Der Einfluss von Schule auf das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen
Ludwig Bilz und Cornelia Hähne
1 Einleitung
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob sich Dimensionen der schulischen Lebenswelt auf eine gesunde Entwicklung der Jugendlichen auswirken und auf welche Weise dies gegebenenfalls geschieht.
Die vorliegende Arbeit ist Teil der aktuellen internationalen Studie »Health Behaviour in School-Aged Children« (HBSC), die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützt wird. Ziel der Studie ist es, zu einem erweiterten Verständnis von Einstellungen und Verhaltensweisen junger Menschen bezüglich der Gesundheit beizutragen sowie Bedingungen ihrer Entwicklung zu untersuchen.
Das Jugendalter charakterisieren umfassende dynamische und miteinander in Beziehung stehende kognitive, soziale und biologische Veränderungen. Daraus resultieren für die Jugendlichen mehrere spezifische Anforderungen bzw. Aufgaben, die einen besonderen Stellenwert für ihre Entwicklung haben (Havighurst, 1982; Oerter & Dreher, 1998; Fend, 2000). In diesem Zusammenhang werden von vielen Autoren zwei Entwicklungsaufgaben besonders betont (u. a. Fend, 1980; Hurrelmann, 2004):
- Auseinandersetzung mit schulischen Leistungsanforderungen und berufliche Perspektiventwicklung sowie
- allmähliche Ablösung vom Elternhaus und Entwicklung sozialen Beziehungsverhaltens gegenüber Gleichaltrigen
Die Institution Schule ist ein Ort, an dem die Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben sowohl formal als auch informell (»heimlicher Lehrplan«) stattfindet (u. a. Fend, 1980; Jerusalem & Schwarzer, 1991; Freitag, 1998; Hurrelmann, 2004). Kinder und Jugendliche verbringen mit »Fünfzehntausend Stunden« einen wesentlichen Anteil ihrer Lebenszeit in der Schule (Rutter et al., 1980). Will man die Gesamtheit aller schulischen Prozesse, die das Handeln, Lernen, Erziehen sowie die Beziehungen und Interaktionen der Beteiligten betreffen, erfassen und mit dem Gesundheitsverhalten von Jugendlichen in Beziehung setzen, bietet sich dafür das Konzept der Schulkultur an. Der Begriff der Schulkultur bezieht die Perspektiven aller an Schule Beteiligten ein, integriert einzelne Aufgaben und Funktionsbereiche der Schule sowie ihre pädagogische Ausgestaltung einschließlich äußerer Umfeldbedingungen (Melzer, Mühl & Ackermann, 1998).
Abb. 1: Belastungs-Bewältigungs-Modell nach Hurrelmann (2004, S. 160)
Gemäß dem Belastungs-Bewältigungs-Paradigma (siehe Abbildung 1) liegen die Voraussetzungen einer gelingenden und angemessenen Bewältigung der Entwicklungsaufgaben, die eine normale und gesunde weitere Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen möglich werden lässt, im Gleichgewicht zwischen den Belastungen, die sich aus den Anforderungen der Entwicklungsaufgaben ergeben und den personalen sowie sozialen Ressourcen, die zu ihrer Bewältigung zur Verfügung stehen.
Probleme im Entwicklungsprozess der Jugendlichen ergeben sich folglich dann, wenn unzureichende Ressourcen und/oder übermäßige Belastungen dieses Gleichgewicht und damit die weitere gesunde Persönlichkeitsentwicklung gefährden. Die Folgen einer unangemessenen Bewältigung können in drei Varianten unterteilt werden: Sie sind nach außen gerichtet (externalisierend) und äußern sich z. B. in Gewalthandlungen; sie sind nach innen gerichtet (internalisierend) und können sich in psychosomatischen Beschwerden und Depressionen zeigen und/oder sie sind ausweichend (evadierend) und offenbaren sich beispielsweise im Konsum psychoaktiver Substanzen (Hurrelmann, 2004).
