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Schwindsucht

Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte

AutorUlrike Moser
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783957575869
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Jedes Zeitalter hat seine Krankheit. Und keine Krankheit prägte das 19. und frühe 20. Jahrhundert so sehr wie die Tuberkulose, damals bekannt als Schwindsucht. Ulrike Moser wirft anhand des zeitgenössischen politischen, medizinischen und kulturellen Umgangs mit dem Lungenleiden, das Tausende dahinraffte, einen neuen Blick auf die deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dabei rekonstruiert sie anschaulich, wie die Schwindsucht zunächst als schicksalhafte Krankheit der Genies, der Künstler und der Bohème verklärt wurde, deren Individualismus man damals wertzuschätzen begann. Sie lässt die dazu erschaffene Welt der Sanatorien wieder auferstehen und schildert ihren Niedergang, der mit der Massengesellschaft eintritt. So wird die Schwindsucht während der Industrialisierung zur Krankheit der zu Sauberkeit zu erziehenden »schmutzigen Proletarier« abgewertet. Angesichts der am Horizont stehenden Radikalisierung dieses Kampfes um den gesunden Volkskörper, der später im Nationalsozialismus zu Internierungslagern und Tötungen führte, kann Thomas Manns Schwindsucht-Roman »Der Zauberberg« als letzter Auftritt der morbiden Romantik des Einzelgängers und der Schwindsucht gelten.

Ulrike Moser, 1970 geboren, ist Historikerin und lebt in Berlin. Sie war Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeitung Die Woche. Heute schreibt sie vor allem für GEO Epoche.

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Leseprobe

Einleitung


Sie ist die Krankheit mit den vielen Namen: Schwindsucht, Phthise, Tuberkulose. Sie ist auch bekannt als Auszehrung, »Weiße Pest«, als die »Motten«.1 Mit aller Macht hat sie den Menschen über Jahrhunderte die Kräfte geraubt, den Gesellschaften ihren Stempel aufgedrückt und sie gezwungen, gegen sie und mit ihr zu leben – und sich ein Bild von ihr zu machen. Und so ist sie auch die Krankheit der vielen Deutungen, sich wandelnder Vorstellungen und Metaphern. Die an ihr Leidenden wurden verklärt, später verachtet, schließlich verfolgt.

Bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts war die Schwindsucht unheilbar, und ihre Diagnose bedeutete ein fast sicheres Todesurteil. Erst mit der Entdeckung eines Heilmittels nach dem Zweiten Weltkrieg begann sie allmählich ihren Schrecken zu verlieren.

Warum also über die Schwindsucht schreiben, die, obwohl nie wirklich verschwunden, als historisches Leiden wahrgenommen wird? Warum überhaupt über Krankheit nachdenken?

Niemand will krank werden. Und doch ist Krankheit eine Grunderfahrung des Lebens. Der Mensch ist ein körperliches Mängelwesen, »zum Umfallen geboren«, schrieb der spätmittelalterliche Arzt, Mystiker und Philosoph Paracelsus.2

Gesundheit ist ein Zustand, den wir kaum beachten und als Normalität wahrnehmen. Der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer beschrieb die Gesundheit als »geheimnisvolle[s] Etwas, das wir alle kennen und irgendwie gerade gar nicht kennen, weil es so wunderbar ist, gesund zu sein«.3

Wir erleben Gesundheit und Krankheit als Gegensätze, als polare Erscheinungen. Krankheit ist, wie Susan Sontag schreibt, »die Nachtseite des Lebens«.4 Ein Störfall, ein Affront, eine Entgleisung, widersinnig und behandlungsbedürftig. Sie bedeutet Demütigung, auf eine schwer erträgliche Körperlichkeit zurückgeworfen zu werden. Krankheit wird als Mangel wahrgenommen, als »existenzielles Defizit«.5 Niemals als Normalität.

Krankheit bedeutet Hilflosigkeit und Bedürftigkeit. Sie zwingt zu Ruhe und Untätigkeit und beschädigt dadurch unser Selbstbild und oft unsere Existenz. Die Krankheit macht den Kranken abhängig vom Beistand der Gesunden. Er selbst empfindet sich für die anderen als Last.

Der Abstand zu anderen Menschen vergrößert sich, manchmal unüberbrückbar. Die Welt des Kranken schrumpft, kreist um das tägliche Befinden, um Fortschritte und Rückschritte. Auch in den Augen seiner Mitmenschen ist der Leidende ein anderer, ein Fremder. »Der Kranke fühlt sich vom Gesunden verlassen, der Gesunde aber auch vom Kranken«, schrieb der schwindsüchtige Franz Kafka am 6. August 1920 an Milena Jesenská.6 Hans Castorp, der einfältige Held aus Thomas Manns Schwindsucht-Roman Der Zauberberg, bezeichnet sich als »der Welt abhanden gekommen«.7

Krankheit bedeutet, anders, abweichend von der Normalität zu sein. Gleichzeitig aber bietet sie auch die Legitimation für Verweigerung, Außenseitertum und Flucht aus der Normalität.8 Kranksein schafft einen privilegierten, vielleicht den einzigen von der Gesellschaft anerkannten Freiraum. Sie kann Flucht und Rettung vor alltäglichen Pflichten und den Zwängen des Alltags bedeuten. Eine Möglichkeit, sich der Verantwortung für Familie und Beruf zu entledigen, sich den Forderungen der Gesellschaft nach Leistung, Aktivität und Attraktivität zu verweigern. »Es ist ein Weg«, schreibt Susan Sontag, »sich von der Welt zurückzuziehen, ohne für diese Entscheidung die Verantwortung übernehmen zu müssen.«9

Zumindest eine Zeit lang. Denn vom Kranken wird erwartet, schnell gesund zu werden. Krankheit bleibt ein nur vorübergehend tolerierter Ausnahmezustand.

