Wer war dieser Schüßler eigentlich?
Ein etwas anderes Lebensbild
„Wer war dieser Schüßler eigentlich?“ – eine Frage, bewusst und despektierlich ohne den Doktor gestellt, auf den wir immer so stolz sind. Es geht hier um den Menschen Schüßler, und der fängt lange vor dem Arzt und Doktor an, prägt doch die Kindheit den Menschen fürs ganze Leben. So schön und gepflegt dem Tourismus gewidmet wie heute war der kleine Ort Bad Zwischenahn vor den Toren Oldenburgs im Jahre 1821, als Schüßler dort geboren wurde, sicher noch nicht. Aber immerhin wurde er in ein gepflegtes Zuhause hineingeboren, sein Geburtshaus zeugt davon, die Familie gehörte dem gehobenen Mittelstand an. Vater Schüßler war Amtseinnehmer, etwas mehr als Steuersachbearbeiter, etwas weniger als Stadtkämmerer, der Onkel Arzt, der große Bruder Studiosus der Rechte. Es kann als sicher gelten, dass der kleine Wilhelm Heinrich nach der Grundschule auch aufs Gymnasium geschickt wurde. Eine rundum zufriedene Kindheit.
Und dann schlug eine Bombe ein, mitten in die frühe Pubertät, jene Prägephase, die tief greifend die Weichen fürs Leben stellt. Als der Knabe Wilhelm Heinrich 12 oder 13 Jahre alt war, nahm Amtseinnehmer Schüßler nicht nur fürs Amt ein, sondern auch in die eigene Tasche. Das Ergebnis: fünf Jahre Zuchthaus in Vechta.
Die Familie fiel ins Bodenlose, ein soziales Netz wie heute gab es damals nicht. Mutter Schüßler zog mit Wilhelm Heinrich und den kleinen Geschwistern Emma und Adolf nach Oldenburg ins Armenviertel. Mit Putzen, Nähen, Plätten, Waschen hielt sie die Familie notdürftig über Wasser. Der studierende Bruder konnte sicher nichts beitragen, eher bedurfte auch er der Unterstützung. Unser Schüßler musste die Schule verlassen und Muttern zur Hand gehen. Jedes Stückchen Brot wurde zur Kostbarkeit.
Aber nicht nur die Armut, vielmehr der tiefe Bruch im Lebenslauf, der Verlust der Freunde, der Heimat, der Geborgenheit, plötzlich mit dem Kainsmal „der Sohn des Zuchthäuslers“ gebrandmarkt, das gräbt tiefe Spuren in die Seele eines Kindes. Es macht wachsam, kämpferisch und empfindsam. Und eben das sind die Eigenschaften, die aus allem Wirken Schüßlers ein Leben lang erkennbar sind.
Die frühen Erwachsenenjahre bleiben im Dunkel. Aus den damaligen Einwohnerverzeichnissen Oldenburgs ist ersichtlich, dass Schüßler mit 27 Jahren schließlich als Sprachlehrer tätig war, der inzwischen heimgekehrte Vater als Musiklehrer. Beides waren nicht feste Anstellungsverhältnisse, sondern Hungerjobs, Nachhilfeunterricht für einzelne Privatschüler. Die Verhältnisse blieben ärmlich, immer wieder musste die Familie umziehen, vielleicht auch zeigt sich darin eine kleine Spur des Vorankommens.
Auf dem zweiten Bildungsweg
So etwas wie einen „zweiten Bildungsweg“, heute gefordert und gefördert, gab es damals nicht. Seiteneinsteiger hatten es ungleich schwerer, selbst wenn sie erfolgreich wurden, haftete ihnen der Makel des „Parvenü“, des „Emporkömmlings“ an. Auch Wilhelm Heinrich Schüßler musste recht verschlungene Wege gehen, ehe er sich in Oldenburg als Arzt niederlassen konnte. Es zeugt von wachem Blick und ist keine Schande, dass er im Wege stehende Formalien geschickt zu umschiffen verstand, immer aber legal.
Sein Handicap war das fehlende Abitur. Aber nicht überall war es die zwingende Voraussetzung zum Studium, insbesondere bei Ausländern drückte manche Universität ein Auge zu. Also begann er sein Studium 1852 in Paris. Von dort wechselte er 1853 nach Berlin, dort allerdings wäre das Abitur Voraussetzung gewesen. Es bleibt offen, ob er als Gasthörer immatrikuliert war oder ob das Vorstudium in Paris den Zugang ermöglichte. 1854 ging Schüßler nach Gießen, wo er 1855 zum Doktor der Medizin promovierte.
Leider sind die Gießener Universitätsarchive durch Kriegseinwirkungen verloren gegangen. Eine Doktorarbeit existiert nicht, hat es wohl auch nie gegeben. Man konnte damals seine Prüfung absolvieren und den Doktorhut in Empfang nehmen, mit dem Versprechen, die Arbeit nachzuliefern, insbesondere wenn gute Gründe drängten. Und wieder hat der Oldenburger, in Gießen als Ausländer eingeschrieben, ein wenig getrickst. Obwohl die vorgeschriebenen vier Jahre Studium nicht erreicht waren, begründete er sein Gesuch auf Zulassung zur Promotion mit einer in Aussicht gestellten Stellung als Militärarzt im Krimkrieg, der damals Europa erschütterte. Zukünftige Chirurgen hatte die damalige Medizin sowieso nicht so ganz auf der Rechnung, also bekam der Ausländer den begehrten Doktorhut auch ohne Dissertation. Damit befindet er sich übrigens in bester Gesellschaft. An der gleichen Universität haben unter den gleichen Bedingungen Justus Liebig und ein gewisser Johann Wolfgang Goethe ihren Doktorhut in Empfang genommen.
