Türkei
Kilometer 4569
Ein Hauch von Orient
Thomas
2010
Am 15. Januar erreichen wir knapp dreißig Kilometer hinter Alexandroupolis die griechisch-türkische Grenze. Gleich werden wir die Europäische Union verlassen. Unser erster richtiger Grenzübertritt steht bevor. Haben wir alle wichtigen Dokumente griffbereit? Wie sollen wir Einreiseformulare ausfüllen, wenn wir kein Türkisch können?
Angespannt halte ich neben dem ersten Grenzhäuschen, und wir steigen aus. Vor uns öffnet sich ein Fenster. Ein junger Beamter in Uniform streckt mir seine Hand entgegen. Unsicher zieht Sabine die Pässe aus der Dokumentenmappe und reicht sie mir, ich gebe sie weiter an den Beamten.
»Nein«, winkt dieser ab, »die Pässe will ich nicht.«
Wieder streckt er mir die Hand entgegen und blickt mich erwartungsvoll an.
Ich zögere, sehe ihn irritiert an.
Er beugt sich so weit es geht aus seinem Häuschen, streckt seine Hand noch ein Stückchen weiter in meine Richtung und sagt mit freundlicher Stimme: »Hoşgeldiniz!«
Endlich begreife ich: Er möchte mir die Hand schütteln. Was bin ich aber auch begriffsstutzig! Es folgt ein kräftiger Händedruck. »Hoşgeldiniz. Willkommen in der Türkei!«
Es kann so einfach sein. Eine kleine Geste mit großer Wirkung. Meine Unsicherheit ist verflogen. Mit gespannter Neugier durchlaufen wir die kurze Grenzabwicklung. Meine Bedenken waren unbegründet, die Einreiseformulare sind zweisprachig auf Englisch und Türkisch. Wenn wir irgendetwas nicht verstehen oder nicht wissen, an welchen Schalter wir als Nächstes müssen, wird uns von allen Seiten geholfen. Bereits nach einer knappen Stunde rollen wir über türkische Straßen in Richtung Istanbul.
»Geschafft«, lächelt Sabine, packt die Unterlagen wieder ins Handschuhfach, legt die Füße aufs Armaturenbrett und macht es sich bequem. Doch lange kann sie nicht so entspannt sitzen. Um die Orientierung zu behalten, verwenden wir ein kleines GPS-Gerät. Warum wir uns für dieses Modell entschieden haben, weiß ich nicht mehr, doch schon jetzt verfluche ich es. Das kleine Display gibt keinerlei Überblick über den Verlauf der Strecke, und die große Datenmenge in Städten überfordert es komplett. Bis sich die Karte endlich fertig aufgebaut hat, sind wir längst falsch abgebogen. Das ist mit einem Pkw schon lästig, aber wie soll man mit einem Lkw in engen Altstadtgassen wenden? Oder im dichten Verkehr die gesamte Strecke rückwärtsfahren? Solche Situationen so gut es geht zu vermeiden, erfordert von Sabine mindestens so viel Konzentration wie von mir. Geduldig versucht sie, die winzige Karte zu lesen. Ich versuche, auf ihre Anweisungen zu reagieren.
»Jetzt auf die linke Spur wechseln!«
»Hier?«
»Ja. Moment. Nein, halt.«
»Was jetzt?«, rufe ich genervt.
»Doch nicht links. Wir müssen rechts weg. Hier!«
Sabine streckt ihren Kopf aus dem Beifahrerfenster, winkt wie wild mit dem rechten Arm und zeigt dem Autofahrer neben uns an, dass wir die Spur wechseln werden.
Im Rückspiegel sehe ich, dass der Fahrer bremst und uns einscheren lässt. Sabine fällt zurück auf ihren Sitz und widmet sich wieder dem GPS: »Jetzt links!«
»Wo?«
»Hier!«
Ich steige auf die Bremse, die Autos hinter uns hupen. »Kann ich die Anweisungen nicht ein klein wenig früher haben?«, schimpfe ich angespannt, obwohl ich weiß, wie schwer es ist, mit dem Gerät die richtige Abzweigung zu finden.
Der Verkehr in Istanbul ist erheblich trubeliger, als wir das gewöhnt sind. Über verstopfte Stadtstraßen rollen wir ins Zentrum. Zwischen Altstadt und Bosporus finden wir einen öffentlichen Parkplatz. Nicht ruhig, nicht schön, aber praktisch. Ich drücke auf den Abstellknopf für den Motor. Das Brummen verstummt, und auch draußen scheint der Verkehr für einen Moment innezuhalten. Als würden sie gemeinsam einen Kanon anstimmen, erklingen von allen Seiten nach und nach Gesänge der Muezzine und breiten einen Klangteppich über der Stadt aus. Wir stehen auf einem Parkplatz neben einer vierspurigen Straße. Neben uns Wohnhäuser, Hafenanlagen, Verkehrsschilder und eine Ampel. Nichts Ungewöhnliches, doch die Stimmen der Muezzine haben eine solche Kraft, dass es der Situation jede Banalität nimmt und mir zeigt, dass wir jetzt dort sind, wo wir hinwollten: in der Fremde.
