Die Burnout-Diskussion: Schön, dass wir darüber geredet haben?
Gehören Sie auch zu den Menschen, die bei jedem Klingeln eines Handys oder Telefons denken, es sei ihres? Oder haben Sie sich auch schon dabei ertappt, dass Sie Ihre aktuelle Zielvereinbarung ständig und glasklar im Kopf, den Geburtstag Ihrer Lieblingstante aber schlicht vergessen haben? Nehmen Sie sich vielleicht sogar jedes Jahr zu Silvester wieder vor: Das nächste Jahr wird ruhiger! Vor allem die Arbeit, die muss weniger stressig werden! Oder können Sie das ganze Gerede rund um Stress schon nicht mehr hören, empfinden es als eine ewig gleiche Litanei, die sowieso nichts bringt? Falls Sie bei diesen Sätzen innerlich mit dem Kopf nicken, können wir Ihnen sagen: Es geht vielen so. Vielleicht sogar den meisten. Willkommen im Club.
Die Zahl der Menschen, die sich von ihrer Arbeit und ihrem Alltag extrem gestresst fühlen, steigt und steigt. 20 bis 30 Prozent der Deutschen fühlen sich häufig bis ständig unter Druck und am Ende ihrer Kräfte. Das sind zehn bis 16 Millionen Menschen, die beständig mit dem Gefühl leben: »Mir wächst alles über den Kopf.«1
Die Arbeit ist dabei Stressor Nummer eins: Ein Drittel der Beschäftigten hat das Gefühl, ihren Job nicht bis zur Rente ausüben zu können, wenn der aktuelle Belastungspegel anhält. Die Frühberentungen aufgrund psychischer Leiden wachsen kontinuierlich an und stehen inzwischen mit über 40 Prozent auf Platz eins der Gründe für den vorzeitigen Ausstieg aus dem Berufsleben. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Störungen hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.2 Zugleich verlangt der demografische Wandel eine längere Arbeitszeit von uns. Ein Dilemma, das viel Diskussionsstoff liefert. Quer durch alle Schichten sprechen und klagen wir über unseren Stress und unsere Erschöpfung.
Dabei geht es uns in Deutschland nicht schlecht. Die Arbeitslosenzahlen sind deutlich rückläufig, Bildung und Infrastruktur im Vergleich zu anderen Ländern gut und die Vermögenswerte erreichen neue Höchststände. Auch die Politik ist besser als ihr Ruf. Beispielsweise hat die Bundesregierung psychische Belastungen nun explizit in das Arbeitsschutzgesetz aufgenommen: »Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird«, heißt es dort:3 eine deutliche Aufforderung an die Unternehmen, das Thema ernst zu nehmen.
Auch was Unternehmen ganz praktisch tun müssten, damit die Arbeit den Beschäftigten nicht die Nerven zerreißt, weiß man inzwischen: Wenn Arbeitnehmer das Gefühl haben, ihr Job macht Sinn, sie sich ihren Aufgaben gewachsen fühlen und auf die Unterstützung von Chef und Kollegen rechnen können, wenn doch etwas schiefgeht, dann ist Arbeit gesund. Klingt eigentlich nicht so schwierig, oder?
Natürlich könnte auch jeder bei sich selbst anfangen und den Stressregler runterdrehen. In den Medien berichten immer mehr Menschen darüber, wie sie den Stress in ihrem Leben in die Schranken weisen. Down-sizing, Sabbatical – vieles ist möglich. In Formaten vom SPIEGEL bis zur Talkrunde mit Günther Jauch erzählen Normalbürger und Prominente, wie ihnen der Ausstieg aus dem Hamsterrad gelingt. An Vorbildern mangelt es also auch nicht.
Und dennoch: Die Mehrzahl der Deutschen leidet weiter am Stress und ist unglücklich. Im »World Happiness Report 2013« belegt Deutschland Platz 30 – außer Griechenland liegen alle west- und mitteleuropäischen Staaten vor Deutschland.4
Wir, Hans-Peter Unger und Carola Kleinschmidt, interessieren uns genau für diesen Widerspruch. Hans-Peter Unger ist Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg. Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt er sich intensiv mit der Frage, warum die moderne Arbeitswelt unsere Psyche so sehr belasten kann und was Patienten, die eine Burnout-Krise erleben, wirklich hilft. Eine Erkenntnis: Menschen mit arbeitsbezogenen Stressdepressionen profitieren von einer therapeutischen Behandlung, die nah an ihrem Leben bleibt. Deshalb initiierte Hans-Peter Unger das ambulante Zentrum für Stressmedizin an der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg sowie zwei Tageskliniken für achtsame Depressionsbehandlung für Menschen mit einer arbeitsplatzbedingten Stressdepression. In seiner klinischen Tätigkeit verknüpft er als einer der Ersten in Deutschland das betriebliche Gesundheitsmanagement mit Prävention und Behandlung.
Carola Kleinschmidt ist Diplombiologin, Journalistin und Vortragsrednerin zu den Themen Gesundheit und Arbeitswelt. Die Frage, wie Zufriedenheit in unserer modernen Welt gelingen kann, ist der Motor für ihr Interesse an den Hintergründen und Zusammenhängen rund um das Megathema Stress. In ihren Vorträgen erlebt sie immer wieder, dass der nervige Tagesordnungspunkt Stressprävention schnell zum spannenden Mitmachthema wird, wenn man es schafft, einen Blick auf die tieferen Ursachen zu werfen und die Möglichkeiten der Veränderung aufzuzeigen.
