Schmerz
Schmerz ist lebensnotwendig, um uns vor Gefahren zu warnen und uns darauf aufmerksam zu machen, dass mit unserem Körper etwas nicht stimmt. Er kann aber auch völlig überflüssig sein, vor allem, wenn er dauerhaft bestehen bleibt. Die letzten Jahre haben der Schmerzforschung spannende Zeiten beschert und immer genauere Einblicke in die Komplexität und Dynamik der Schmerzwahrnehmung erlaubt. Sie sind aber nicht nur von wissenschaftlichem Interesse. Vielmehr helfen sie dabei, Schmerzen besser einzuordnen und besser behandeln zu können.
Wie entstehen Schmerzen?
Jeder weiß, was passiert, wenn Finger eine heiße Herdplatte berühren. Sie werden innerhalb eines Bruchteils von Sekunden wieder zurückgezogen, noch bevor der Schmerz bewusst wahrgenommen wird. Das Beispiel zeigt: Schmerz ist ein Alarmsignal, das auf drohende Gefahren oder bereits eingetretene Schädigungen hinweist. Ohne Schmerzempfinden würden die Finger auf der heißen Herdplatte liegen bleiben und verbrennen.
Solche Schmerzreize werden ausgelöst, wenn Körpergewebe geschädigt wird oder Schädigung unmittelbar droht, etwa durch Verletzungen, Entzündungen, Tumoren, starke Hitze und extreme Kälte, Chemikalien, wie Säuren oder Laugen, oder auch »schmerzhafte« Berührungen. Damit der Körper sie wahrnehmen kann, verfügt er über Schmerzfühler, die als Nozizeptoren (von nocere: schädigen) bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Nervenendigungen, die sich unter der Haut, aber auch an den Muskeln, Gelenken, Knochen und Organen befinden. Nehmen Nozizeptoren einen Schmerzreiz auf, leiten sie ihn als elektrisches Signal zunächst zum Rückenmark und dann weiter zum Gehirn, ähnlich wie Strom in einem Stromkabel transportiert wird. Erst wenn das Signal »Schmerz« im Gehirn ankommt und verarbeitet wird, gelangt der Schmerz in unser Bewusstsein: Es tut weh. Der Blutdruck steigt, Hormone werden ausgeschüttet. Unser Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt. Wie er auf den Schmerzreiz reagiert, kann sehr verschieden sein. Er hat die Möglichkeit, sofort zu reagieren, also die Finger von der Herdplatte zu ziehen. Er schüttet auch Endorphine aus, die als körpereigene Opioide den Schmerz lindern (siehe hier Schmerzempfinden).
Schmerzleitung
Akuter Schmerz – chronischer Schmerz
Akuter Schmerz kann Sekunden bis wenige Tage dauern. Schmerzen dagegen, die länger als sechs Monate anhalten oder immer wiederkehrende starke Schmerzen wie etwa eine Migräne werden als chronische Schmerzen bezeichnet. Akuter und chronischer Schmerz nterscheiden sich aber nicht nur in ihrer Dauer. Während der akute Schmerz ein durchaus nützliches Warnsignal ist, haben chronische Schmerzen bei vielen Patienten ihre eigentliche Warnfunktion verloren. Sie haben sich verselbständigt und sind zu einem eigenständigen Krankheitsbild geworden.
Akuter Schmerz als Alarmsystem
Akute Schmerzen sind als Alarmsystem für unseren Körper sehr nützlich. Sieschützen uns vor Gefahr und aktivieren die Abwehrsysteme. Sie weisen auf mögliche Krankheiten hin und sorgen dafür, dass wir zum Arzt gehen. Und sie führen beispielsweise bei Verrenkungen oder Verstauchungen dazu, dass wir die verletzten Körperteile ruhig stellen und durch eine sinnvolle Schonhaltung den Heilungsprozess fördern. Damit Nozizeptoren nicht auf alle äußeren Reize, die permanent auf unseren Körper einprasseln, reagieren, gibt es eine Reizschwelle. Nozizeptoren leiten die Information »Schmerz« nur dann an das Gehirn weiter, wenn der Schmerzreiz eine bestimmte Stärke erreicht.
Lebensrettend: Schmerz bei Hirnblutung
Bei Patienten mit einer Hämophilie oder einem schweren von-Willebrand-Syndrom können plötzliche Schmerzen in Gelenken, Muskeln oder auch im Gehirn auf eine akute Blutung hinweisen und zum sofortigen Handeln zwingen. Die Applikation eines Faktorpräparats und die Kontaktaufnahme mit dem betreuenden Hämophiliezentrum können dann die drohenden Folgen der Blutung verringern und manchmal sogar lebensrettend sein.
Chronische Schmerzen: völlig nutzlos
Werden Nozizeptoren ständig mit Schmerzreizen überflutet, entwickeln sie eine Überempfindlichkeit. Die Reizschwelle, ab der Schmerzen gemeldet werden, sinkt. Es können zusätzlich Nozizeptoren aktiviert werden, die bisher »geschlafen« haben und auf Schmerzreize gar nicht reagiert haben. Dies alles führt dazu, dass das Gehirn ständig mit der Information »Schmerz« konfrontiert wird. Schon geringfügige Reize lösen dann starke Schmerzen aus, beispielsweise wenn ein Wattebausch die Haut berührt. Auch das körpereigene Schmerz-Abwehrsystem mit seinen Endorphinen hat dann keine Chance mehr, den Schmerz zu kontrollieren. Chronische Schmerzen haben im Gegensatz zu akuten Schmerzen keine Warnfunktion. Vielmehr können anhaltende und immer wiederkehrende schwere Schmerzreize langfristig dazu führen, dass Nervenzellen ohne äußeren SchmerzreizSchmerzsignale an das Gehirn senden. Dann hat sich der Schmerz verselbständigt und ist zu einer eigenständigen Krankheit geworden. Entscheidend für diese Entwicklung ist das Schmerzgedächtnis (siehe Kasten hier). Um der Entwicklung chronischer Schmerzen entgegenzutreten, ist es wichtig, akuten Schmerz frühzeitig und wirksam zu behandeln, damit der Schmerz sich gar nicht erst verselbständigt. Den Indianer zu spielen, der keinen Schmerz kennt, ist dagegen die falsche Strategie.
