Schräges Licht – oder Briefe an Iris
Liebe Iris, die klarsten Spuren meiner Erinnerung finden sich in meinen Briefen an Dich. Du hast, zu meinem Glück, Deine so vitale und so sensible (und unerschöpfliche) Lebensneugier gelegentlich auf mich und vor allem auf Renate übertragen. Es blieb mir, es ist ein paar Jahre her, gar nichts anderes, als in einer Art Trance mehr als siebzig Briefe mit Geschichten von meinem, von unserem Weg durch das vergangene Jahrhundert zu schreiben. Ich korrigiere mich: Es sind in Wahrheit doch meist meine Geschichten. Renates Geschicke kann ich nur andeuten. Es wäre eine Anmaßung, wenn ich mehr versuchte.
Du weißt, wie sehr ich mich zunächst dagegen sträubte, die eigenen Erinnerungen aus Thomas Manns »tiefem Brunnen der Vergangenheit« zu fischen. Ich lebte (und lebe, soweit es angeht) so viel lieber im Heute – und ich denke nicht daran, nach den Stichworten und Stichdaten meiner Wanderung durch die Zeiten in den abertausend Manuskripten und Korrespondenzen zu wühlen (die in den Kellern eines Berliner Archivs sorgsam verwahrt werden, für irgendjemanden, der eines Tages auf den Einfall gerät, nach einer Nuance, einer Farbe, einer Stimmung der Zeitgeschichte zu fahnden).
Dies ist keine ordentliche Autobiographie, hieb- und stichfest, streng realitätsgetreu – weiß man denn, was die Wirklichkeit war? –, womöglich mit einem Anflug von Feierlichkeit geschrieben. Überdies fürchte ich, vermutlich zu Recht, jene trippelnde Alterseitelkeit, die zu beobachten die schiere Peinlichkeit ist. Sie lässt sich leicht erklären: je mehr wir (biologisch) an die Grenze des Lebens rücken, umso größer die Versuchung, uns rückblickend ins Zentrum der Ereignisse zu drängen, in dem wir in Wahrheit selten anzutreffen waren. Ein Kollege, der zuweilen als der »letzte Preuße« gefeiert wurde, schrieb mir vor geraumer Zeit, wir seien »nun unversehens Figuren der Zeitgeschichte« geworden, nicht länger nur Zeugen. Sind wir das? Natürlich nicht. Wir waren in der Regel weniger wichtig, als wir es gern gewesen wären. So verließ ich mich bei der Niederschrift meiner Erinnerungen ganz darauf, liebe Freundin, dass Du mit der höflichen Ironie, über die Du verfügst, den Zeigefinger heben würdest, wenn ich das Maul zu voll nähme. Außerdem gibt es die Lektorin, deren scharfem Geist nichts entgeht, was Du übersehen hast. Oder meine Lebenslektorin R. Dir Dank für die Ermutigung. Ich gehe die Arbeit nicht ohne Herzklopfen an.
Suche nach einer Heimat. Gegen vier Uhr fällt der Schatten über das Tal, doch über dem Weinfeld, das sich zum Meer dehnt, liegt noch eine Weile das volle Licht. Es wandelt sich langsam vom flirrenden Weiß ins weichere dunklere Gelb des Abends – dieses mediterrane Licht, das die Maler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts süchtig machte. Das Wunderlicht der Provence, das man niemals mehr missen möchte. Das Licht, das Depressionen heilen kann (wenn es auch nicht alle Melancholien vertreibt). Das Licht, das uns – Renate und mich – vor vier Jahrzehnten bestimmt hat, hier unsere Heimat zu suchen. Hier und nicht im Gewinkel von Tübingen, aus dem die väterliche Familie stammt, nicht auf einem Hügel überm Neckar, an dem die schwäbische Landschaft an den schönsten (allzu seltenen) Sommertagen hellenisch überglänzt ist (wie Hölderlin sie wahrnahm). Nicht in Berlin oder an einem der idyllischen Seen seiner Umgebung, von denen es nicht weit ist zum Spreewald, in dem die sorbische Sippe der Mutter beheimatet war – und Leute der fernen Verwandtschaft noch immer die Sprache jener Minorität sprechen, dem Polnischen verwandt. Polen ist so nahe gerückt, und wir lernen erst jetzt, dass es ein Nachbar ist. Nahe gerückt auch Breslau, wo R. aufwuchs, zuletzt mit dem gelben Stern, der sie und ihre Schwester für Auschwitz bestimmt hatte. Es war ihr beim Wiedersehen fremd geworden, nicht allein weil dort nun die Generation polnischer Bürger heranwächst, deren Großeltern – auch sie Vertriebene – die zertrümmerte Stadt sorgsam wieder aufgebaut haben. Längst ist es den Enkeln eine Heimat geworden, deren deutsche, österreichisch-preußische Geschichte sie nicht leugnen, sondern als die ihre akzeptieren. Nicht die Polen, sondern die nazistischen Behörden hatten R. das Bürgerrecht entzogen. Die deutschen Nachbarn blickten damals gleichgültig beiseite, manche vielleicht beschämt, während der braune Pöbel johlte, als die Eltern vom Sammelplatz zum Deportationszug getrieben wurden. Damals ging R. die Heimat zugrunde.