Am Anfang unserer Arbeit an diesem Buch stand die Frage: Warum verändert sich so wenig? Warum verharren so viele Menschen im gestressten Lebensgefühl? Was lähmt uns, was hält uns gefangen zwischen Ohnmacht und Gleichgültigkeit? Natürlich gibt es die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Niedriglohnjobs und Lebenssituationen, die den Stresspegel zeitweise fast automatisch nach oben schrauben. Aber die allermeisten Menschen hätten durchaus Spielräume, um etwas zu verändern. Warum steigen sie dennoch nicht aus der Stressspirale aus?
Kann es sein, dass wir es auch selbst sind, die sich oftmals echter Veränderung verweigern? Ergibt es vielleicht sogar Sinn, eine gestresste Gesellschaft zu sein? Was könnten tiefer liegende Gründe für die ständige Klage sein? Was haben wir davon, wenn wir ohne Unterlass über unseren eng getakteten Alltag und unsere Erschöpfung klagen und zugleich jede Möglichkeit zur Veränderung weit von uns weisen?
In diesem Buch fließen unsere wissenschaftlichen Recherchen und praktischen Erfahrungen als Arzt und Autorin zusammen. Dabei zeigte sich schnell, dass die Welle von Stress und Erschöpfung, die derzeit über die Deutschen schwappt, weitaus mehr ist als eine kollektive Empfindlichkeit. Wir sind vielmehr davon überzeugt, dass sich hinter der Debatte wirklich wichtige Fragen verstecken, die uns alle angehen. Beispielsweise die Frage danach, was »gutes Leben« heute eigentlich bedeutet. Und auch die Frage, inwieweit wir ganz persönlich für unsere Zufriedenheit verantwortlich sind – und welchen Einfluss die Arbeitsverhältnisse und der gesellschaftliche Rahmen auf unser Empfinden und unsere realen Entwicklungsmöglichkeiten haben. Aus diesem Blickwinkel ergeben sich neue und an manchen Stellen überraschende Ideen, welche Mittel und Maßnahmen tatsächlich die Psyche des Einzelnen stärken und den Stresspegel in einem Unternehmen und auch in der gesamten Gesellschaft auf ein gesundes Maß herunterschrauben. Wir laden Sie ein, mit uns auf Entdeckungsreise zu gehen.
In Kapitel 1 fassen wir den aktuellen Stand der Stress- und Burnout-Diskussion zusammen. Und Sie erfahren, warum Burnout offiziell nicht als Krankheit anerkannt ist.
In Kapitel 2 zeigen wir, dass hinter dem Dauerthema Burnout noch viel mehr steckt: Darin spiegelt sich die tiefe Sinnkrise, in der unsere Gesellschaft gefangen ist.
In Kapitel 3 erklären wir, warum die moderne Arbeitswelt, in der wir authentisch sein möchten und »mit vollem Herzen« bei der Sache sein wollen, ganz schön an den Nerven zerrt.
In Kapitel 4 richten wir den Blick auf die Evolutionsbiologie und Hirnforschung, weil hier wichtige Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Stresskrise zu finden sind. Wir zeigen, warum unsere negativen Gefühle genauso wichtig sind wie die positiven. Warum wir dennoch die negativen Emotionen meist sehr viel stärker wahrnehmen. Und was dieses evolutionäre Erbe mit unserem heutigen Stresserleben zu tun hat.
In Kapitel 5 konkretisieren wir, warum nicht Stress an sich krank macht, sondern Dauerstress. Und warum der tief menschliche Wunsch nach Anerkennung in der Leistungsgesellschaft zum starken Stressmotor wird.
In Kapitel 6 beschreiben wir, dass nicht nur Individuen, sondern auch ganze Unternehmen ausbrennen können. Und wie moderne Managementtechniken schier unbemerkt dafür sorgen, dass der Stresspegel immer höher steigt.
In Kapitel 7 beleuchten wir den Zusammenhang zwischen dem gestressten Lebensgefühl des Einzelnen und dem gesellschaftlichen Rahmen, in dem wir leben. Denn Studien belegen: Menschen in Gesellschaften, in denen Fairness, Leistungsgerechtigkeit und soziale Unterstützung großgeschrieben werden, sind generell gesünder und weniger gestresst.
Auf dieser Grundlage wenden wir uns in Kapitel 8 wieder der individuellen Gesundheit zu. Wir zeigen, warum Gesundheit ein fortlaufender Prozess ist – und wie wir diese Balance aktiv so steuern können, dass Gesundheit entsteht. Das Modell der »Gesundheitsspirale« zeigt Ihnen, wie dies funktioniert. Anhand praktischer Beispiele wollen wir Sie als Leser und Leserin anregen, aus dem gestressten Lebensgefühl aus- und in die Gesundheitsspirale einzusteigen. Was können wir tun, um aus der Stressfalle wieder in die aufbauenden positiven emotionalen Erlebnis- und Verhaltenswelten zu kommen, die schließlich auch unsere Widerstandsfähigkeit, unsere...