Heimwärts
Oswald Oelz, Bulle genannt, erwacht, als das erste Licht durch die winzigen Fenster der Sherpa-Hütte fällt. Rings um ihn stehen alle auf, gürten ihre Gewänder. Die Männer ziehen Mäntel an. Im Lehmherd brennt Feuer. Es ist Morgen. Bulle hat, kaum daß er sich am Abend zuvor auf der schmalen Pritsche am Fenster ausgestreckt hatte, zu schnarchen begonnen. Er ist zwar dann und wann kurz aufgewacht, im übrigen aber hat er die ganze Nacht tief geschlafen. Als er jetzt auf seine Uhr schaut, ist es sieben. Wir sehen uns an und setzen uns auf. Als ob ein neues Leben beginnen würde. Eine Stunde später müssen wir in Syangpoche sein. Wir wollen das Flugzeug nicht verpassen, das uns zurück nach Kathmandu bringen soll.
Bulle gähnt mit weit aufgerissenem Mund. Dann holt er seine Hose aus der Fensternische und blickt hinaus in die Landschaft. Es ist ein kalter, klarer Herbsttag. Reif liegt auf den Wiesen und Schnee auf den Bergen im Süden. Yaks werden westwärts hinunter nach Namche Bazar getrieben. Eine Zeitlang noch hören wir das Gebimmel ihrer Glocken.
Bulle spricht kein Wort. Es ist, als murmle er nur in seinem Herzen. In dieser Weise reden wir oft, wenn die gemeinsame Zeit in den Bergen zu Ende geht. Jetzt aber, nachdem wir unsere Ama-Dablam-Expedition abgebrochen haben, scheint Bulle bedrückt. Wenn er an die Heimreise denkt, ist er unzufrieden mit sich selbst. Nicht, weil wir den Gipfel des Ama Dablam nicht erreicht haben; vielleicht, weil er sich nicht voll verausgabt hat. Wann würde sich die nächste Gelegenheit dazu bieten? Bulle freut sich auf seine Arbeit als Arzt im Spital, aber er hat kein neues, greifbares Abenteuer vor Augen. Das weckt in ihm ein Gefühl von Einsamkeit. Zu Hause in Zürich lebt er allein.
Viele sagen, der Ama Dablam sei der schönste Berg der Welt. Riesig erhebt er sich hinter unserem Nachtquartier im Gegenlicht; er sieht aus wie eine Frau mit ausgebreiteten Armen.
Hier in Solo Khumbu sollte man bleiben können, eine Hütte bauen, jahrelang leben. Das Sherpa-Land strahlt Ruhe und Gleichmut aus. Das kleine Flugzeug, das auf der steinigen Landepiste in Syangpoche steht, ist ausgebucht. Es hat einige Touristen gebracht und wartet nun auf andere Gäste des »Everest View«-Hotels, die eiligst in die Hauptstadt zurückgeflogen werden müssen. Da kommen sie hintereinander: mit Koffern beladene Yaks, gefolgt von einer dürren, alten Frau, auf zwei Skistöcke gestützt, mit grünlich gefärbtem Haar. Hinter ihr tragen Sherpas einen Höhenkranken auf einer Bahre.
Einmal den Everest sehen und sterben, denke ich spöttisch. Unter den Neuankömmlingen ist eine üppig beringte andere Grünhaarige, etwa Mitte Sechzig und offenbar damit beschäftigt, mit vollen Händen das Geld auszugeben, das ihr Mann einst zusammengebracht hat. Sie fotografiert ununterbrochen. Ich staune über ihre Ausdauer. Lauthals begeistert sie sich für das Hotel, das Flugzeug und die Sauerstoffausrüstung.
Was, so frage ich mich, tun Leute wie diese Frau in Nepal?