Über Krankheit nachzudenken, ist eine Form der Selbstvergewisserung und der gesellschaftlichen Prüfung. Wie mit Krankheit und Kranken umgegangen wird, gibt Auskunft über eine Gesellschaft und ihre Zeit, über Weltanschauungen und Werte, ihr Menschenbild. Krankheit ist nicht nur eine biologische Veränderung, ein persönliches Drama, sondern hat auch eine soziale, gesellschaftliche und historische Bedeutung.

Jedes Zeitalter hat seine signifikante Krankheit. Der österreichische Schriftsteller und Kritiker Karl Kraus fand 1920 dafür die Formel, »daß jede Epoche die Epidemie hat, die sie verdient. Der Zeit ihre Pest«.10

Die Krankheiten des Mittelalters waren Lepra und Pest, diese Epidemie schlechthin, und Symbol menschlicher Ohnmacht. Der verheerendste Pestzug begann um 1300. Von Asien aus breitete sich der »Schwarze Tod« über den Nahen Osten nach Nordafrika und Europa aus und verdrängte die Lepra als Heimsuchung. Zwischen 1346 und 1350 raffte sie ungefähr 20 Millionen Menschen dahin, was etwa einem Viertel der europäischen Bevölkerung entsprach – die größte Zahl von Todesopfern in der europäischen Geschichte, die von einer einzigen Epidemie gefordert wurde.11 Und das war bloß die erste Welle. Die Seuche kehrte periodisch wieder und verschwand erst nach 1720 aus Westeuropa.

Zur Krankheit der Frühen Neuzeit wurde die Syphilis. Im 16. Jahrhundert verbreitete sie sich in ganz Europa. Auch sie trug, ähnlich wie die Schwindsucht, eine Vielzahl von Namen. Bei den Franzosen hieß sie »Mal de Naples«, in anderen europäischen Ländern »Franzosenkrankheit«. Für die Polen war sie die »deutsche« Krankheit, für die Russen die »polnische«.12 Diese Geschlechtskrankheit war für rund 400 Jahre in Europa endemisch,13 sie beeinflusste die Alltagskultur ihrer Zeit. Die traditionellen öffentlichen Badestuben, die im Mittelalter ein wichtiger Teil der Alltagskultur gewesen waren, wurden geschlossen. Perücken, spanische Kragen, Handschuhe und Schönheitspflästerchen sollten die äußerlich sichtbaren Krankheitszeichen verdecken.14

Das 19. und das frühe 20. Jahrhundert waren das Zeitalter der Schwindsucht. Sie war das Leiden der Romantik und des Fin de Siècle. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die Sterblichkeit in Deutschland ihren Höhepunkt: Von 100 000 Menschen fielen jährlich 270 der Schwindsucht zum Opfer.15 In Wien war die Krankheit für bis zu ein Viertel aller Sterbefälle verantwortlich.16

Um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Schwindsucht die vorherrschende Krankheits- und Todesursache. Jedes Jahr tötete sie Zehntausende, Hunderttausende machte sie arbeitsunfähig. Wie ein schwarzer Schatten legte sie sich über ganze Familien, sie hinderte Menschen, ihr Leben zu gestalten, ihren beruflichen Weg zu gehen, Familien zu gründen. Denn die Schwindsucht traf vor allem junge Menschen. Für die Zeitgenossen war sie ein stets gegenwärtiges Unheil.

Krankheit ist nie wertfrei, steht niemals für sich. Krankheitsvorstellungen unterliegen dem historischen Wandel. Jede Epoche, jede Gesellschaft hat ihre medizinischen Deutungen, Vorstellungen von Leben, Tod und Leiden. Krankheiten sind kulturell, religiös, ideologisch, geistesgeschichtlich und politisch geprägt. Krankheiten sind Teil der Kultur, der Kunst und der Literatur.

Aus christlicher Sicht wurde dem Menschen körperliches Leid mit der Vertreibung aus dem Paradies aufgebürdet. Krankheit wurde seit dem Mittelalter als Stigma, als göttliche Strafe gedeutet, Heilung als Vergebung. Mit Bußexerzitien, Pilgerreisen, Prozessionen und Heiligenverehrung hofften die Menschen, Gottes Gnade zurückzuerlangen.

Lepra, der Aussatz, galt als Sündenstrafe. Weil sie lüstern waren, wurden die Leprösen von Gott gezüchtigt.17 Lepröse galten als »unrein«. Sie wurden aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen und in eigens geschaffenen Asylen, sogenannten Leprosorien, von der Gesellschaft isoliert. Bei der Syphilis verbanden sich irdische Lüste und Krankheit. »Amors vergifteter Pfeil«, das tödliche Venusgift, traf zuerst die Geschlechtsorgane, der Menschwurde dort gezeichnet, wo er gesündigt hatte.18 Noch um 1900 hielt sich die Vorstellung, dass ein Verstoß gegen die bürgerliche Moral, dass »Unzucht«, außereheliche Sexualkontakte, diese Krankheit auslösten. Syphilis galt als moralisch stigmatisierte Krankheit, erniedrigend und vulgär.19

Mit der Romantik begann eine Umdeutung und Aufwertung von Krankheit, sie fand als existenzielle Erfahrung ihren Platz im Leben. In dieser Transformation kam vor allem der Schwindsucht eine entscheidende Rolle zu: Krankheit wurde als ein über die Gleichförmigkeit des Lebens erhebender Ausnahmezustand gedeutet. Die Tuberkulose galt als schicksalhafte Krankheit der Genies, der Künstler, der Liebenden und später der Bohème.20 Nur sie konnte zur verklärten Krankheit werden.

Denn sie brach nicht plötzlich mit...

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