Öffnung für Spirit – auf deine Weise
Je älter ich werde, desto deutlicher erkenne ich, dass keiner wirklich weiß, was er so tut. Dass alle und auch ich einfach irgendetwas tun und jeder so tut, als ob er etwas wüsste. Doch dann können wir doch genauso gut so tun, als ob wir erwacht wären, erleuchtet, meisterlich – nicht wahr?
7. Gott oder nicht Gott – das ist hier keine Frage
Jede Seele ist ihrem Wesen und Vermögen nach göttlich. Das Ziel ist die Offenbarung des Göttlichen durch Beherrschung der äußeren und inneren Natur. Erreiche dies entweder durch Arbeit oder durch Andacht oder durch Kontrolle der seelischen Vorgänge oder durch Philosophie, durch eines oder einige oder alle – und sei frei. Das ist das Ganze der Religion. Lehrsätze oder Dogmen oder Riten oder Bücher oder Tempel oder Bräuche sind nur nebensächliches Beiwerk.
Swami Vivekananda[30]
Für das Erwachen ist es egal, ob man an Gott oder Göttin oder nichts dergleichen glaubt, welche Begriffe man für Quelle, Kraft, Universum und so fort verwendet. Wem »Gott« eine Hilfe auf dem Weg ist – wundervoll. Wer sich dadurch behindert fühlt – auch in Ordnung. Bewusstes Leben, bewusstes Sein, Leben im Sein – auf die eigene und durchaus unvollkommene Art und Weise – ist hier ein Schlüssel. Menschen, die durchaus einen sehr klaren und schönen Bezug zu »Gott« haben, können ganz genauso erwachen wie solche, die meinen, dass sie über den »Aberglauben« an Gott hinausgelangt seien.
Ein Beispiel dafür ist Johannes Scheffler (1624–1677). Er war ein Sohn wohlhabender polnischer Eltern, der sich in Breslau (Wrocław) niederließ. Der Lutheraner trat 1653 von der lutherisch-evangelischen Kirche in die katholische Kirche über. Im Protestantismus hatte er nicht ausreichend Verständnis für seine mystischen Einsichten, Offenbarungen und kurzen Schriften gefunden. Er nannte sich fortan Angelus Silesius, der »schlesische Engelsbote«. Er erlebte Gott und Seele als eins! Und brachte ein beträchtliches Vermögen für gute Werke auf. Einheit von Spirit und Werk sozusagen. Anhand seiner Sammlung von meistens Zweizeilern, dem Cherubinischen Wandersmann, können wir uns auch heute noch von Einsichten berühren lassen, die in nichts den berühmteren Mystikern aus dem Osten nachstehen. Vielmehr machen sie deutlich, dass es in Wahrheit keine Abgeschiedenheit zwischen »Gott« und »Mensch« gibt, zwischen schöpferischem All-Spirit und einzelnem Bewusstsein. Lass dich auf die Kraft seiner Worte einmal ein. Manchmal setze ich ans Ende in Klammern einen Gedanken von mir hinzu.[31]
Du musst, was Gott ist, sein.
Soll ich mein letztes End’ und ersten Anfang finden,
So muss ich mich in Gott und Gott in mir ergründen.
Und werden das, was er: Ich muss ein Schein im Schein,
Ich muss ein Wort im Wort, ein Gott in Gotte sein.
Ich bin wie Gott und Gott wie ich
Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.
Der Mensch ist Ewigkeit
Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse
Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.
(Meditation, Kontemplation, stilles Gebet …)
Eins hält das Andre.
Gott ist so viel an mir, als mir an ihm gelegen,
Sein Wesen helf ich ihm, wie er das meine hegen.
Du selbst musst Sonne sein.
Ich selbst muss Sonne sein, ich muss mit meinen Strahlen
Das farbenlose Meer der ganzen Gottheit malen.
(Chris Griscom hat in ihrem Buch The Evolution of God eine ähnliche Sichtweise sehr systematisch und nachvollziehbar dargelegt. Wer Englisch lesen kann, dem sei dieses wunderbare Buch von Chris ans Herz gelegt.)
Wirken und Ruhen ist recht göttlich.
Fragst du, was Gott mehr liebt, ihm wirken oder ruh’n?
Ich sage, dass der Mensch wie Gott soll beides tun.
Gottes ander Er.
Ich bin Gottes ander Er, in mir find’t er allein,
Was ihm in Ewigkeit wird gleich und ähnlich sein.
Zufall und Wesen.
Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg; das Wesen, das besteht.
Gott sieht man nicht mit Augen.
Wenn du denkst, Gott zu schau’n, bild dir nichts Sinnlich’s ein!
Das Schau’n wird inner uns, nicht außerhalb uns sein.
Gott lebt nicht ohne mich.
Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd ich zunicht, er muss von Not den Geist aufgeben.
Wir lesen hier zwar in einer etwas altmodischen Ausdrucksweise, dem Inhalt nach aber den gleichen Aufruf zur Selbstermächtigung, wie er von modernen Satsang-Bewegungen, von Ich-Bin-Schulen, von Saint-Germain-Lehren her bekannt ist. Das altindische tat tvam asi – »Du bist das« – besagt ja in einer wieder anderen Form das Gleiche: Wir sind Teil der Schöpferkraft, wir sind Teil »Gottes«. Das Göttliche ist in uns. Nein: Wir sind auch das Göttliche. »Du bist auch Gott« nennt es Adamus Saint-Germain.