Vor 30 Jahren war dieses Land noch nahezu unerreichbar und für Fremde verschlossen. Die höchsten Berge der Welt, jahrhundertelang natürlicher Schutz der Himalajastaaten gegen Eindringlinge, haben im letzten Jahrzehnt viele hunderttausend Bergsteiger und Trekker angezogen. Das hat zu einem schnellen, ja dramatischen Wandel geführt: Der Tourismus ist heute die wichtigste Einnahmequelle, Nepal soll die »Schweiz Asiens« werden.
»Wir wissen, daß unsere Berge eine Attraktion für die Welt darstellen«, sagt Birendra Bir Bikram Shah, der König, der Nepal mit fast absolutistischer Macht regiert. »Die Welt ist eingeladen, hierherzukommen und sie zu genießen.«
Ein dutzendmal bin ich in Nepal gewesen. Ich habe gelernt, mich in diesem Land so zu verhalten, wie es die Einheimischen tun. Nur den Sechs-, Sieben- und Achttausendern gegenüber bin ich Europäer geblieben: zielstrebig und ehrgeizig.
Am Abend gehen Bulle und ich ins »Everest View« zum Essen. Dieses japanische Hotel auf knapp 4000 Meter Meereshöhe ist seit Jahren ein Mekka für europäische und amerikanische Wohlstandsbürger. »Den Himalaja erleben«, heißt es im Werbeprospekt.
Bei den Gesprächen am offenen Feuer schauen wir immer wieder durch die großen Panoramafenster hinaus zum Lhotse und zum Everest. Es ist schon ein großartiges Gefühl, den höchsten Berg der Welt bestiegen zu haben. Wir haben es 1978 beide geschafft und zwinkern uns zu.
In den Hotelzimmern liegen Sauerstoffmasken, das Haus ist geheizt. Draußen in den Rhododendronwäldern fegt der Wind durch die Blätter. »Der Everest, eine Idylle!«
Als der Hotelmanager seinen Gästen erzählt, daß Bulle und ich den Everest bestiegen haben, werden wir mit Fragen überschüttet. Auf die erste – »Warum wagen Sie ein so gefährliches Abenteuer?« – meint Bulle lakonisch: »Jeder braucht ein bißchen Exklusivität in einer Zeit, in der mit Geld sonst alles zu haben ist.«
»Und wie steht es mit der Angst?« Diese Frage geht an mich.
»Die Angst ist eine ständige Begleiterin. Ganz ohne Angst lebt keiner aktiv. Vor kritischen Augenblicken verdichtet sie sich, etwas ganz Natürliches. Man kann diese Angst, hinunterzufallen oder vom Sturm hinweggefegt zu werden, nicht unterdrücken, auch wenn man sich bewußt ist, daß Sterben zum Leben gehört.«
»Würden Sie auch auf Achttausender steigen, wenn Ihre Leistungen der Öffentlichkeit gleichgültig wären?«
»Mit fünf Jahren habe ich angefangen, auf Berge zu klettern, und habe in den ersten 20 Jahren meiner Bergsteigerei 2000 Berge in Europa bestiegen. Kein Mensch hat davon gesprochen, und doch hat es mir Spaß gemacht.«
»Was aber treibt Sie zu immer neuen Höchstleistungen?«
»Als Bub bin ich in den heimatlichen Bergen herumgestiegen. Mit dem Fahrrad fuhr ich in die Dolomiten, später mit einem Motorroller in die Schweiz zur Eigernordwand und zum Matterhorn. Heute muß ich, um die gleiche Spannung zu erleben, zum Everest oder zum Südpol.«
»Laufen Sie nicht auch einer Illusion hinterher?« forscht einer der Hotelgäste, Psychologe von Beruf, weiter.
»Schon möglich«, sagt Bulle, der aufgestanden ist und zum Aufbruch drängt. »Jede Gesellschaft schminkt sich zum eigenen Untergang mit Illusionen.« Die Leute schütteln den Kopf. »Ein exzentrisches Hobby«, murmelt einer. Bulle grinst. Wir verabschieden uns und gehen hinaus in die Nacht.
