WAS IST SCHÖNHEIT?
Schönheit – ein ästhetisches Empfinden
Im Pferdesportbereich begegnen dem Pferdebesitzer viele konkrete Kategorien und klar definierte Begrifflichkeiten, mit denen die Qualität eines Pferdes und dessen Training beurteilt und bewertet werden können. Viele sprechen beispielsweise vom Takt und der Hinterhandaktivität der Pferde, urteilen, dass die Vierbeiner auf M-Niveau in der Dressur oder im Springsport starten können.
Von diesen vorgegebenen Bewertungskriterien möchte ich mich in diesem Buch entfernen. Zwar sind sie fast allen Pferdebesitzern bekannt und werden häufig von ihnen selbst verwendet, doch meist geschieht dies nur floskelhaft. Die wenigsten wissen oder erkennen, wie zum Beispiel eine korrekte Hinterhandaktivität aussieht oder eine Piaffe gymnastisch wertvoll gearbeitet wird, und können es deswegen nicht richtig beurteilen. Das ist nicht verwerflich, denn schließlich betreiben die meisten Reiter ihren Sport als Hobby und nicht als Wissenschaft oder Profession. Sie müssen sich im Lauf der Zeit erst einmal das Wissen aneignen und die Fähigkeiten erwerben, ein Pferd und/oder dessen Training fachlich beurteilen und bewerten zu können.
Eine federleichte Verbindung und kraftvolle Bewegungen des Pferdes lassen einen schönen Eindruck vom gemeinsamen Training entstehen. (Foto: privat)
Mag der Hals noch gut gerundet sein, so entsteht doch kein schöner Eindruck. Zwang und Druck ersticken Schönheit schon im Keim. (Foto: Lisa Kittler)
Aus diesem Grund möchte ich in diesem Buch ein Kriterium zur Beurteilung und Bewertung des Trainings von Pferden verwenden, das vielleicht erst einmal etwas seltsam erscheint: die Schönheit.
Diese Wahl hat mehrere Gründe. Jeder Mensch besitzt ein angeborenes ästhetisches Empfinden und kann deswegen nicht nur in der Malerei, Mode und Architektur Schönheit wahrnehmen, sondern auch bei Lebewesen und sogar bei ihrem Zusammenspiel miteinander. Die Beurteilung, ob ein Pferd oder dessen Training schön ist, erfordert vom Beurteilenden demnach keinerlei Vorkenntnisse und ist somit von jedermann durchführbar.
Das Erkennen von Schönheit ist dabei kein individueller Eindruck eines Betrachters, sondern besitzt eine relative Allgemeingültigkeit, die sich im Lauf der Evolution entwickelt hat. Es gibt einen unbewussten Konsens in der Gesellschaft, was als schön wahrgenommen wird. So ist es nicht verwunderlich, wenn ein Kind ohne Vorwissen ein durch den gesamten Körper schwingendes und frei ausschreitendes Pferd ebenso als schön empfindet wie ein routinierter Trainer.
Als schön wird in der Regel etwas bezeichnet, was einen besonders angenehmen Eindruck hinterlässt. Dieser Eindruck des Betrachters lässt sich nicht erzwingen, er ist entweder da oder nicht. Auch die Schönheit entsteht nur aus sich selbst heraus und lässt sich nicht forcieren. Dies ist vor allem im Pferdesportbereich ein Vorteil. Denn dort werden allzu oft mit Zwang und Druck bestimmte äußerliche Kriterien scheinbar erfüllt, lassen die seelische Komponente der Ausbildung aber vollkommen außen vor.
Um die Schönheit des Pferdes zu entwickeln, sind andere Voraussetzungen zu schaffen und andere Wege zu gehen, fernab der konventionellen Ausbildungspraktiken.
Das schöne Pferd
In diesem Buch wird das Kriterium „Schönheit“ zur Beurteilung von Pferden verwendet. Doch was ist eigentlich ein „schönes Pferd“? Fragt man verschiedene Leute, bekommt man darauf unterschiedliche Antworten. Persönliche Vorlieben oder kulturelle Prägung führen dazu, dass einige im Gegensatz zu anderen bestimmte Einzelmerkmale bei Pferden bevorzugen und andere wiederum eher ablehnen.
Doch jeder kennt sicherlich diesen Moment, in dem ein Pferd im Fernsehen, in einer Show oder auf einer Fotografie zu sehen ist und alle Betrachter sich unabhängig von ihren Vorlieben oder Prägungen einig sind: Dieses Pferd ist schön! Ihr angeborenes ästhetisches Empfinden lässt in der Regel alle Menschen Pferde bevorzugen, deren Körper In bestimmten Proportionen ausgeformt sind und ganz bestimmte Symmetrien aufweisen. Das Gesamtbild jeder Rasse muss harmonisch sein, um von allen als schön empfunden zu werden.
Außerdem haben schöne Pferde immer einen ganz besonderen Ausdruck. Sie erscheinen stolz, selbstbewusst, freudig und vor allem gesund. Dies beeinflusst maßgeblich ihre Bewegungen und dadurch wiederum ihr äußeres Erscheinungsbild. Ein schönes Pferd ist also immer eine Einheit aus Körper und Seele.
