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Grundlagen zum Schulabsentismus und Dropout
1.1 Schulpflicht und Schulzwang
Die allgemeine Schulpflicht bildet die rechtliche Grundlage dafür, dass Schulversäumnisse ein Problem darstellen. Historisch betrachtet ist sie ein Produkt der Aufklärung und wurde in vielen Staaten das wesentliche Rahmengesetz für die Alphabetisierung der Gesellschaft. Aus ideengeschichtlicher Perspektive stellt die Schulpflicht eine Voraussetzung für den aufklärerischen Durchbruch in das Zeitalter der Mündigkeit dar, in dem der rational seine Welt begreifende Mensch entdeckt wurde. Um sich diesem Ideal zu nähern und somit eine »bessere« Gesellschaft zu schaffen, sollte aus Sicht der Aufklärer die Erziehung unter staatlicher Aufsicht, umsetzbar durch eine allgemeine Schulpflicht, als vorrangiges Mittel genutzt werden (Blankertz 1982). Ohne ein Minimum an Bildung in breiten Bevölkerungsschichten konnte sich ein Staat den absehbar steigenden wirtschaftlich-technologischen Herausforderungen der Zukunft nicht stellen. So bringen erste gesetzliche Regelungen im 16. und 17. Jahrhundert den Anspruch auf eine staatliche Bildungsträgerschaft zum Ausdruck, Preußen folgte 1717 mit einem Gesetz zur Unterrichtspflicht und suchte damit Anschluss an den allgemeinen Trend der Zeit. Die Pflicht zur schulischen Bildung für die Heranwachsenden richtete sich auch an die Eltern und verpflichtete diese, den Kindern für die Lernzeit freizugeben und sie zumindest vormittags aus der Erwerbstätigkeit herauszunehmen, die in der Landwirtschaft, im Bergbau und in den Fabriken eine alltägliche Erscheinung war (Ricking 2003). Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das moderne Schulrecht, dessen Umsetzung durch den Aufbau der nötigen Strukturen und die Überwindung von Widerständen jedoch noch ein weiteres Jahrhundert andauerte. Die Voraussetzungen für Schule waren zu diesem Zeitpunkt noch denkbar ungünstig. Erst Ende des 19. Jahrhunderts konnte die Aufgabe und Pflicht des Staates, alle Schüler zu erfassen und für sie ein geeignetes, ausreichendes und erreichbares Netz von Schulen bereitzustellen, erfüllt werden. In diesem Kontext kann man das Reichsgrundschulgesetz von 1920, das vier Pflichtschuljahre für elementare Bildungsinhalte vorsah, als erstes gesamtdeutsches Schulpflichtgesetz betrachten (Dunkake 2007). Die Grundschule wurde dabei als verbindliche Gesamtschule etabliert und sollte einer klassenspezifischen Ausdifferenzierung des Bildungswesens entgegenwirken (Hartmann-Kurz 1998).
Nach Jahrhunderten hat sich die Schulpflicht gegen viele Widerstände durchgesetzt. Sie ist eine relativ junge Erscheinung und Errungenschaft, die zwar fest etabliert ist, sich jedoch gegenwärtig und auch in der Zukunft sozialen Entwicklungen stellen muss.
Heute ist die Schulpflicht in Deutschland durch die Kulturhoheit der Länder in den einzelnen Landesverfassungen geregelt. Darunter wird die Verpflichtung von Kindern und Jugendlichen verstanden, ab dem sechsten Lebensjahr zehn bzw. zwölf Jahre lang staatliche oder staatlich anerkannte Schulen zu besuchen. Dieses impliziert auch Lehrer- und Elternpflichten, zum Beispiel den Schulbesuch des Kindes zu beaufsichtigen und es zum Schulbesuch anzuhalten (Ricking 2003).
In den bisher ergangenen juristischen Urteilen in Deutschland wurde die Schulpflicht als unbedingte Zwangsnorm bestätigt. Aufgrund dieser im Vergleich mit anderen westlichen Ländern (in denen zumeist eine Bildungs- oder Unterrichtspflicht herrscht, die auch außerhalb der Schule erfüllt werden kann) rigiden Haltung, ist es Eltern in Deutschland grundsätzlich nicht gestattet, ihre Kinder dem Zugriff der Schule zu entziehen. Solche, die dennoch aus unterschiedlichen Gründen den Versuch unternahmen, sie selbst oder im privaten Umfeld zu unterrichten, unterlagen stets dem Anspruch der Absolutheit der Schulpflicht. In den USA beispielsweise ist die Unterrichtung zu Hause (home schooling) durchaus verbreitet und betrifft etwa 5 % der dortigen Schülerschaft.
Unterwirft sich ein Schüler andauernd oder wiederholt nicht der Schulpflicht, sehen sich staatliche Stellen in der Verantwortung, rechtliche Zwangsmaßnahmen umzusetzen. Der Begriff Schulzwang umschreibt die betreffenden Sanktionen zur Durchsetzung der Schulpflicht. Die Schulpflichtverletzungen entsprechen rechtlich in der Regel einer Ordnungswidrigkeit und haben Bußgelder, Zwangszuführungen durch die Polizei sowie – in schweren Fällen – Arreststrafen zur Folge.
