1. Kapitel: Grundlagen
Die Schnecke, das unbekannte Wesen
Haben Sie schon einmal einer Schnecke tief in die Stielaugen geschaut? Das farbige Streifenmuster bewundert, das sich bei jedem einzelnen Schnirkelschneckchen (Seite →) ein wenig unterscheidet? Kinder sind begeistert, wenn ich ihnen erkläre, dass sie der Schneck ansieht. Dass er mit den Tentakeln auch fühlt und riecht, mit der Haut und sogar mit der Fußsohle schmeckt. Was denkt sich der Schneck wohl gerade? Keine allzu weit hergeholte Frage, denn Schnecken haben ein relativ gut entwickeltes Hirn. Was genau in diesem Hirn vor sich geht, ist zwar noch ungeklärt. Sicher ist aber, dass Schnecken über eine gute Sensorik verfügen, und vielleicht nicht Schmerz in unserem Sinne, wohl aber Empfindungen bei Umweltreizen und bei Verletzungen verspüren. Schnecken sind wirbellose Tiere, aber nicht gefühllos. Sie sind hoch entwickelte Wesen, die sich in der Evolution bewährt haben und wichtige Rollen im Naturkreislauf erfüllen. Viele Gründe also, um Schnecken nicht sinnlos zu quälen oder zu töten!
TIPP: Suchen Sie ein paar hübsche Schnirkelschnecken und geben Sie sie zusammen mit krautigen Blättern in ein großes Einweckglas oder eine transparente Plastikbox; natürlich lassen Sie einen Luftspalt. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und beobachten Sie die Schnecken. Denn sie sind wahre Meister der beschaulichen und doch zielstrebigen Bewegungen. Origineller als so manches Aquarium. Man kann die Tiere anfassen: Kinder werden Ihr „Schneckarium“ lieben!
Unter den etwa 300 in Deutschland nachgewiesenen, nicht-marinen Schneckenarten befinden sich nur einige, die aufgrund ihrer Häufigkeit, ihres großen Appetits und ihrer Vorliebe für grüne Futterpflanzen zur ernsthaften Bedrohung menschlicher Pflanzungen werden können. Gartenfeinde Nummer eins sind die schalenlosen, großen Wegschnecken. Um sie geht es in diesem Büchlein.
Aber sogar unter den „bösen“ Nacktschnecken gibt es etliche Arten, die keinen nennenswerten Schaden anrichten, oder sich sogar als nützlich erweisen können, etwa indem sie Pflanzenreste zu Kompost verarbeiten, Aas beseitigen oder die Eier von Schadschnecken fressen. Die große Mehrzahl der Schneckenarten in Deutschland lebt so unauffällig, dass sie der Laie niemals zu Gesicht bekommen wird. Etwa zwei Drittel dieser Arten sind selten oder vom Aussterben bedroht1 und kommen meist nur an speziellen, besonders feuchten oder trockenen Standorten vor.
Übrigens ist es sogar für Fachleute schwierig, diese Vielzahl an Arten sicher voneinander zu unterscheiden. In vielen Fällen ist die Schale schlichtweg zu einfach gebaut, variiert schon innerhalb einer Population, verändert sich während des Wachstums oder ist in ihrer Form von Umweltbedingungen abhängig. Manche Schlammschnecken etwa passen ihre Schalenform der Fließgeschwindigkeit des Gewässers an, das sie bewohnen. Die Schalen von Landschnecken können zur Tarnung in verschiedenen Lebensräumen unterschiedlich gefärbt sein und auch als Anpassung an die dortigen Temperaturen variieren. Die im Garten häufigen Bänderschnecken (Abbildung Seite →) haben, wie der Name schon sagt, mehr oder weniger hübsche Bänder, wobei das Muster genetisch festgelegt ist. Auch einfarbige Exemplare kommen vor. Amseln und Singdrosseln fressen wohl jeweils bevorzugt bestimmte Farbtypen, und zwar so lange, bis die Lieblingsnahrung knapp wird und sie notgedrungen auf andere Designs umsteigen. Die Folge ist ein sogenannter „balancierter Polymorphismus“ der farbenfrohen Bänderschneckenschalen.
Aufgrund solcher und anderer Faktoren erfordert die Artbestimmung heimischer Schnecken oft anatomische Präparationen, vor allem der Genitalorgane. Am besten untersucht man die gesamte Anatomie detailliert und in drei Dimensionen. Eine solche Analyse haben wir kürzlich für eine kleine Schneckenart veröffentlicht. Sie trägt den schönen Namen Sadleriana bavarica und es gibt sie wohl nur in einem Quellbach in München2.
Letztendlich benötigen wir aber auch Vergleiche der Erbinformationen. Momentan verändern genetische Analysen das traditionelle Verwandtschaftssystem der Schnecken3. Auch die gängige Lehrmeinung, wie viele heimische Arten es überhaupt gibt und wie sie gegeneinander abzugrenzen sind, wird gerade arg erschüttert. Womöglich kommen wesentlich mehr Schneckenarten bei uns vor, als gedacht4. Gerade unter den kleinen Schnecken, die Sie im Gebüsch oder in der Bodenstreu ländlicher, naturnaher Gebiete finden, könnte es durchaus noch unbeschriebene Arten geben. Es wäre doch schade, wenn diese ausstürben, noch bevor sie überhaupt entdeckt und wissenschaftlich untersucht wurden.