Damit aber war Schüßler noch lange nicht Arzt. Das ist auch heute noch so, für akademische Grade ist die Universität zuständig, für die Approbation zum Arzt der Staat. Ich kenne einen Dr. med., der nicht Arzt ist, und Sie alle kennen heute viele Ärzte, die nicht Dr. med. sind. Der Titel hat an Bedeutung verloren.
Um die begehrte Zulassung als Arzt zu bekommen, hat es dann ein langes Hin und Her von Schriftsätzen gegeben. Zunächst wurde ihm auferlegt, das fehlende Abitur nachzuholen. Wie jeder hatte auch der erwachsene Doktor einen Bammel vor dieser Prüfung. Aber weder sein Antrag, ihm das zu ersparen, noch ihm in einigen Fächern Erleichterung zu gewähren, fand Gehör. Das war auch überflüssig, er hat bestanden. Wie gut oder wie schlecht, darüber gibt es nur Gerüchte.
Die nächste Klippe, das fehlende vierte Studienjahr, verzögerte das Ziel weiter, Schüßler holte es in Prag nach. Und schließlich stand er vor dem gestrengen Ärztekollegium, das die ärztliche Prüfung abnehmen sollte. Auch über dieses Prüfungsergebnis kursierten alsbald abenteuerliche Gerüchte. Seine Gegner setzten in die Welt, man habe alle Augen zugedrückt, weil er ohnehin versprochen habe, sich „nur“ als homöopathischer Arzt niederzulassen. Seine Anhänger lobten und loben ihn in den Himmel. Beides ist falsch, über die Benotung durch die Prüfer gibt es Protokolle.
Auch mit dem so menschlichen Durchschnittsexamen wurde Schüßler offenkundig ein guter und erfolgreicher Arzt. Sein Testament weist den einstigen Armenviertler als vermögenden Mann aus, und in einer Fachzeitung schreibt er selbst, dass er circa 12.000 Konsultationen im Jahr habe. Davon träumt mancher Kassenarzt heute nur noch.
Der Homöopath Schüßler
Im Chor einer sehr martialischen Medizin, die mit Aderlass, Purgieren, Morphium und überzogener Chemie oft mehr Schaden als Nutzen stiftete, blühte die sanfte Medizin der Homöopathie. Schüßler wirkte 17 Jahre lang als angesehener homöopathischer Arzt. Aber anhand seiner Veröffentlichungen in verschiedenen homöopathischen Publikationen lässt sich schon früh erkennen, wie gern er „wider den Stachel löckt“. Obwohl er viel geschrieben hat, sogar ein Lehrbuch der Homöopathie in Angriff genommen hat, wird schon sehr früh deutlich, dass ihn das gedankliche Fundament der Homöopathie nicht befriedigt. Er hält sich nicht streng an die Hahnemann’sche „Simile“-Lehre, Ähnliches mit Ähnlichem zu heilen, sondern therapiert „Contraria contrariis“ — Heilung mithilfe eines Gegenmittels. Er gibt die Arznei nicht nach dem Arzneimittelbild des kranken Menschen, er sucht immer wieder nach Spezifika für bestimmte Krankheiten.
Schüßler hat schon frühzeitig geäußert, dass ihn die Grundprinzipien der Homöopathie nicht restlos überzeugen. Die Kluft zwischen ihm und den Homöopathen wurde groß. (Foto: Slawik)
Das tun auch heute unendlich viele Homöopathen, sie geben diese Abweichung vom Grundprinzip der Homöopathie nur nicht zu. Schüßler hat darüber offen diskutiert. So ist ein Wissenschaftsstreit dokumentiert, ob denn bei Arzneimittelprüfungen an Gesunden die Symptome, die später in das Arzneibild einfließen, mit der Substanz erzeugt werden, oder ob sie, wie Schüßler behauptet, hervorgebracht werden. Ein Sakrileg in der Homöopathie, heißt das doch, die Krankheit ist schon da, sie wird durch das Mittel aktiviert.
Und schon 1862, lange vor der Entwicklung seiner Biochemie, sucht er nach Mangelerscheinungen:
„Welches ist die Substanz, durch deren Mangel oder Verminderung die Krankheit veranlasst oder erhalten wird?“
Hier wird schon erkennbar, dass er eine andere Auffassung vom Wesen der Krankheit und folgerichtig von der Therapie hatte, eine Auffassung, die fast zwingend zu seiner späteren Neuorientierung führen musste. Die Abwendung vom strengen homöopathischen Arzneibild zur allopathischen Wirkungsweise ist auch aus folgendem Zitat abzulesen:
„Der Grundcharakter der Magnesiasalze ist gleich, Magnesia phosphoricum wirkt aber rascher (…).“
Ein Zitat, durch das ich mich in der Art, wie ich die Wirkungen der...