Unser angeborenes ästhetisches Empfinden kann aber leider auch überlagert werden. Umso öfter wir bestimmte Abbildungen oder Präsentationen sehen, umso normaler und zum Teil sogar erstrebenswerter wird dieses Schönheitsideal für uns. Dem Pferdebesitzer wird heutzutage aufgrund verschobener Leitbilder im heimischen Stall, beim Training sowie auf Kursen oder in den Medien zumeist ein sehr fragwürdiges Schönheitsideal von einem Pferd vermittelt. So bezeichnen beispielsweise einige Personen gestresste Pferde, die in Rollkur gearbeitet werden oder spektakuläre Spanntritte zeigen, als schön, und manche Vertreter des Westernsports finden die zuchtbedingt an der Hinterhand vollkommen mit Muskeln überladenen sowie überbauten Quarterhorses ästhetisch.
Der kugelrunde Bauch sowie der Fettkamm am Hals lassen dieses deutlich übergewichtige Pferd nicht schön aussehen. (Foto: Lisa Kittler)
Das Exterieur
An diesem unnatürlichen Schönheitsideal des Pferdes möchte ich mich in diesem Buch nicht orientieren, sondern an dem, was durch unser angeborenes ästhetisches Empfinden bestimmt wird. Zuerst konzentriere ich mich auf das Exterieur – also das äußere Erscheinungsbild sowie den Körperbau des Pferdes. Dies kann im Gegensatz zum Interieur schon beim ersten kurzen Anblick bewertet werden. Einer der wichtigsten Faktoren in der Beurteilung eines Lebewesens im Hinblick auf seine Schönheit ist der Gesundheitszustand. Nur wenn es gesund ist, wird es als schön empfunden. Denn Gesundheit bedeutet Überlebens- und Leistungsfähigkeit – Eigenschaften, die in der gesamten Evolution maßgeblich waren und es immer noch sind, weswegen sie unsere Wahrnehmung wesentlich beeinflussen. Um als gesund eingeschätzt zu werden, sollte das Pferd vor allem einen guten Ernährungszustand haben. Knochige Wirbelsäulen und sichtbare Rippen lassen ein Tier eher krank aussehen. Aber dicke Fettpolster neben dem Schweif sowie hinter den Schultern verschlechtern den Eindruck vom Gesundheitszustand. Die Muskulatur des Pferdes gibt ebenso Aufschluss über seine Leistungsfähigkeit und damit über seine Schönheit. Gewünscht wird eine harmonische Verteilung der gut ausgeprägten Muskulatur über den gesamten Körper. Gänzlich oder nur in bestimmten Körperregionen fehlende Muskulatur lässt das Pferd nicht vital erscheinen. Übermäßig ausgeprägte und zumeist verspannte Muskelpartien, wie sie zum Beispiel häufig am Unterhals oder den Sitzbeinmuskeln vorkommen, sind ebenfalls nicht sehr ansehnlich.
Dieses Pferd sieht nicht schön aus. Das struppige Fell, die fehlenden Muskeln und sichtbaren Rippen sprechen für einen schlechten Gesundheitszustand. (Foto: Lisa Kittler)
Mit einer Vielzahl von eingezeichneten Linien können Sie überprüfen, ob Ihr Pferd ein harmonisches Gebäude hat. (Foto: Lisa Kittler)
Auch Fell und Langhaar des Pferdes fallen beim Betrachten des äußeren Erscheinungsbildes sofort ins Auge und tragen entscheidend dazu bei, ob wir das Pferd als schön empfinden oder eher nicht. Glänzend und voll sollen Mähne, Schweif und Fell sein. Struppiges und löchriges Fell oder dünne, stumpfe Mähnen sowie Schweife lassen das Pferd krank aussehen und sind wenig attraktiv.
Das Gebäude der Pferde kann im Hinblick auf seine Wirkung auf den Betrachter wissenschaftlich untersucht werden. Auf einem Bild eingezeichnete Linien geben Aufschluss über die Harmonie des Körperbaus. Als schön wird dabei ein Pferd wahrgenommen, dessen Gebäude stimmige Proportionen und klare Symmetrien aufweist. Einige allgemeingültige Anhaltspunkte möchte ich anhand des (auf Seite 15) abgebildeten Pferdes erläutern. Es ist nur eine auf dieses Tier beispielhaft zugeschnittene Auswahl an Kriterien. Sicherlich lassen sich noch viele weitere finden, was aber den Rahmen dieses Buches sprengen würde.
Zu sehen ist ein Warmblüter mit vielen Volloder Halbblütern in der Ahnenreihe vor dem Beginn seiner Ausbildung. Die Stute steht im Quadrattyp, die Tendenz ist aber durch den ausreichend langen Rücken nicht zu stark ausgeprägt, weswegen das Format ansprechend wirkt. Die Proportionen zwischen den einzelnen Körperpartien des Pferdes sind ebenfalls harmonisch. Der schön geschwungene Hals findet wie gewünscht im Genick seinen höchsten Punkt. Dieser und der ausdrucksstarke Kopf haben eine passende Größe im...