2
Shoppen, Lieben, Kinderkriegen, Sterben:
zu viel Freiheit?
Shoppen
Wenn er recht hat, dann ist es eine Verschwörung ungeheuren Ausmaßes; eine, die mit geheimen Forschungen des US-Militärs begann, so wie wir das von guten Verschwörungen gewohnt sind; eine Verschwörung, die allmählich die Eliten in Politik und Wirtschaft infiltrierte und schließlich auch uns Normalbürger erfasste. Die Rede ist von Frank Schirrmacher (1959–2014) und seinem letzten Buch »Ego. Das Spiel des Lebens«, das wohl nicht zufällig wie ein Thriller von Dan Brown aufgemacht ist. Schirrmacher vertritt die These, die sogenannte Spieltheorie, mit der die Sozialwissenschaften das Aufeinandertreffen von Akteuren mit ihren jeweiligen Eigeninteressen beschreiben, sei im Kalten Krieg entwickelt worden. Mit dem Ziel, dass die Menschen nicht eingeschläfert würden von den Routinen der Feindbeobachtung, sondern sich hierbei eine gewisse aggressive Munterkeit bewahrten. Du musst zu jedem Zeitpunkt damit rechnen, dass der andere deine Schwächen zu seinem Vorteil nutzt, weil er ausschließlich seinen eigenen Interessen folgt, lautet die Devise der Spieltheorie. Auf Moral, Anstand oder auch nur Abmachungen solle man sich lieber nicht verlassen, sondern »hinter allem das Schlimmste« vermuten (Schirrmacher 2013, 23).
Diese Gegnerschaftstheorie habe den Konfliktparteien des Kalten Krieges seinerzeit erfolgreich ihre Sprungbereitschaft erhalten und damit das Tagesgeschäft der Feindseligkeit erleichtert. Aber, so Schirrmacher, die Erfolgsgeschichte der Spieltheorie sei noch weitergegangen: Ausgebaut zur Rational Choice-Theorie ziele sie nicht nur auf das Verhältnis zum Systemgegner, »sondern auf das Verhältnis des Menschen zur Welt« (ebd., 33), weshalb die Spiel- bzw. Rational Choice-Theorie nach dem Ende des Kalten Krieges vielfache Verwendung auch außerhalb des Militärs fand. Sie habe Einzug gehalten auf den Finanzmärkten, sodass nunmehr ganze Abteilungen der Investmentbanken damit beschäftigt seien, »die Absichten konkurrierender Händler aus einem riesigen Datenmaterial mithilfe von Computern und der Spieltheorie in atemberaubender Geschwindigkeit zu entschlüsseln und ihr eigenes Handeln danach auszurichten« (ebd., 24). Im Grunde habe die Spiel- bzw. Rational Choice-Theorie seither unser aller Alltagstheorie des Sozialen geprägt: »›Lerne vernünftig zu handeln‹ hieß: Lerne so zu denken und zu handeln, dass du immer von dem Eigeninteresse aller ausgehst« (ebd., 27).
Schirrmacher glaubt, so sei der eigeninteressierte Modellakteur der Wirtschaftswissenschaften, der sogenannte homo oeconomicus, durch den Erfolg der Spieltheorie »zum Leben erweckt worden« (ebd., 29). Dieser homo oeconomicus trat zwar nie mit dem Anspruch auf, die ganze anthropologische Wahrheit über uns zu enthalten. Er fungierte eher als eine Art Dummy, mit dem Ökonomen Situationsverläufe unter dem Gesichtspunkt eines strikten Eigeninteresses aller Beteiligten durchspielten. Aber aus dem Dummy von ehedem seien wir geworden. Nicht von Natur aus seien wir rationale eigeninteressierte homines oeconomici – wir würden dazu gemacht. Wir stießen auf eine soziale Realität, die nur mit dem homo oeconomicus rechnet und zurechtkommt. Damit auch wir zurechtkommen, verhielten wir uns eben wie der homo oeconomicus. So würden wir sukzessive neu erschaffen – in einer hässlich eigensüchtigen Monster-Variante.
Wie jeder halbwegs unterhaltsame Verschwörungstheoretiker vergröbert, verkürzt und vereinfacht auch Schirrmacher hemmungslos. Er macht keinen großen Unterschied zwischen der Spieltheorie und der Rational Choice-Theorie. Dass Letztere eigentlich eine sehr anpassungsfähige Handlungstheorie ist, die die Gesellschaft vom Einzelnen und seinem subjektiv sinnvollen Handeln her verstehen will, was sie nicht zuletzt anschlussfähig an die Ethik macht (vgl. Scheule 2009), interessiert ihn nicht. Auch Schirrmachers Behauptung, die Rational Choice-Theorie sei die »Lebensphilosophie« (Schirrmacher 2013, 60) des homo oeconomicus, ist irreführend. Der Modellakteur dieser Theorie hat ein selbstgestecktes Ziel vor Augen; auf dieses bezieht er die Handlungsalternativen, die er in seiner konkreten Situation vor sich sieht, und schätzt ab, wie nahe er je nach Alternative seinem Ziel kommen könnte und wie wahrscheinlich das ist (vgl. Scheule 2009, 34 ff.). Vom homo oeconomicus nimmt man dagegen an, »dass er seinen individuellen Nutzen auf der Grundlage vollkommener Information […] maximiere« (Esser 1993, 236). Aus Sicht der Rational Choice-Theorie ist der homo oeconomicus lediglich ein unrealistischer Spezialfall ihres Modellakteurs. Denn »vollkommen informiert« zu sein würde bedeuten, alle vorhandenen Entscheidungsalternativen im Blick zu haben und nicht das schwierige Geschäft der Wahrscheinlichkeitsabwägungen betreiben zu müssen, weil man in der Läge wäre, Entscheidungsfolgen »mit Sicherheit« voraussehen zu können. Das Ziel der »individuellen Nutzenmaximierung« ist natürlich mit den Mitteln der Rational Choice-Theorie modellierbar, aber auch das Entscheidungsverhalten der Akteure des revolutionären deutschen Herbstes 1989 (vgl. Porsch / Abraham 1991) oder das von Mutter Teresa. Es gibt also keine guten Gründe, den homo oeconomicus besonders eng mit der Rational Choice-Theorie verwachsen zu sehen. Derlei – durchaus theorieentscheidende – Feinheiten opfert Schirrmacher leichthin auf dem Altar seiner packenden Verschwörungserzählung.