Und Amerika, wo wir mehr als eineinhalb Jahrzehnte gelebt und gearbeitet haben? Ein Hauch von Fern- und zugleich von Heimweh wird bleiben. Süd-Virginia, dachte ich lange, wäre die Erfüllung einer Sehnsucht, die ich durch die Lektüre junger Jahre, durch die großen Filme, durch die Dramen von Tennessee Williams und durch Eindrücke einer frühen Reise schon im Herzen getragen hatte, als wir uns dort niederließen. Das satte Grün der Hügel über dem Potomac River im Frühjahr, die schweren Sommernächte, die leuchtenden Wälder im Herbst, die noch so viel Wildheit verbergen; die trägen kleinen Städte, die Plantagenhäuser in ihrem matten Weiß, drinnen der Geruch des alten Holzes, über dem Aufgang die rührend-stolzen Säulen. Jefferson-Land. Ein Hauch von Klassizismus, der sich so merkwürdig und so attraktiv mit den Passionen und Traurigkeiten des Südens verbindet. Der humane Reichtum, der sich erst ganz zu erkennen gibt, seit die Töchter und Söhne der Sklaven frei sind, Bürger gleichen Rechts (freilich die meisten immer noch arm); die Vitalität, die sich offenbarte, seit die University of Virginia, architektonisch die schönste der Vereinigten Staaten (von Jefferson entworfen), zu einem Viertel oder Drittel schwarze Studenten zählte, bis heute zur Nachbarschaft mit den dumpfen weißen Fundamentalisten verurteilt, unter denen die hässlichen Auswüchse der religiösen Talente des Landes nach wie vor wuchern. Auch damit müsste man dort leben. Ein bleicher Kerl mit flackerndem Blick hatte mich einst in einem der Nester herrisch zur Rede gestellt: »Do you believe in our Lord Jesus Christ?« Antwortete kühl, trotz einer Regung des Zorns: »That’s not your business.« »Are you Jewish or what?«, insistierte er. In seinen Augen der blanke Hass – auch das der Süden des Sehnsuchtslandes. Dennoch: In einem der alten Plantagenhäuser die Bibliothek aufstellen, draußen hinter den weißen Zäunen ein paar Pferde …
Vielleicht hätte man jünger sein müssen, um Amerikaner zu werden. Überdies hatte sich die Hauptstadt und mit ihr das halbe Land dem schlichten Geist Ronald Reagans gebeugt, gerade als wir uns fragten, ob wir bleiben sollten oder nicht. Europa, dachten wir, hat es hinter sich (wenigstens fürs Erste), als später unter Bush junior und seinem autoritären Vizepräsidenten Dick Cheney die folternden Geheimdienste freie Bahn hatten, als wir die Ausbrüche der Soldateska registrierten, als wir zur Kenntnis nahmen, dass die Armee vielfache Mörder ungeschoren lässt, als sich die Generalität und ihre politischen Chefs aufzuführen begannen, als hätte es niemals einen Nürnberger Gerichtshof und die Urteile von Landsberg gegeben.
Wir waren auf einer Ferienreise ins Licht des midi geraten. Es ist so anders nicht als das Licht des amerikanischen Südens, das nach dem verhangenen Himmel der schwülen Sommer im Herbst metallisch brilliert, das die Luft so klar werden lässt und den Himmel so hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Aber hier der Zauber der mediterranen Winter. Die Stille, die dem Land wiedergeschenkt ist, wenn sich die Touristen davongemacht haben. Das Rascheln des Windes im braunen Weinlaub.
In den Schatten des späten Nachmittags lösen sich manche Konturen auf. Andere glänzen plötzlich im schrägen Licht des zögernden Abends. Das Château mit seinem schlanken Turm über dem kleinen Städtchen landeinwärts. Es leuchtet mitsamt den alten Dächern, als habe es sich aus einem italienischen Gemälde des Übergangs der Gotik zur Renaissance gelöst, als die Maler anfingen, die Madonnen und die Heiligen nicht länger auf Goldgrund, sondern vor idealen Landschaften mit ihren sachten Farben zu feiern.
Das schräge Licht des späten Nachmittags – es kann auch mitten im Kurvenschwung auf die Augen treffen. In der Blindheit lässt sich nur hart auf die Bremse treten und per Stoßgebet flehen, dass nicht just in diesem Augenblick ein Auto aus der Gegenrichtung unser schmales Sträßchen heraufklettern möge. Das schräge Licht kann scharfe Schlagschatten werfen, zumal in den alten Alleen der Departementstraßen. Man erzählt in der »Bar du Sport«, einst habe ein von den Schattenschlägen zermürbter Chauffeur die Kontrolle über sich selbst verloren, jäh gestoppt und der Beifahrerin in einer Aufwallung so heftig auf den Kopf geschlagen, dass sie sofort tot war. Indes, die Richter hätten dem Mann eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit zugebilligt, vielleicht durch eigene Erfahrungen gewitzt: drei Jahre mit Bewährung. Sie kassierten nicht einmal den Führerschein.
Das schräge Licht des Abends verändert – im Rückblick – die Landschaft des eigenen Lebens. Was uns im weißen Licht der Mittagsjahre wichtig war, scheint nun in den Schatten der Dämmerung zu geraten. Anderes, das wir einst übersehen haben, gewinnt plötzlich Kontur und Farbe. Das Gedächtnis steht nicht still. Es formt sich an jedem Tag, mehr noch in den Nächten unablässig um. So lange wir atmen, ändern wir – ohne...