Zunächst wird das unionsrechtliche Sekundärrecht bzgl. des Embryonenschutzes (I) herangezogen und danach die Forschungsfreiheit in Europa (II) zentralisiert. Daraufhin werden die in der EU zulässigen Embryonenforschungsprogramme (III) konkretisiert. Letztlich wird diskutiert, ob es in Europa eher eine Tendenz zum Embryonenschutz oder zur Forschung (IV) gibt.
Vorliegend werden die Geweberichtlinie[172] (1) und die ATMP-Verordnung[173] (2) analysiert.
Die Verwertung humaner Zellen und Gewebe ist mittlerweile im medizinischen Sektor unentbehrlich geworden.[174] Nach dem Wortlaut des Erwägungsgrunds 31 besteht das Ziel der Geweberichtlinie darin, „die Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für menschliche Gewebe und Zellen in der gesamten Gemeinschaft“ zu erreichen. Denn nach Art. 1 derselben Richtlinie wird die Gewährleistung eines hohen Gesundheitsniveaus angestrebt. In ihren Geltungsbereich fallen gemäß dem Erwägungsgrund 7 u.a. Geschlechtszellen, d.h. Ei- und Samenzellen, fötale Gewebe und Zellen sowie adulte und embryonale Stammzellen. Trotzdem existiert keine Ausführung über die Verwendung humaner embryonaler Stammzellen in der Forschung.[175] Diese Richtlinie dient lediglich dazu, Mindeststandards in diesem medizinischen Bereich zu gewähren.[176] Dies kann auch aus dem Erwägungsgrund 4 abgeleitet werden, in welchem der dringende Bedarf von einheitlichen Rahmenbedingungen aufgegriffen wird zur Gewährleistung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Lagerung und Verteilung von Geweben und Zellen in der EU sowie zur Erleichterung ihres Austausches für Patienten.[177] Allerdings wird im Erwägungsgrund 12 betont, dass durch die Geweberichtlinie keine Beeinträchtigung der Entscheidung der Mitgliedstaaten über die (Nicht-)Verwendung spezifischer menschlichen Zellen, inklusive Keimzellen und embryonale Stammzellen, beabsichtigt wird. Auch wird in derselben Bestimmung weiter ausgeführt, dass keine Einmischung in die mitgliedstaatliche Definition von ‚Person‘ oder ‚Individuum‘ erfolgt. Dementsprechend ist die Geweberichtlinie nur in solchen Mitgliedstaaten zu beachten, in denen auch die Nutzung embryonaler Stammzellen infrage kommt, da es im umgekehrten Fall sowieso schon verboten ist.[178] Zwar können die Mitgliedstaaten autonom über das Gestatten und die Nutzung embryonaler Stammzellen entscheiden, jedoch kann aus dem Gesamtkontext der Geweberichtlinie entnommen werden, dass zumindest auf der Unionsebene die grds. Verwendung von embryonalen Stammzellen, d.h. sowohl ihre Gewinnung als auch ihre Vernichtung, gebilligt wird.[179]
Gemäß Art. 1 der ATMP-Verordnung werden mit diesem Dokument spezielle Bestimmungen für die Genehmigung, Überwachung und Pharmakovigilanz (Überwachung der Arzneimittelsicherheit in der Phase seiner klinischen Entwicklung sowie fortlaufende Kontrolle von zugelassenen und anwendbaren Arzneimitteln)[180] von Arzneimitteln für neuartige Therapien dargelegt. Aus dem Erwägungsgrund 14 geht hervor, dass die ATMP-Verordnung die Geweberichtlinie ergänzt und folglich nicht ihren Grundsätzen zuwiderlaufen soll. Im Erwägungsgrund 7 wird verdeutlicht, dass diese Verordnung nicht in die Entscheidung der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Zulässigkeit der Verwendung embryonaler Stammzellen eingreift.