Vorliegende empirische Studien berichten auf der einen Seite über Zusammenhänge zwischen schulischen Variablen und Aspekten der psychischen Gesundheit (Holler-Nowitzki, 1994; Hurrelmann, 1994; Freitag, 1998; Winkler Metzke & Steinhausen, 2001) sowie auf der anderen Seite über Einflüsse der Schulkultur auf aggressives Verhalten (u. a. Melzer, Mühl & Ackermann, 1998; Meier, 2004). In dieser Studie sollen jedoch Zusammenhänge zwischen der Schulkultur und allen drei Formen problematischen Gesundheitsverhaltens – als Folge unangemessener Bewältigung – gemeinsam analysiert werden.
Dabei gehen wir davon aus, dass sich die Schulkultur mit den Dimensionen Unterrichtsqualität und Mitschülerunterstützung auf die psychische Gesundheit (internalisierendes Problemverhalten), auf aggressives Verhalten (externalisierendes Problemverhalten) und auf den Alkoholkonsum (evadierendes Problemverhalten) der Schüler auswirkt (Haupthypothese). Darüber hinaus vermuten wir für die psychische Gesundheit, dass der Zusammenhang zwischen Schulkultur und psychischer Gesundheit indirekt über die beiden Variablen Kompetenzeinstufung der Schüler und Schulfreude vermittelt wird (Mediatormodell). Die Kompetenzeinstufung der Schüler repräsentiert dabei den Stellenwert der Entwicklungsaufgabe »Umgang mit schulischen Leistungsanforderungen«. Die Schulfreude spiegelt die generelle subjektive Beurteilung der schulischen Lebenswelt wider (Zusatzhypothese I). Weiterhin gehen wir davon aus, dass sich Geschlechterunterschiede in der Ausrichtung des Problemverhaltens zeigen. Mädchen, so zeigen Befunde anderer Studien (u. a. Kovacs & Devlin, 1998; Steinberg & Morris, 2001), tendieren eher zu internalisierendem, Jungen eher zu externalisierendem Problemverhalten (Zusatzhypothese II).
2 Methodik
2.1 Stichprobe/Untersuchungsanlage
Datenbasis der hier präsentierten Analysen ist die deutsche Stichprobe der internationalen HBSC-Studie aus dem Jahr 2002. Gemäß der Richtlinien des HBSC-Forschungsverbundes wurden Schülerinnen und Schüler aus einer Zufallsauswahl von fünften, siebenten und neunten Klassen aller allgemeinbildenden Schulen (Klumpenstichprobe) der beteiligten vier Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Hessen und Berlin befragt. Grundlage der Quotierung der Länderstichproben (nach Schulform) waren die aktuellen Schülerzahlen der Landesämter für Datenverarbeitung und Statistik. Aus dem Gesamtdatensatz dieser repräsentativen Länderstichproben (N = 23.111) wurde für den hier verwendeten strukturtypischen Deutschlanddatensatz eine randomisierte Auswahl, stratifiziert für Alter, Geschlecht, Bundesland sowie Schulform, getroffen (N = 5.650). In Tabelle 1 ist die Verteilung der Stichprobe für die einzelnen Bundesländer dargestellt.
Tab. 1: Stichprobe nach Bundesland, Klassenstufe und Geschlecht
| Gesamt n | Jungen % (n) | Mädchen % (n) |
Nordrhein-Westfalen | 3339 | 48,7 (1626) | 51,3 (1713) |
Hessen | 1081 | 49,9 (539) | 50,1 (542) |
Sachsen | 681 | 51,0 (347) | 49,0 (334) |
Berlin | 549 | 49,9 (274) | 50,1 (275) |
5. Klasse (MW = 11,56 J., SD = 0,49) | 2100 | 50,5 (1061) | 49,5 (1039) |
7. Klasse (MW = 13.63 J., SD = 0,45) | 1801 | 48,9 (880) | 51,1 (921) |
9. Klasse (MW = 15,65 J., SD = 0,44) | 1749 | 48,3 (845) | 51,7 (904) |
Gesamt | 5650 | 49,3 (2786) | 50,7 (2864) |
Die Erhebungen mit einem standardisierten Fragebogen erfolgten anonym und auf freiwilliger Basis im Zeitraum von Februar bis Mai 2002. Nähere Erläuterungen zur Stichprobenkonstruktion und der Untersuchungsanlage der deutschen HBSC-Studie finden sich bei Richter (2003).
2.2 Erhebungsinstrumente
Der Erhebungsfragebogen besteht aus einem in allen teilnehmenden Staaten...