LRS verstehen
Die in der Einleitung zitierten Berichte ehemaliger Schülerinnen und Schüler mit LRS und betroffener Eltern zeigen, dass jeder einzelne »Fall« und seine Lösung höchst unterschiedlich verlaufen. So sind die Gründe, warum eine Reihe von Kindern den Zugang zur Schriftsprache so qualvoll erlebt, individuell ganz unterschiedlich. Gemeinsames Kennzeichen sind zu viele Fehler, die auf fehlenden Einsichten in das alphabetische Schriftsystem oder falschen Vorstellungen darüber beruhen, sowie das Ignorieren der Interpunktion.
Das Problem bei Kindern, die LRS haben wie ich, ist, dass sie meistens die schlechtesten Schüler in Deutsch sind. Das liegt daran, dass in der Grundschule nur geübte Diktate geschrieben werden. Man ist oft deprimiert, da man fast immer nur 5er oder 6er schreibt und egal, wie viel man sich auch anstrengt und übt, nichts besser wird. Ein Problem sind auch Deutschlehrer, die keine Ahnung von LRS haben, oft sind sie unkooperativ, wenn man ihnen nahelegt, sich mehr über dieses Thema zu informieren. Manche sagen, dass man sich nur auf der faulen Haut ausruhen will.
So erklärt der sechzehnjährige Oliver die Gründe für seine Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Seine Meinung, dass es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die »keine Ahnung von LRS haben«, obwohl doch ca. 5 bis 7 Prozent der Schülerpopulation davon betroffen sind, ist leider nicht aus der Luft gegriffen. Statt verstärkt zu fördern, halten manche Lehrkräfte, wie Max’ Mutter auf S. 12 beschreibt, LRS nach wie vor für eine Ausrede oder für Faulheit. Sie stufen die Kinder in einen niedrigeren Schultyp herab, lassen sie Klassen wiederholen und/oder verweisen sie an außerschulische Einrichtungen. Hier einige Originalzitate von Lehrkräften unter Schülertexten und Arbeiten:
Konzentrier dich mehr, dann machst du weniger Leichtsinnsfehler!
Wenn du ordentlich schreiben würdest, könntest du auch die Rechtschreibung erkennen und die Wörter lernen. Es ärgert mich furchtbar, wenn ein Schüler, der nicht blöd ist, seinen Kopf so wenig benutzt und sich vor der Arbeit drückt, wo es nur geht.
Die Arbeit entspricht auch nur annähernd nicht den Mindestanforderungen in sprachlicher wie inhaltlicher Hinsicht. Eine »Korrektur« erscheint daher sinnlos. Note 6 (LRS)
Ich erkenne deine LRS nur an, wenn du einen Nachweis über eine außerschulische Förderung vorlegst!
Welches Verständnis von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten liegt diesem Buch zugrunde?
»Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten« (LRS), »Legasthenie«, »Dyslexie«, »Lese-Rechtschreib-Schwäche«, »Lese-Rechtschreib-Störung«, »Teilleistungsstörung«, »Wahrnehmungsschwäche«, »Konzentrationsstörung«, »Aufmerksamkeitsstörung ADS« … Lehrkräfte und Eltern werden heute mit einer Fülle an Bezeichnungen konfrontiert, die alle im Zusammenhang mit Problemen beim Lesen, Schreiben und Rechtschreiben verwendet werden. Mit der Wahl des Begriffs soll häufig eine bestimmte Teilgruppe oder Ursachenvermutung hervorgehoben und von anderen abgegrenzt werden.
Die Tatsache, dass die Welt der Schrift für eine Reihe von Kindern und auch Erwachsenen ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln ist, deren Code sie nur sehr mühsam knacken können, beschäftigt seit dem 19. Jahrhundert viele Wissenschaftszweige, die sie aus ihren jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln zu erklären und lösen versuchen. Lange Zeit nannte man das Problem auch im schulischen Raum »Legasthenie« und verstand darunter im Grundsatz ein medizinisches Krankheitsbild, das man niemals loswird.
