»Dazu könnte ich Ihnen eine Geschichte erzählen« – Warum Geschichten beim Verändern helfen
Beim Lesen dieses Buches werden Sie immer wieder auf Geschichten treffen, in denen ich Ihnen erzähle, wie Menschen auf verschiedene Weise Veränderungsprozesse vollziehen, wie jemand seine Schwierigkeiten durch kleine oder große Veränderungen bewältigt oder wie mancher vielleicht in solchen Schwierigkeiten auch stecken bleiben kann. Manchmal werde ich Ihnen solche Veränderungsprozesse auch anhand von Metaphern oder Bildern beschreiben.
In den Geschichten strömt vielerlei zusammen: Selbsterlebtes, aber auch Facetten aus dem Leben von Menschen, denen ich in meiner Beratungsarbeit oder in meinem Alltagsleben begegnet bin oder von denen man mir erzählt hat. Aus vielerlei Einzelteilen und den unterschiedlichsten Erlebnissen verschiedener Personen habe ich einzelne Beispielgeschichten gewoben, die Ihnen über das Buch hinweg vertraut werden und die bei den jeweiligen Veränderungsschritten im 4-Schritte-Modell illustrieren, was für eine Phase jeweils spezifisch ist und wohin ein solcher Schritt führen kann.
Die moderne Hirnforschung sagt, dass wir uns Zusammenhänge in Bildern und Metaphern besser einprägen können und dass sich ein Geschehen oder Erleben in Form von Geschichten und Bildern besser in der Erinnerung verankern kann, weil unsere Sinne dabei angesprochen werden. So kann eine Geschichte beim Lesen oder Zuhören in Ihnen zum Beispiel Zustimmung auslösen oder sogar Selbsterkenntnis anregen: »Ja, das leuchtet mir ein, genauso hätte ich es gemacht.« Die Begebenheit kann Sie auch zum Widerspruch herausfordern oder zu Abgrenzung führen: »Nein, das geht ja so gar nicht!« Sie kann dazu anregen, für sich selbst eigene, ganz andere Lösungsmöglichkeiten für ähnliche Situationen zu finden oder sich durch die Lösung in einer Geschichte oder durch ein Bild zu einem entscheidenden Handeln motivieren zu lassen. Ein Slogan des Buchhandels drückte es einmal so aus: »Geschichten sind Erfahrungen, die man kaufen kann«.
In allen Kulturen wurde und wird immer auch deshalb erzählt, um Menschen durch die Schilderung von fremden Erfahrungen andere Handlungsmuster näherzubringen und damit ihre Wahlmöglichkeiten zu erweitern. So versuchen zum Beispiel Schöpfungsgeschichten aller Religionen, die Frage nach dem Woher der Welt zu beantworten. Die Gleichnisse des Neuen Testaments erzählen von neuen Denkweisen im menschlichen Zusammenleben, der jüdische Rabbiner lockt mit seinen Parabeln und Geschichten menschliche Einsichten bei den ihm Anvertrauten hervor und leitet die Ratsuchenden entweder zu mehr Bescheidenheit im Umgang miteinander an oder trägt zur Heilung ihrer seelischen Nöte bei. Und Sie kennen sicher die Märchensammlung der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, wo Prinzessin Scheherezade ihr Leben rettet, indem sie dem lüsternen Sultan, der ihr nach dem Leben trachtet, Nacht für Nacht bis zum Morgengrauen Geschichten erzählte. Der Sultan war so gespannt auf die Fortsetzungen, dass er sich an die Prinzessin gewöhnte, sich schließlich in sie verliebte und sie heiratete, sodass ihr Leben verschont blieb.
Nicht jede Geschichte rettet nun gleich Leben, aber vielleicht kann eine Geschichte Ihnen eine Anregung für eine neue Wendung in Ihrem Alltag geben. Milton Erickson hat sich in Form der Hypnotherapie auf eine ganz besondere Weise die Kraft und die heilenden Fähigkeiten von Geschichten in der psychotherapeutischen Arbeit zunutze gemacht und gezeigt, wie man selbst erfundene und erlebte wirksame Heilgeschichten für seine Klienten erzählen kann, damit diese sie als Beispiel sehen oder als Projektionen dafür nutzen können, wie man mit seinen Fragestellungen und Problemen umgehen und sie lösen kann. Er stellte fest, dass Heilungsgeschichten im Unbewussten fortwirken, auch wenn man auf seine eigenen Gefühle noch nicht wirklich zu achten gelernt hat oder noch nicht gewohnt ist, beim Handeln genauer auf diese Gefühle zu hören. Unter anderem drückte Milton Erickson es so aus: »Die Kraft, etwas zu ändern, schlummert in Ihnen.« So nahm er an, dass positive Erwartungen das Unterbewusstsein dabei unterstützen können, schöpferische Kräfte zu entwickeln, und förderte dies durch das Erzählen solcher Geschichten.9 Viel später hat ihm die Hirnforschung recht gegeben.
Die Nachfolger der Hypnotherapie von Milton Erickson in Deutschland übernahmen diese Methode des therapeutischen Geschichtenerzählens erfolgreich in ihre Arbeit. Besonders der Psycho- und Hypnotherapeut Bernhard Trenkle hat eine Sammlung von wirksamen Geschichten zusammengetragen und ein Paradigma entwickelt, wie eigene Geschichten zu Heilungsgeschichten werden können.10
Nicht nur die Hypnotherapie nutzt Geschichten als hilfreiches Werkzeug bei Schwierigkeiten mit Veränderungen oder bei Widerständen dagegen, sondern auch Gestalttherapeuten wie der argentinische Jorge Bucay oder auch die Positive Psychologie setzen sie ein, um die kreative Kraft der Seele für Veränderungen, Trennungen und Neuanfang zu wecken oder sie wieder zu beleben.