Arthrose verhindern
Immer wiederkehrende Blutungen in das Gelenk können zu einer dauerhaften Schädigung führen und die Entwicklung einer Arthrose fördern. Diese degenerative Gelenkschädigung kann dann zu chronischen Schmerzen führen. Die rechtzeitige Therapie der Blutung oder, besser noch, die konsequente Prophylaxe, kann das Risiko für eine Arthrose bei Patienten mit Hämophilie oder schwerem von-Willebrand-Syndrom senken.
Nozizeptiver Schmerz – neuropathischer Schmerz
Um Schmerzen so gezielt und wirksam wie möglich behandeln zu können, müssen ihre Ursachen genau erkannt werden.
- Nozizeptiver Schmerz ist die häufigste Schmerzform. Er entsteht, wenn die Schmerzfühler (Nozizeptoren) von Schmerzreizen stimuliert werden (siehe hier). Der Schmerz ist scharf und stechend, lässt sich gut lokalisieren und ist meist abhängig von körperlicher Belastung. Zu den nozizeptiven Schmerzen gehört auch der Arthroseschmerz, mit dem viele Patienten mit Hämophilie oder schwerem von-Willebrand-Syndrom konfrontiert sind (siehe auch Tipp), vor allem im höheren Lebensalter.
- Neuropathische Schmerzen sind Nervenschmerzen. Etwa ein Viertel der Patienten mit chronischen Schmerzen leidet darunter. Er entsteht durch die Schädigung oder Funktionsstörung der Nerven selbst. Verursacht werden sie durch Verletzungen, aber auch durch Nervenentzündungen oder Stoffwechselstörungen. Dabei wird der Nerv überempfindlich und reagiert schon bei kleinen Reizen mit einer Schmerzempfindung.
Bei manchen Erkrankungen ist nur ein Nerv betroffen, etwa bei der Trigeminusneuralgie, einem äußerst schmerzhaften Gesichtsschmerz. Sind viele Nerven geschädigt, spricht man von Poly(poly = viel)neuropathie. Sie kann bei Diabetikern auftreten, deren Nervendurch die ständig erhöhten Blutzuckerspiegel geschädigt sind. Bei Blutgerinnungsstörungen kann ein Hämatom, das auf einen Nerv drückt, einen neuropathischen Schmerz auslösen. Neuropathische Schmerzen sind, im Gegensatz zu nozizeptiven Schmerzen, brennend, elektrisierend und einschießend. Typisch sind auch Berührungsempfindlichkeit und Missempfindungen wie Kribbeln und Taubheit. Oft sind sie auch wetterabhängig. Neuropathische Schmerzen haben ein besonderes Potenzial ebenso wie nozizeptive Schmerzen chronisch werden.
Die Unterscheidung zwischen nozizeptivem und neuropathischem Schmerz ist wichtig, da sich die Wahl des Schmerzmittels nicht nur nach der Stärke des Schmerzes, sondern auch nach dessen Ursache richtet. Gegen nozizeptiven Schmerz sind andere Medikamente wirksam als gegen neuropathischen Schmerz. Nicht immer lassen sich nozizeptiver und neuropathischer Schmerz aber klar trennen. Bei Rückenschmerzen, unter denen auch viele Patienten mit Blutungsneigung leiden, ist ein Teil der Schmerzen neuropathisch bedingt. Bei Tumorschmerz finden sich bei 65 Prozent der Patienten eine neuropathische und eine nozizeptive Schmerzkomponente. Das muss bei der Behandlung berücksichtigt werden, indem beispielsweise gezielt zwei verschiedene Schmerzmittel eingesetzt werden: eines gegen den nozizeptiven und eines gegen den neuropathischen Schmerz.
Das Schmerzgedächtnis: Wenn der Schmerz zur Krankheit wird
Erst seit einigen Jahren ist bekannt, dass es ein »Schmerzgedächtnis« gibt. Dabei handelt es sich nicht, wie man beim ersten Hinhören meinen könnte, um eine Region im Gehirn, die Schmerz speichert. Man hat vielmehr beobachtet, dass sich Nervenzellen verändern, wenn sie permanenten Schmerzreizen ausgesetzt sind. Diese Prozesse führen unweigerlich dazu, dass sich auch die Nozizeptoren, also die Schmerzfühler, verändern. Die Möglichkeit, dass sich Nervenzellen unter Schmerzreizen ändern, wird als »neuronale Plastizität« bezeichnet. Die Folgen sind gravierend. Denn die veränderten Nervenzellen können sich auch dann noch an den Schmerz »erinnern«, wenn die körperliche Ursache, also die Verletzung oder die Gelenkblutung, längst beseitigt ist. Sie senden das Signal »es tut weh« also auch dann noch an das Gehirn, wenn gar kein Grund mehr dafür besteht. Eine klare Fehlinformation, die zu chronischen...