Wird der Fokus erneut auf Art. 1 i.V.m. Art. 2 I lit. a, b der ATMP-Verordnung gelegt, so sind im Ausdruck ‚neuartige Therapien‘ u.a. auch ‚biologisch bearbeitete Gewebeprodukte‘ bzw. ‚tissue engineered products‘ inbegriffen.[181] Der Zweck der ‚tissue engineered products‘ liegt darin, in vitro gezüchtete Organe und Gewebe zur Heilung defekter Organe zu verwenden.[182] Da embryonale Stammzellen die in der Legaldefinition von ‚tissue engineered products‘ im letzten Spiegelstrich von Art. 2 I lit. b der ATMP-Verordnung geforderten „Eigenschaften zur Regeneration, Wiederherstellung oder zum Ersatz menschlichen Gewebes“ beinhalten, sind diese auch in den Anwendungsbereich der Verordnung eingeschlossen.[183] Mit dieser Verordnung wird somit auf spezifische Weise die regenerative Medizin abgedeckt, in welcher auch embryonale Stammzellen verwendet werden, die gerade aufgrund ihrer Totipotenz zur Züchtung von Organen und Geweben geeignet sind.[184] Daraus folgt, dass auch im Gesamtkontext der ATMP-Verordnung die Kommerzialisierung und Verwendung von embryonalen Stammzellen rechtlich auf Unionsebene zulässig ist, selbst wenn die Stammzellgewinnung zu Therapiezwecken die Zerstörung von künstlich erzeugten Embryonen voraussetzt.[185]
Zunächst wird die europäische Forschungspolitik generell (1) thematisiert. Danach wird die Forschungsfreiheit im Rahmen der GRC (2) und daran anknüpfend in der EMRK (3) erläutert.
Nach Hans F. Zacher[186] ist Forschung einerseits Zweck in sich und andererseits Mittel zum Zweck. Denn im Falle der Forschung an humanem Material, wie beispielsweise menschlicher embryonaler Stammzellen anstelle von tierischen Zellen, können viel substanzhaltigere Resultate erhalten werden.[187] In diesem Zusammenhang ist die Diskussion über den Status und Schutz des pränatalen Lebens enorm wichtig, da diese neben der künstlichen Erzeugung von Embryonen, die für eine künstliche Befruchtung unentbehrlich ist, auch ihre Vernichtung zu Forschungszwecken umfasst.[188] Es darf auch nicht außer Betracht gelassen werden, dass neben den in vitro Embryonen auch genetisch reprogrammierte Klonembryonen existieren, deren Entwicklung bei Menschen viel erfolgreicher sind als bei den Tieren.[189] Aus diesen Gründen ist es von Bedeutung, dass ein einheitlicher europäischer Rahmen in der Forschung existiert. Während die Forschungspolitik für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl lediglich eine Aufgabe am Rande war, bildete sie für die Europäische Atomgemeinschaft einen wichtigen Kern.[190] Seither ist die Forschung ein wichtiger Bestandteil der europäischen Politik und keine Randerscheinung mehr.[191] Gemäß Art. 168 I UA 2 AEUV[192] ergänzt die EU die Politik der Mitgliedstaaten, spezifisch im Rahmen der Gesundheit, wobei die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung von Krankheiten sowie Gesundheitsinformation und Gesundheitserziehung gefördert werden. Folglich ist die Prävention von Human-krankheiten eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder der EU.[193] Aber nach Art. 168 VII 1 AEUV wird die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt.
Nach dem Wortlaut von Art. 13 S. 1 GRC sind Kunst und Forschung frei. Dabei ist unter ‚Forschung‘ ein sehr weiter Begriff zu verstehen, der neben vorbereitenden und unterstützenden Tätigkeiten auch die private Forschung und sonstige forschungsbezogene Aktivitäten enthält.[194] Dagegen wird die Forschungsfreiheit nicht explizit in der EMRK implementiert.[195] Der EGMR stützt diese aber indirekt auf Art. 10 EMRK (freie Meinungsäußerung).[196] Der in diesem Rahmen zentralisierte naturwissenschaftliche Forschungsbegriff enthält das eigenständige Experimentieren und das Erhalten von verwertbaren Ergebnissen.[197] Die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ist allerdings durch die vorliegend erläuterten kommunikativen Aspekte der wissenschaftlichen Betätigung nicht geschützt, da es sich bei der Embryonenforschung um eine nicht-kommunikative Forschungsbetätigung handelt.[198] Zwar wird die nicht-kommunikative Forschung in einigen Mitgliedstaaten geschützt, jedoch ist aufgrund der Schrankenregelung von Art. 10 II EMRK den Vertragsstaaten ein weiter Ermessensspielraum im Rahmen der kontroversen Embryonenforschung zuzubilligen.[199]
Gemäß Art. 179 I AEUV hat die EU das Ziel, ihre wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen durch die Schaffung eines europäischen Raums der Forschung zu stärken. Fraglich ist, ob es Förderungsvoraussetzungen (1) und Förderungsverbote (2) im Zusammenhang mit der Embryonenforschung gibt.
3.3.1 Förderungsvoraussetzungen für die...