Als wir am nächsten Nachmittag in Syangpoche erfahren, daß wir immer noch auf der Warteliste stehen, entschließen wir uns, zu Fuß zum nächsten Flugplatz nach Lukla zu marschieren, für Trekker eine Etappe von zwei Tagen. Wir müssen es in einem schaffen. Das letzte Stück legen wir bei Dunkelheit zurück. Ausgepumpt und mit schmerzenden Gliedern kommen wir in Lukla an. Erschöpft lassen wir uns im Hotel der »Sherpa-Cooperative« nieder. Wir verschlingen ein paar Yak-Steaks und genießen bei einer Flasche Bier die wohlige Wärme.
Früh am nächsten Morgen gelingt es uns, zwei Tickets für die erste Maschine nach Kathmandu zu ergattern. Unser beharrliches Drängen geht dem Mann mit der Warteliste derartig auf die Nerven, daß er alles tut, um uns mit der ersten Maschine loszuwerden. Wir schmunzeln. Das hat geklappt. Bulle und ich sind so unter Zeitdruck, daß wir bereit gewesen wären, eine Passage für den zehnfachen Preis zu ersteigern: Ich muß pünktlich zu einer Vortragstournee in Deutschland sein, Bulle muß zurück zu seiner Arbeit in der Klinik.
Während wir auf der steinigen Terrasse am oberen Rand des Flugfeldes auf die Maschine warten, kommt Bulle mit zwei jungen kanadischen Frauen ins Gespräch. Sie setzen sich während des Fluges zu uns, erzählen von ihrer Wanderung durchs Sherpa-Land. Als unter uns die Landschaft vorbeizieht – frisch gerodete Wälder, kleine Dörfer, mäandernde Bäche mit schmalen Steigen daneben –, verabreden wir uns vage für den Abend, vergessen das Rendezvous aber in dem Augenblick, als wir in Kathmandu Stadtboden betreten.
Wir haben eine Menge zu tun. Unsere Flüge nach Europa müssen gebucht werden, und die noch verbleibende Zeit wollen wir nutzen, uns um Genehmigungen für weitere Expeditionspläne zu kümmern.
In Kathmandu gibt es eine Frau, die auf diesem Gebiet so ziemlich alles weiß: Elizabeth Hawley, eine Journalistin, die seit über 20 Jahren in der Stadt lebt. Ich besuche sie in ihrem Büro bei »Tiger Tops«, und sie erzählt mir sofort, daß Naomi Uemura, der berühmte japanische Bergsteiger, die Erlaubnis erhalten hat, den Mount Everest im Winter 1980/81 im Alleingang zu besteigen. Das darf nicht sein! Diese Idee gehört mir! Seit einem Jahr trage ich sie mit mir herum. Innerhalb von Sekunden reift nun ein konkreter Plan in mir. Ich muß Naomi Uemura schnell handeln.
Schon wenige Wochen nach meiner Rückkehr vom Nanga-Parbat-Alleingang 1978 habe ich gewußt, daß auch eine Besteigung des Mount Everest allein möglich ist. Dann hat sich dieses Wissen zur fixen Idee verdichtet. Überzeugt davon, daß mir niemand zuvorkommen würde, wollte ich den konkreten Versuch bis Mitte der achtziger Jahre aufschieben. Jetzt stehe ich da und frage mich, wie ich von heute auf morgen zu einer Solo-Genehmigung für den Everest kommen soll. Mein ganzer bergsteigerischer Ehrgeiz ist erwacht. Der höchste Berg der Welt ist für einen Bergsteiger allein der absolute Höhepunkt!
Aber wie kann ich dem ausdauernden Uemura, der allein im Hundeschlitten bis zum Nordpol vorgedrungen ist und auf fünf der sieben höchsten Berge aller Kontinente gestanden hat, zuvorkommen? ist nicht nur...