahmen und Spekulationen müssen wir uns stattdessen einstellen, wenn Außenstehende nach ihren Vorstellungen über die Simultandolmetscher befragt werden? Denken wir nur an zwei der häufig zu hörenden Reaktionen: „Sie wird Dolmetscherin, weil sie irgendetwas mit Sprachen machen wollte.“ Und „Dolmetscher? Das sind doch sicher die reinsten Sprachakrobaten!?“ Wie sollte eine breitere Öffentlichkeit auch tiefere Einblicke in einen Beruf gewinnen, der praktisch immer im Verborgenen ausgeübt wird? Dessen Vertreter genau das Gegenteil von „ubiquitär“ sind, wie in der Wissenschaftssprache viele Pflanzen und vor allem Kleinlebewesen genannt werden und wie es für die vielen, oben erwähnten „Alltagsberufe“ zutrifft?

Simultandolmetscher bewegen sich in einer vergleichsweise abgeschlossenen Welt, im internationalen Konferenzbetrieb. Wer nicht gelegentlich an einer internationalen Konferenz teilnimmt, trifft womöglich sein ganzes Leben lang keinen Simultandolmetscher. Auch bei dem heute recht verbreiteten Simultandolmetschen im Fernsehen arbeiten wir im Verborgenen – insofern all denen vergleichbar, die nicht vor, sondern hinter der Kamera agieren. Und zahlreiche Zuschauer machen sich den Unterschied zwischen Verdolmetschung und Synchronisierung umso weniger bewusst, je besser die Simultanverdolmetschung ausfällt.

In der Außenwahrnehmung werden die zwei Berufe Dolmetscher und Übersetzer häufig verwechselt. Kaum jemand wird darüber nachdenken, dass es einerseits erhebliche Unterschiede zwischen einem Dolmetscher und einem Übersetzer gibt, andererseits jedoch die beiden ein gemeinsames Fundament haben, ja dass sie womöglich aus derselben Wurzel wachsen. Wer macht sich bewusst, dass perfekte Sprachkenntnisse – was immer darunter zu verstehen sein mag – nicht mehr darstellen als das Handwerkszeug des Dolmetschers – vergleichbar mit der Kelle des Maurers oder dem Flügel des Konzertpianisten? Erfolgreiches Übersetzen und Dolmetschen erfordert immer ein sicheres Verstehen von Text und Rede, aber bei Texten mit schwierigem, generell mit fachlichem Inhalt sind zusätzlich fachliche Kenntnisse unerlässlich. Ein Konferenzdolmetscher muss darüber hinaus von so vielen Fragen etwas verstehen, so viele, nicht nur rein sprachliche, sondern insbesondere kommunikationsspezifische Techniken der Sprachanwendung kennen und beherrschen, dass man geneigt sein könnte, ihn als einen der letzten Universalisten in der heutigen Zeit der exzessiven Spezialisierung zu sehen.

Etliche Jahre nach der eingangs wiedergegebenen Anekdote – die Tinte auf dem Diplomzeugnis war inzwischen längst getrocknet – fragte mich ein französischer Konferenzteilnehmer während der Kaffeepause, in welcher Firma der auf der Konferenz versammelten Branche ich denn mein Geld verdiente. „Ich bin einer der hier eingesetzten Simultandolmetscher“, war meine Antwort, woraufhin er einen Moment lang nachdachte und zögerte, um dann zu bemerken: „Ah bon, warum auch nicht? Das ist sicher ein Beruf wie jeder andere.“ Er wollte mit dieser Formulierung wohl nicht auf eine Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit mit anderen Berufen hinaus, sondern vielmehr diesem, von ihm bisher nicht wahrgenommenen Metier seine ganz persönliche Anerkennung als Beruf aussprechen.

Wir erinnern uns an Berufe aus der Zeit unserer Kindheit, von denen wir niemals erwartet hätten, dass sie heute nicht einmal mehr als Relikte einer vergangenen Zeit existieren würden. Andere Berufe gibt es mitunter allenfalls noch in einer bis zur Unkenntlichkeit veränderten Form, wie zum Beispiel den des Schriftsetzers. Ganz anders hat sich der Beruf des Simultandolmetschers entwickelt, der damals gerade in den Kinderschuhen steckte. Schauen wir uns an, warum und inwiefern das lange Zeit eher flimmernde Bild von diesem Beruf in den letzten dreißig bis...

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