Einleitung
Die Entdeckung der inneren Zeit
Es gibt Augenblicke, da scheinen die Gesetze der Zeit ihre Gültigkeit zu verlieren. Dies sind die Momente, die man magisch nennt: Auf dem Gipfel eines Berges oder angesichts der Ozeanbrandung, im Schaffensrausch oder während der Liebe verlieren Pläne, Sorgen, Erinnerung ihre Bedeutung. Die Zeit steht still; der Augenblick umfasst alles, was je war und sein wird. Manche Menschen berichten von der Empfindung, dass sich dabei sogar die Grenzen ihrer Körper auflösten; sie begannen, sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen.
Manchmal reicht auch schon ein angeregter Abend mit alten Freunden oder eine Arbeit, in der man ganz aufgeht, und Stunden vergehen, als seien es Minuten. Die letzte U-Bahn ist verpasst, das Mittagessen lange überfällig, und niemand hat es bemerkt im Zauber des Hier und Jetzt.
Doch irgendwann kehrt unvermeidbar die Zeit ins Bewusstsein zurück; es ist ein Gefühl, als sei man aus einem rauschhaften Schlaf erwacht.
Und dann trifft der Blick eine Uhr. Selten ist der Bann, den dieses Instrument über uns ausübt, so schmerzhaft zu spüren. Der Dichter W.G. Sebald beschrieb die Macht der Uhren einmal als das »Vorrücken dieses, einem Richtschwert gleichenden Zeigers, wenn er das nächste Sechzigstel einer Stunde von der Zukunft abtrennt«. Im Sinn hatte Sebald dabei eine riesige Uhr, die über der Halle des Bahnhofs von Antwerpen genau im Schnittpunkt aller Blickachsen thront – dort, wo die Baumeister alter Kirchen einst das Auge Gottes angebracht haben. Alle Reisenden müssen ständig zu diesen Zeigern aufschauen. Umgekehrt ist von der Bühne des Ziffernblatts aus jeder Mensch in der Halle zu erkennen – und alles, was er tut.
Vor den Uhren kann sich niemand in der heutigen Gesellschaft verstecken. Sie sind überall. Das ganze Leben ist nach ihnen ausgerichtet. Wir jagen engen Terminen nach und denken mit Wehmut daran, was wir alles gern täten, wenn wir nur wüssten, wann. Mitunter fühlen wir uns wie in einen Strudel geraten und fürchten, fortgerissen zu werden. Doch der Lohn für die Eile bleibt aus: Ausgerechnet die hektischen Tage hinterlassen am wenigsten Erinnerungen – als wäre diese Zeit spurlos vorübergegangen und für immer verloren.
Wir haben uns an die Herrschaft der Uhren so sehr gewöhnt, dass sie ganz selbstverständlich erscheint. Wir sehen diese Instrumente geradezu als Stellvertreter einer höheren Macht. Nicht nur in der Bahnhofshalle von Antwerpen gehorchen die Reisenden zwei Zeigern hoch über ihren Köpfen. Mehr oder weniger bewusst glauben wir alle, dass der Takt einer geheimnisvollen kosmischen Uhr unser Leben bestimmt. Abzulesen ist dieser Takt am Sekundenzeiger am Handgelenk. Wenn wir die Gegenwart der Uhren einmal vergessen, zweifeln wir später oft insgeheim, ob dieses Erlebnis Traum oder Wirklichkeit war.
»Zeit ist der Stoff, aus dem das Leben besteht«, schrieb der amerikanische Erfinder und Staatsmann Benjamin Franklin. Doch ist die Zeit unseres Lebens wirklich identisch mit dem, was die Uhren anzeigen? Manche Stunden rasen dahin, andere scheinen sich beinahe unendlich zu dehnen. Der große Zeiger aber hat ungerührt wie immer seine Runde gemacht. Es scheint, als sei mit dem Lauf der Uhren eine andere, zweite Zeit verwoben: eine Zeit, die in uns selber entsteht.
Die innere Zeit gehorcht ihren eigenen, geheimnisvollen Gesetzen. Weshalb vergehen ausgerechnet die unangenehmen Situationen so langsam, Glücksmomente dagegen so rasch? Warum ist man gerade in den schönsten Stunden so oft geistesabwesend? Wieso verrinnt das Leben immer schneller, je älter man wird?
Nur eine Erfahrung mit der Zeit ist uns hinlänglich bekannt – dass sie fehlt. Das ist merkwürdig, denn gemessen in Stunden und Jahren sind wir reicher als Menschen es jemals waren. Keiner Generation waren so viel Freizeit und eine so lange Lebensspanne beschert. Dennoch gibt mehr als ein Drittel aller Deutschen an, oft unter Zeitknappheit zu leiden. Und von Umfrage zu Umfrage werden es mehr.
Erschreckend sind diese Zahlen vor dem Hintergrund neuer Ergebnisse aus der Neurobiologie: Das Gefühl, ständig unter Druck zu stehen, bedeutet Stress. Chronischer Stress kann das Gehirn dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen; er schadet der Gesundheit und mindert die Lebenserwartung.
Besonders heimtückisch ist die unablässige Hetze, weil sich der Zeitdruck selber nährt. Schnell kommt ein Teufelskreis in Gang: Ist die Furcht, seiner Aufgaben nicht rechtzeitig Herr zu werden, einmal entstanden, lässt sie den Gestressten den Überblick verlieren und schafft sich so immer neue Anlässe. Zeitnot macht kurzsichtig für die Zukunft; man rennt den Ereignissen hinterher, statt sie zu gestalten.