Über die Lebensweise der allermeisten Arten weiß man bisher erstaunlich wenig, selbst die altbekannten Spezies bergen noch viele Geheimnisse. Es lohnt sich also, Schnecken nicht blindlings zu töten und ihre Lebensräume zu bewahren.
Schalenschnecken: Kein wirkliches Problem!
Die meisten Schalenschnecken in unseren Gärten, wie etwa die häufigen und teils hübsch gemusterten Schnirkelschnecken, sind Pflanzenfresser. Sie fressen aber bevorzugt verletztes oder abgestorbenes Pflanzenmaterial und benötigen meist so wenig Grünsubstanz, dass kaum nennenswerte Schäden auftreten.
Eine Ausnahme kann die Weinbergschnecke (Helix pomatia) darstellen, die schon aufgrund ihrer Größe beträchtliche Mengen Futter verspeist und sich mitunter auch an Kulturpflanzen vergreift. Allerdings sind Weinbergschnecken inzwischen recht selten geworden und im Gartenbereich der Städte wohl viel zu rar, um ernsthaften Schaden anzurichten. Weinbergschnecken stehen in Deutschland zudem unter Naturschutz, dürfen also weder belästigt noch aufgelesen und schon gar nicht nach Belieben getötet werden. Der Bedarf an Weinbergschnecken als Delikatesse wird mit eigens dafür gezüchteten Schnecken gedeckt. Sie können sich glücklich schätzen, wenn Sie einen Garten haben, der so naturnah ist, dass sich Weinbergschnecken dort wohlfühlen. Erfreuen Sie sich an Beobachtungen dieser fantastischen Geschöpfe! Wussten Sie, dass Weinbergschnecken sehr alt werden können? In Gefangenschaft leben sie bis zu 30 Jahre.
Auch interessant: Aus Asien kommt gerade die Erkenntnis, dass Schneckenschleim die menschliche Haut glättet und zumindest optisch verjüngt. Schon kann man sich in speziellen Instituten für viel Geld ein paar Weinbergschnecken über das Gesicht kriechen lassen. Ob der viel zähere Schleim der Wegschnecken vielleicht noch bessere Ergebnisse bringt?
Nacktschnecken im Garten: Es gibt solche und solche …
Nacktschnecken in unseren Gärten gehören im Wesentlichen zu drei verschiedenen Familien: Kielschnecken (Limacidae), Ackerschnecken (Agriolimacidae) und Wegschnecken (Arionidae).
Kielschnecken, auch Schneckenegel oder Schnegel genannt, sind am charakteristischen Längskiel auf dem Schwanz zu erkennen (siehe Seite →). Zudem liegt ihr Atemloch, der Eingang zur Lunge, in der hinteren Hälfte des Mantelschilds. Dies ist die ledrige, fast glatte Haut, die den Kopf und den Nacken bedeckt und unter der bei Schnegeln noch eine reduzierte, flache und dünne Schale liegt. Schnegel können bis zu 20 Zentimeter lang werden: In Gärten häufig ist Limax maximus, der dunkel gemusterte „Tigerschnegel“ (Seite →). Diese Tiere sind nachtaktiv und bevorzugen als Nahrung abgestorbene, verpilzte Pflanzenreste. Trotz ihrer Größe sind Schnegel also gärtnerisch recht harmlos und sollten in Frieden gelassen werden − schon allein deshalb, weil sie angeblich auch mal die Eier anderer Schnecken fressen.
Die Agriolimacidae (Ackerschnecken, Kleinschnegel) besitzen ebenfalls einen Rückenkiel, und ihr Atemloch befindet sich in der hinteren Hälfte des Mantelschilds. Die Familie stellt einige kleinere Arten, die lokal häufig vorkommen und sich vorwiegend von Grünpflanzen ernähren. Vor allem die Genetzte Ackerschnecke (Deroceras reticulatum, Seite →) und verwandte Arten können in Gärten und insbesondere in der Landwirtschaft erhebliche Schäden anrichten. Da sie feuchtes und mildes Klima bevorzugen, stellen diese Arten vor allem in ozeanisch geprägten Gegenden wie auf den Britischen Inseln ein Problem dar. Ackerschnecken sind wenig mobil und nicht wanderlustig. Sind sie jedoch einmal im Garten vorhanden, sollten die überwinternden erwachsenen (adulten) Tiere im zeitigen Frühjahr an den ersten lauen Abenden abgesammelt werden, bevor sie ihre Eier legen können.
Wegschnecken (Arionidae) haben dagegen einen im Querschnitt rundlichen Schwanzrücken, ihr Atemloch liegt in der vorderen Hälfte des Mantelschilds (Seite →) und es ist keine innere Schale mehr vorhanden. Sie ernähren sich neben fauligen Pflanzenresten, Kot und Aas auch gerne von Grünfutter. In naturnahen Wäldern und Wiesen gibt es etliche, gärtnerisch harmlose Arten. Im Garten treten nur wenige Arten unangenehm in...