1.2 Formen und Bedingungen des Schulabsentismus
Unter den Oberbegriff Schulabsentismus fallen Verhaltensmuster, bei denen Schulpflichtige sich während der Unterrichtszeit weder im Klassenraum noch in der Schule aufhalten und zeitgleich alternative Räume bevorzugen (engl. school absenteeism). Es handelt sich um einen deskriptiven Klammerbegriff, der diverse Muster und Schweregrade schulbezogener Meidung zusammenfasst (Walter & Döpfner 2009; Ricking 2003). Zentrales Merkmal ist somit die illegitime körperliche Abwesenheit aus dem Wirkbereich Schule, somit eine Schulpflichtverletzung. Schulabsentismus ist ein facettenreiches Phänomen mit vielen möglichen Ursachen, Verläufen, Intensitäten und Folgen. Allen Ausprägungen gemeinsam ist lediglich der fehlende Schüler. Es lässt sich folgendermaßen definieren:
Schulabsentismus umfasst diverse Verhaltensmuster illegitimer Schulversäumnisse multikausaler und langfristiger Genese mit Einflussfaktoren der Familie, der Schule, der Peers, des Milieus und des Individuums, die einhergehen mit weiteren emotionalen und sozialen Entwicklungsrisiken, geringer Bildungspartizipation sowie einer erschwerten beruflichen und gesellschaftlichen Integration und die einer interdisziplinären Prävention und Intervention bedürfen.
Die schulmeidenden Verhaltensmuster sind komplex strukturiert und lassen sich hinsichtlich der Bedingungskonstellationen in drei Formgruppen, das Schulschwänzen, die angstbedingte Schulverweigerung und das Zurückhalten (Eltern verhindern den Schulbesuch oder billigen Schulversäumnisse), untergliedern. Diese Klassifikation bezieht sich auf den ätiologischen Kontext, legitimiert sich durch deutlich unterscheidbare Bedingungsfaktoren und ist international anerkannt (Thambirajah, Grandison & De-Hayes 2008). Die Dreiteilung ist nicht streng separierend aufzufassen, sondern wirklichkeitsgerechter wird sie als Konstrukt mit orientierender Funktion in einem Feld von Verhaltensbildern zum Schulbesuch verstanden. So muss ein bestimmter Anteil der Fehlzeiten sogenannten Mischformen in Rechnung gestellt werden, in denen bei Schülern einzelne Merkmale zusammen auftreten oder phasenweise wechseln (Berg, Nichols & Prichard 1969; Walter & Döpfner 2009). Die Differenzierung in drei Subformen dient sowohl zur formellen Strukturierung des Gegenstandes als auch als Folie zur diagnostischen Einschätzung eines Falles. Lehrkräfte und andere Professionelle benötigen diagnostische Hilfen, die in der Lage sind, die Komplexität des Feldes und die Variabilität der Erscheinungsformen, Motive und Bedingungen in Struktur zu bringen.
1.2.1 Risikofaktoren für Schulabsentismus und Dropout
Risikofaktoren werden als Bedingungen verstanden, die die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung, psychischen Störung oder Erkrankung (über die Grundrate der diesen Bedingungen nicht ausgesetzten Personen) erhöhen. Es handelt sich dabei um ökologische, sozio-ökonomische, psychische oder physische Bedingungen beim oder im Umfeld des Heranwachsenden, die eine positive Entwicklung beeinträchtigen oder hemmen und die Wahrscheinlichkeit für Fehlentwicklungen erhöhen (Beelmann & Raabe 2007).
Hilfreich ist die Unterscheidung von proximalen Faktoren, die sich direkt auf das Kind (z. B. unzureichende Beaufsichtigung) und distalen Faktoren, die sich eher indirekt über Mediationsprozesse auswirken (z. B. dauerhafte Arbeitslosigkeit der Eltern). So steht materielle Armut nicht in direktem Zusammenhang mit Lern- oder Verhaltensstörungen, sondern stellt lediglich einen Marker einer Risikogruppe dar und benötigt Konkretisierungen, um Aussagekraft und Erklärungswert zu gewinnen. In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass der Einfluss von Risikofaktoren auf das Lernen oder Verhalten auch das Ergebnis kognitiv-emotionaler Verarbeitungsprozesse darstellt. Kinder verarbeiten Probleme in ihrer Lebenswelt je nach Anlagen und erworbenen Merkmalen (z. B. Selbstwirksamkeitserwartung, Selbstwertgefühl, Kontrollüberzeugungen) unterschiedlich (Mietzel 1998). Dieser wichtige Aspekt in der Handlungsregulation wird in Fachdiskussionen zumeist mit dem Begriff Coping gekennzeichnet und verdeutlicht die hohe interindividuelle Variabilität der Ausgangsbedingungen in Entwicklungsprozessen. Zu sehr wirken in einer biopsychosozialen Perspektive situative und personale Umstände in der...