Da sich die Annahmen, auf denen der Begriff »Legasthenie« beruhte – Probleme nur beim Lesen und/oder Rechtschreiben, nur im Fach Deutsch und nur bei besonders hoher Intelligenz –, weder wissenschaftlich noch bildungspolitisch begründen ließen, wurde der Begriff »Legasthenie« 1978 von der Kultusministerkonferenz durch die wenig griffige, aber präzisere Bezeichnung »besondere Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben«, kurz LRS, ersetzt. Die Ergebnisse von Langzeitbeobachtungen und großen empirischen Untersuchungen in den 1970er Jahren widerlegten die zentralen Annahmen des medizinischen Verständnisses. Schrittweise hielt in den Erlassen die Erkenntnis Eingang, dass es sich bei LRS um ein Lernproblem und nicht um eine Krankheit handelt. Allerdings kehrten Bayern (1999) und das Saarland (2009) wieder zur medizinischen Sicht von Legasthenie zurück. Die Weltgesundheitsorganisation WHO verzichtet inzwischen auf die Begriffe »Legasthenie« und »Teilleistungsstörung« in ihrer Klassifikation psychischer Störungen unter F81.0 »Lese- und Rechtschreibstörung«.
In diesem Buch wird die 2003 von der Kultusministerkonferenz verwendete Bezeichnung »LRS« für Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten übernommen. Sie können durch viele unterschiedliche Faktoren verursacht werden und sind für die Autorin ein didaktisches Problem, keine Krankheit oder Teilleistungsstörung. Sie sind Beeinträchtigungen der Lernmöglichkeiten, die dadurch entstehen, dass Kindern im Anfangsunterricht keine klaren Vorstellungen über den Lerngegenstand Schriftsprache vermittelt wurden. Ihnen fehlt die »kognitive Klarheit«. Kinder mit LRS haben oft falsche Vorstellungen entwickelt und verwenden unangemessene Strategien, die Fehler provozieren. So versuchen sie auf der Grundlage ihrer bisherigen Erfahrungen mit Schrift und Sprache oft aktiv die eigenen Vorstellungen umzusetzen, z. B. »aein« für »ein« oder »waiell« für »weil«, wie Naiena auf S. 145.
Warum fällt manchen Kindern Lesen und Schreiben so schwer?
»In der älteren Forschung ging man noch davon aus, dass das Erlernen der Schriftsprache vorwiegend eine Wahrnehmungsleistung sei und dass es genüge, zwei Symbolsysteme (Buchstaben und Laute) durch genaues Sehen und Hören zu lernen und die Phonem-Graphem-Korrespondenzen im Gedächtnis zu speichern. Probleme beim Schriftspracherwerb wurden dann folgerichtig auf Teilleistungsstörungen der Wahrnehmung zurückgeführt. Heute wissen wir, dass es sich beim Schriftspracherwerb um die Erlangung spezifischer Einsichten, also um erlernbare kognitive Prozesse handelt«, konstatiert die Schriftsprachexpertin Renate Valtin 2001 (S. 48).
Diese Einsichten können, wenn die vorschulische Erziehung dies nicht ausreichend angebahnt hat, im Umgang mit Schriftsprache im Unterricht geleistet werden. Dazu gehört z. B. die Vergegenständlichung von Sprache, das Wortkonzept, die Lautanalyse und Kenntnis der Phonem-Graphem-Zuordnungsregeln.
Wird der Schriftspracherwerb im Anfangsunterricht nicht den sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder angepasst, ihnen Klarheit über den Lerngegenstand vermittelt und die Abstraktion auf die lautliche Seite von Sprache mit vielfältigen Übungen angebahnt, sind Kinder in ihrer Entwicklung gefährdet. Manchmal wird die Aufmerksamkeit eines Schulanfängers auch während dieser schwierigen Lernphase auf andere, für Kinder wie Nina (S. 22) existentielle Lebensfragen (häusliche Krisen, Tod, Trennung, Elternerwartung, Lehrerdruck) fokussiert. Ein Kind, auf das einige der obigen Gründe passen, erlebt sich rasch in der Schule und zu Hause als Versager. Die Lernmotivation schwindet vor allem dann, wenn keine Passung der Angebote an die Lernvoraussetzungen erfolgt. Bleibt nun frühzeitige Hilfe aus und vergrößert sich der Abstand zur Bezugsgruppe, so stellen sich Misserfolgserlebnisse sowie Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls und der Gesamtpersönlichkeit ein.
Mythen über »Legasthenie«
- →
- Legasthenie ist eine Krankheit.
- →
- Legasthenie ist angeboren, wird vererbt und bleibt ein lebenslanges Schicksal.
- →
- Legastheniker sind an typischen Fehlern und Spiegelschrift zu erkennen.
- →
- Legasthenie ist ein Problem, das überwiegend...