Doch in einem Punkt hat er recht: Der Markt behandelt uns wie fehlerfrei rationale Egoisten, wie homines oeconomici eben. Was das konkret bedeutet, hat der amerikanische Psychologe Barry Schwartz eindrücklich beschrieben. Schwartz erzählt, wie er einmal eine GAP-Filiale betreten habe, wo sofort eine sympathische Verkäuferin auf ihn zugekommen sei »und fragte, ob sie mir helfen könne. ›Ich möchte eine Jeans‹, sagte ich und nannte meine Größe. ›Gern. Möchten Sie sie in Slim Fit, Easy Fit, Relaxed Fit, Baggy oder Extra Baggy? Soll sie stonewashed oder acidwashed sein – oder im Used-Look? Mit Knöpfen oder Reißverschluss? Verblichen oder normal?‹ Ich war wie vor den Kopf geschlagen« (Schwartz, 2004, 9).
Für den homo oeconomicus ist dieser GAP-Laden das Paradies. »Vollkommen informiert«, wie ihn die Betriebswirtschaftslehre uns vorstellt, sieht er all die angebotenen Alternativen klar vor sich und kann sie fehlerfrei auf sein Ziel beziehen: die perfekte Jeans zu kaufen. Nehmen wir an, Barry Schwartz wäre das tatsächlich gelungen, er hätte aber auf dem Heimweg vom Hosenkauf das Gefühl, er sei noch etwas zu dünn für seine eben erstandene verblichene extra baggy, used look Jeans zum Knöpfen, sodass er schnell noch etwas Schokolade kaufen wolle, so begegnete ihm im nächsten Supermarkt die gleiche Situation: mindestens 20 verschiedene Schoko-Sorten je Hersteller böten sich ihm an. Und es wäre nicht viel anders, würde er sich für Kartoffelchips interessieren oder für Tiefkühlpizzen, Kondome und Mobilfunkverträge.
Wir wollen die Situation nicht vorschnell schlechtreden. Eine große Auswahl erlaubt uns, mindestens drei Dimensionen der Entscheidungsfreiheit positiv zu erleben und festzuhalten:
- eine instrumentelle Dimension: Die freie Entscheidung ist ja meist kein reiner Selbstzweck. Sie hilft uns, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Das kann uns umso passgenauer gelingen, je besser die Auswahl ist.
- eine expressive Dimension: Vielleicht trug Barry Schwartz sein Leben lang Levi’s 501. Dass er jetzt eine Jeans gekauft hat, die so ganz anders ist, hat womöglich damit zu tun, dass er seinen Typ, sein Leben, sich selbst verändern will und nach einem Ausdruck für diese Veränderung sucht. Wäre Schwartz in der DDR zu Hause gewesen, er hätte die Bison-, Wisent- oder Shanty-Jeans nehmen müssen, die die sozialistische Niethosen-Versorgung gerade hergab, ganz egal, ob das seinem Selbstausdruck entspricht oder nicht. Eine gute Auswahl begünstigt, dass wir in unseren Entscheidungen auch von uns selbst erzählen können.
- eine Wirksamkeitsdimension: Seit den Experimenten zur »learned helplessness«1, die Martin Seligman und Kollegen in den 1960er-Jahren machten, hat sich in der Psychologie ein breiter Konsens darüber gebildet, dass es einen Zusammenhang zwischen Wahlfreiheit, Kontrolle einer Situation, Selbstwirksamkeit und Glücksempfinden gibt. Nichts entscheiden zu können, weil ohnehin die anderen entscheiden oder alles immer schon entschieden ist, macht träge und unglücklich. Eine echte Wahl zu haben ist die Voraussetzung für das Erlebnis, überhaupt etwas bewirken zu können, wirksam und insofern auch irgendwie wichtig zu sein.
Wären wir die homines oeconomici, als die uns die Wirtschaft behandelt, hätten wir alles im Blick und alles im Griff, wären wir kühl berechnende Nutzenmaximierer in eigener Sache, wir könnten die genannten Freiheitsdimensionen im vollen Umfang auskosten und müssten geradezu aufheulen vor Glück über jede neue Angebotserweiterung. Faktisch macht uns diese aber nicht glücklicher. Warum eigentlich nicht?
Vermutlich sind es zwei homo oeconomicus-Unterstellungen, die einfach nicht passen zu uns real existierenden Konsumenten: »vollkommene Information« und das sogenannte Maximizing, also ein Entscheidungsverhalten nach dem »je mehr, desto besser«-Prinzip. Dass uns eine ausufernde Optionenvielfalt überfordert, kann nicht eigentlich überraschen. Freiheit, auch solche, die uns einen guten instrumentellen, expressiven oder Wirksamkeitsertrag verspricht, braucht Zeit. Freiheits- und Entscheidungskosten lassen sich daher in der Zeitwährung angeben. Und wir...