Eine Geschichte kann auf den Zuhörer wirken wie eine Fantasiereise oder wie eine Trance, besonders in beratenden oder therapeutischen Kontexten. Doch sogar wenn man einfach nur beieinander sitzt und eine Geschichte erzählt wird, kann sie ihre indirekte symbolische Wirkung entfalten und Veränderungen einleiten.
Vielleicht möchten Sie einmal darauf achten, wie die folgende kleine Fallvignette auf Sie wirkt und welche eigenen Gedanken sie bei Ihnen hervorruft, wenn ich Ihnen jetzt von einer jungen Frau erzähle, die ursprünglich wegen Flugangst zu mir zur Beratung kam.
Die Geschichte von Anja: Anja macht jetzt, was sie will
Anja erlebte ihre Flugangst als schwere Beeinträchtigung und Belastung in ihrem Alltag, weil sie beruflich weite Strecken überwinden und deshalb häufig im Flugzeug unterwegs sein musste. Oft nahm sie sogar zusätzliche Urlaubstage, um innerhalb Europas bei einem Arbeitsauftrag rechtzeitig mit dem Zug anreisen zu können, wenn die Angst sie packte. Manchmal gab Anja sich auch einen Ruck, überwand sich zum Fliegen und überstand schweißgebadet die Reise. Manchmal checkte sie ein, musste aber feststellen, dass sie so von Panik überflutet wurde, dass sie ihren Flug nicht antreten konnte und ihr Gepäck wieder ausgeladen werden musste. Schließlich entschied sie sich, eine Beratung aufzusuchen.
Die Beratungsarbeit zu dieser Flugangst führte aber zu ganz anderen Schwerpunkten in ihrem Leben. Anja schilderte im Gespräch, dass sie oft Schwierigkeiten damit hätte, etwas zu tun, was jemand anders ihr aufgetragen hatte und dass sie sich häufig schnell unterlegen fühle. Sie entdeckte in ihrer Erinnerung ein inneres kleines Mädchen, dem man immer strenge Vorschriften gemacht hatte, was es zu tun habe und was es lassen müsse; ein Mädchen, das geglaubt hatte, es müsse seine eigenen Ideen unterdrücken, weil es sich nur durch Wohlverhalten und Anpassung die Zuneigung von Anderen sichern konnte. Sie stellte verwundert fest, dass sie manchmal immer noch so handelte, als ob sie das kleine Mädchen sei, das sich anpassen muss, obwohl sie inzwischen zu einer erfolgreichen Managerin geworden war und wichtige Entscheidungen treffen konnte. In dieser Beratung lernte sie sehr schnell, ihr gesamtes Arbeitsumfeld aus dem Blickwinkel der erwachsenen Frau zu betrachten, die sie inzwischen geworden ist. Diese Erfahrung trug dazu bei, dass sich auch bald vieles andere in ihrem Alltag veränderte: viele Freundschaften erschienen ihr plötzlich zu oberflächlich und sie begann, sich nach ihren eigenen Interessen zu fragen, anstatt sich so sehr abzumühen, um mit den anderen und deren Ansprüchen mithalten zu können. Während ihrer Auseinandersetzung mit diesem Phänomen der Abgrenzung und mit dem neuen Blickwinkel einer kompetenten Frau rückte in der Beratungsarbeit die Flugangst ganz in den Hintergrund, bis Anja eines Tages aufgeregt zu einer Sitzung erschien und berichtete, sie habe einen neuen fantastischen Arbeitsvertrag unterschrieben, bei dem sie nun europaweit tätig und viel unterwegs sein würde. Wir müssten unsere Termine deshalb neu besprechen. Sie habe in diesem Zusammenhang letzte Woche auch schon zwei sehr interessante Reisen unternommen. Als ich sie fragte, wie es dabei mit dem Fliegen gegangen sei, sah sie mich groß an: »Mit dem Fliegen? Wo ist das Problem?« Plötzlich musste sie lachen. Sie hatte mit dieser neuen Aufgabe ihre Angst ganz vergessen, seit sie nicht mehr darauf achtete, wie ein kleines Mädchen nur das zu tun, was man von ihr erwartete, selbst wenn es ihr gegen den Strich ging, sondern sie hatte damit begonnen, sich mit ihren Aufgaben in der Rolle als erwachsener Frau zu identifizieren. Es wird Sie nicht verwundern, dass wir die Beratung bald beenden konnten.
Das Symptom ihrer Flugangst war der jungen Managerin Anja gar nicht mehr bewusst, seit sie sich mit ihrem Willen zur Veränderung ihres Arbeitsplatzes und damit auch ihrer Beziehungen beschäftigt hatte und seit sie dem Ich-Anteil der erwachsenen kompetenten Frau in sich mehr Raum gab. Sie musste sich nicht mehr wie ein kleines Mädchen gegen die Vorgaben der anderen wehren und dabei wertvolle Energie verlieren.
Anjas Geschichte kann Ihnen zeigen, dass ein beeinträchtigendes Symptom oft noch auf etwas ganz anderes hinweist als auf das offensichtliche Geschehen und dass ein Symptom häufig wie von allein zu verschwinden beginnt, wenn ein anderes zugrunde liegendes Problem gelöst ist.
Die hypnotherapeutische Annahme, dass der Empfänger die Bedeutung der Botschaft bestimmt, gibt Ihnen als Leser oder Zuhörer im Umgang mit Geschichten verschiedene...