Mit raffinierten Kalendern und Aufgabenlisten allein ist das Problem nicht zu lösen. Denn sie erfassen nur die äußere Zeit der Uhren. Doch das Empfinden der Hetze entsteht im Bewusstsein, und dieses orientiert sich an der inneren Zeit. Es gilt also, die Gesetze der inneren Zeit zu verstehen, um besser mit ihr umgehen zu können.
Besonders auffallend sind die Unterschiede zwischen innerer und äußerer Zeit, betrachtet man den persönlichen Tagesrhythmus: Allein der Takt der Armbanduhr kann nicht erklären, wie sich der Organismus durch den Tag steuert. Manche Menschen müssen sich jeden Morgen neu damit quälen, aus dem Bett und einigermaßen in Fahrt zu kommen; andere sprühen zur selben Stunde vor Energie. Uhrzeit, Sonnenlicht, auch die Kaffeeration sind für alle gleich. Also muss der Gegensatz in uns selbst liegen.
Und warum haben einige Zeitgenossen die Ruhe weg und bewältigen gut gelaunt Termin um Termin, während andere schon über ein oder zwei Verpflichtungen am Tag stöhnen? Berühmt ist das »Rentner-Syndrom«, die Klagen über Zeitmangel im Ruhestand, die sich ganz offensichtlich nur durch das innere, subjektive Zeitempfinden erklären lassen.
Ohnehin ist die äußere Zeit nur ein winziger Ausschnitt aus dem, was wir als Zeit unseres Lebens erfahren. Der Sekundenzeiger kennt einzig die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft erfasst er nicht. Menschen jedoch leben auch in ihrer Erinnerung – sie ist gewissermaßen im Gedächtnis geronnene Zeit. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten wandelt sich erlebte Zeit in Erinnerung um? Wie kommt es, dass man im Geiste in die Vergangenheit zurückreisen kann? Und ist es wirklich möglich, dass ein Mensch in einem einzigen Moment der Lebensgefahr sein ganzes Leben an sich vorüberziehen sieht?
Dieses Buch handelt von den verborgenen Dimensionen der Zeit. Sein Thema sind all die Phänomene, die sich nicht ohne weiteres in Minuten und Stunden messen lassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie das Erleben der Zeit zustande kommt – und wie wir lernen können, achtsamer mit ihr umzugehen.
Das Gefühl für die Zeit ist eine höchst ausgefeilte Tätigkeit des Geistes. Fast sämtliche Funktionen des Gehirns sind daran beteiligt. Körperempfinden und Sinneswahrnehmung; Erinnerung und das Vermögen, Zukunftspläne zu schmieden; Emotionen und Selbstbewusstsein: Sie alle wirken zusammen, und ist auch nur einer dieser Mechanismen gestört, verzerrt sich das Erleben der Zeit oder verschwindet ganz. Dem Entstehen des Zeitgefühls nachzugehen ist eine aufregende Reise durch das Bewusstsein: Wir erkennen dabei nicht nur unsere Natur, sondern auch unsere Kultur im Spiegel. Denn manche Regungen, dank derer wir das Strömen der Minuten und Stunden wahrnehmen, sind angeboren. Viele andere haben wir gelernt.
Wenn wir uns etwa ein Bild von der Zeit machen sollen, sehen wir in Europa die Vergangenheit hinter uns liegen; die Zukunft hingegen kommt von vorn auf uns zu. Doch ein Indianervolk in den Anden denkt genau umgekehrt. Fragt man die Aymara nach der Vergangenheit, deuten sie nach vorne, in Blickrichtung. Schließlich haben sie die Ereignisse der Vergangenheit schon einmal gesehen. Für das Kommende hingegen sind die Menschen blind, weswegen es die Aymara hinter ihrem Rücken vermuten. Diese Erklärungen bekam der amerikanische Kognitionspsychologe Rafael Núñez, als er das Denken dieser Menschen eingehend untersuchte.[1] Und nach ihren Überzeugungen leben die Aymara auch: Weil die Zukunft ihnen unsichtbar erscheint, lohnt es nicht, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Wer sie nach dem Morgen fragt, erntet ein Achselzucken. Und auf einen Bus oder einen verspäteten Freund warten sie halbe Tage lang mit einem für uns unglaublichen Gleichmut.
Damit berührt die Erforschung der Zeit auch das Wechselspiel von Erziehung, Umwelt und Genen, das unsere Persönlichkeit formt. Wie wir über Zeit denken, hat Einfluss darauf, wie wir sie empfinden.
Die Natur bestimmt, wie das Gehirn funktioniert, doch das Wenigste in unserem Erleben der Zeit hat sie fest vorgegeben. Deshalb sind wir nicht nur frei darin zu entscheiden, wie wir unsere Stunden ausfüllen – wir können sogar wählen, wie wir den Rhythmus des Lebens wahrnehmen wollen.
Für die meisten Menschen fließt die Zeit irgendwo außerhalb von ihnen dahin. Sie hat nichts mit ihnen zu tun. Zeit ist einfach da (oder nicht), und sie müssen sich ihr anpassen.
Ich möchte zu einer anderen Sichtweise einladen: Was wir als Zeit erleben, ist nicht nur ein Phänomen der Außenwelt, sondern zugleich unseres Bewusstseins. Diese Empfindung entsteht, indem beide – Umgebung und Gehirn – zusammenspielen. Mit neuen Methoden der Wissenschaft lässt sich heute untersuchen, wie sich die Außenwelt mit unserem Innenleben verzahnt. Einsichten vor allem aus der Hirnforschung können unsere Wahrnehmung und unsere Gewohnheiten verändern.
Mit dieser Sichtweise knüpfe ich an...