Es ist für Menschen im Erwachen keine Frage mehr, »wo« Gott ist. Wir sinnieren nicht mehr darüber nach, ob Gott hier oder dort, oben oder innen, verborgen oder versteckt ist. Sondern wir erkennen uns als einen Funken dessen, was ist. Auch an dieser Stelle ist das Bild des Kugelmodells eine hilfreiche Brücke.
Ich weiß nicht mehr, ob es Rumi oder Kabir waren, denen diese Einsicht zugeschrieben wird: So wundervoll es ist, dass der Tropfen (die Seele) in den Ozean eingeht (Gott) – so ist es doch sehr viel wundersamer, dass der ganze Ozean in den Tropfen eingeht.
Man spürt durch diese Verse noch etwas Großes: Es spielt gar keine Rolle, ob jemand »gottgläubig« ist oder nicht! Wer in der rechten Weise – wahrhaftig, aufrichtig, mit offenen Herzen – nach Wirklichkeit sucht, nach dem, was immer ist, der gelangt dorthin, gleich ob mit oder ohne Gott. Ich beobachte manches Mal, wie heutzutage aufgrund einer oberflächlich-gesellschaftskritischen Haltung die wunderbaren Schätze der verschiedenen Kirchen-, Religions- und Gottespraktiken (nicht der dogmatischen Lehren!) achtlos beiseitegelassen werden, obwohl doch so viel Berührendes und Aufschließendes darin enthalten ist.
Solange uns eine »persönliche« Beziehung zum Göttlichen hilft, zu Gott, zur Göttin, zu Spirit, kann sich das als ein wirksames Sprungbrett ins Erwachen erweisen. Deshalb ermuntere ich jene, die gefühlsmäßig eine spirituell-religiöse Beziehung oder Verbindung fühlen, diese nicht etwa ad acta zu legen, sondern lebendig zu nutzen.
Wer bin ich?
Die Suchfrage »Wer bin ich?« wurde von Ramana Maharshi Zeit seines Lebens als einzige Art der formalen Lehre vermittelt; er selbst wirkte vor allem durch seine Ausstrahlung. Ramana Maharshi ist einer der interessantesten Weisen Indiens aus dem 20. Jahrhundert. Er lebte in Tiruvannamalai in Südindien bis 1950[32]. Er prägte Sätze wie: »In Wirklichkeit gibt es keinen spirituellen Fortschritt. Gäbe es einen Fortschritt, so gäbe es einen Anfang und ein Ende. Das Selbst ist aber immer das Selbst, unveränderlich, ewig, seiend, bewusst.« Oder: »Reinkarnation existiert nur so lange, wie Unwissen besteht. In Wirklichkeit gibt es überhaupt keine Reinkarnation, weder jetzt noch früher. Noch wird es sie in der Zukunft geben. Das ist die Wahrheit.« Nur das niedere Ich, das Ego mag reinkarnieren; das Selbst wird weder geboren noch stirbt es, also kann es sich auch nicht reinkarnieren.
Ramana Maharshi befasste sich nicht mit magischen Kräften, noch empfahl er, sie zu suchen oder auszuüben. Obwohl viele Schüler von allen möglichen Wundern berichteten, zum Beispiel, dass er ihnen an entfernten Orten erschienen sei oder ihnen auf überirdische Weise geholfen habe, wollte er damit nie etwas zu tun haben. Über die verschiedenen Meditationsmethoden urteilte er nicht, stellte aber ernsthaften Suchern immer wieder die Suchfrage »Wer bin ich?« auf jeweils neue Weise. So wurde er nach dem Wert von Nada-Yoga, der Meditation mit der inneren Musik, gefragt und antwortete ungefähr so: Die innere Musik vermag den Übenden in einen Samadhi-Zustand (Erleuchtungszustand) zu schmeicheln – aber es bleibt auch dann noch die Frage zu beantworten, wer erlebt den Samadhi?
Ramana Maharshi legte großen Wert auf die Unterscheidung, dass wir es in der Meditation mit drei Faktoren zu tun haben:
- dem Meditationsgegenstand und den Erlebnissen bzw. Phänomenen in der Meditation,
- der Art und Weise, wie wir Gegenstand und Erlebnisse wahrnehmen bzw. erfahren,
- und schließlich dem Wesen, welches wahrnimmt.
Meditationserlebnisse – Meditationsweise – Meditierender: drei Faktoren, von denen wir zumeist nur zwei, die ersten beiden, beachten. Am allerwichtigsten ist aber nach Ramana Maharshi die Frage nach dem dritten: Wer meditiert? Vielleicht denkst du wie die nette, aufgeschlossene Dame in einem meiner Kurse bei den PSI-Tagen in Basel, die zum ersten Mal überhaupt an einem Meditationskurs teilnahm und auf diese Frage sagte: »Ich natürlich!«
Aber wer sagt »Ich«? Die Antwort ist vielleicht einfach innen zu spüren, aber nicht leicht zu verstehen bzw. im Alltag zu verwirklichen. Eine Reihe von Fragen kann dir ein Licht aufgehen lassen. Du kannst statt Wer auch immer Was einsetzen.
- Wer schläft? Ich? Warum träume ich dann?
- Wer träumt? Ich? Welches Ich?...