Am nahe gelegenen Hafen sitzen Angler, die ihre Schnüre in die Meerenge zwischen Europa und Asien hängen lassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tun, kommt mir vollkommen fehl am Platze vor. »Mensch! Hier treffen sich Europa und Asien! Wie großartig, an diesem besonderen Platz zu angeln«, möchte ich ihnen zurufen. Natürlich albern. Sie sind jeden Tag hier, und ihre Begeisterungsfähigkeit für den Ort entspricht wohl der eines Münchners, der jeden Tag auf dem Weg zur Straßenbahn am Hofbräuhaus vorbeiläuft und nicht ebenso entzückt darüber ist wie der japanische Tourist aus Osaka, der es soeben zum ersten Mal sieht.
Sabine und ich sind fasziniert. Wir sitzen auf einer niedrigen Betonmauer und starren auf die andere Seite des Bosporus. Dort liegt es: Asien. Einen knappen Kilometer entfernt. Häuser mit flachen roten Ziegeldächern staffeln sich einen sanften Hügel hinauf. Einige Minarette und eine große, im Wind wehende türkische Fahne überragen die Häuser. Istanbuls asiatischer Teil glänzt nicht in bunten Farben wie auf den Postkarten der Souvenirläden. Im winterlichen Nebel erscheint alles eher trüb und grau, denn es regnet. Es regnet von früh bis spät, und es ist kalt. Schneeflocken mischen sich in den Dauerregen. Istanbul könnte so schön sein, doch jetzt, Mitte Januar, wirkt alles etwas trostlos.
Wir besuchen die Blaue Moschee, die auffällig nach Fußkäse riecht, und schlendern durch den quirligen Basar, doch die meiste Zeit hangeln wir uns von Teestube zu Teestube, um der Kälte zu entfliehen. Dass Sabine dort meist die einzige Frau ist, stört weder sie noch die Einheimischen. Wir schlürfen süßen Schwarztee und sehen beim Okey zu. Ein Spiel mit kleinen nummerierten Spielsteinen, das ich von zu Hause unter dem Namen Rummikub kenne. In den Teehäusern wird mit solcher Geschwindigkeit gespielt, dass ich nur staunen kann. Ein junger Mann mit dunklem Haar, braunem Hemd und einem verschmitzten Lächeln auf seinem schmalen Gesicht sitzt am Tisch neben uns und dreht die kleinen Spielsteine mit unbegreiflicher Geschicklichkeit. Egal wie sehr ich mich auf den Spielstein zwischen seinen Fingern konzentriere, ich habe keine Chance, etwas zu erkennen. Doch er kennt die Zahl auf der Unterseite bereits, noch bevor er den Stein zieht und mit einem lauten Klacken auf das kleine Holztableau vor sich stellt.
Wir schlendern lange durch die Gassen und erst spät am Abend zurück zu Paula. Ich bin aufgeregt, denn morgen verlassen wir Europa.
Kilometer 4888
Ankommen im Reisen
Sabine
Mit jedem Meter steigt meine Vorfreude. Mit einem lauten »Tack-Tack« rollen wir über die letzte Fuge der Brücke über den Bosporus, und Paulas Räder drehen sich auf einem neuen Kontinent. Wir sind tatsächlich mit der alten Kiste bis nach Asien gefahren.
Ein neuer Kontinent, doch noch immer die gleiche Stadt. Weitere 25 Kilometer erstreckt sich der asiatische Teil von Istanbul vor uns, dann führt die Autobahn aus dem Stadtgebiet heraus. Wir biegen auf eine Nebenstraße nach Norden ab, die zur Schwarzmeerküste führt.
Aus der Teerstraße wird nach einer Stunde ein Feldweg, aus dem Feldweg eine Fahrspur, die schließlich vor ein paar von Sträuchern bewachsenen Dünen endet. Mehrere Ruinen ohne Dächer stehen davor, die es offensichtlich nie zu ihrer Bestimmung als Ferienanlage geschafft haben. Eine hellbraune kugelrund gefressene Kuh mit kurzen schwarzen Hörnern blickt mich verdutzt an, als wollte sie sagen: Ich glaube, ihr seid hier falsch.
Ich bin müde. Der stete Regen hat bereits seinen Weg durch das Dach ins Fahrzeuginnere gefunden. Je nachdem wie wir parken, tropft es entweder ins Bad oder aufs Bett. Bad ist nicht schlimm, dann läuft es durch den Ablauf der Dusche wieder hinaus. Heute tropft es wieder auf das Bett, das ist deutlich schlechter. Thomas klettert aufs Dach und dichtet die Stellen notdürftig mit Klebeband ab.
Ein paar Tage tasten wir uns an der Schwarzmeerküste entlang, doch der stete Schneeregen treibt uns nach Süden.
Wir verlassen die Küste, lassen Ankara links liegen und sind unterwegs nach Kappadokien, das für bizarre kegelförmige Gesteinsformationen, Höhlenwohnungen aus der Bronzezeit und zahlreiche Felsenkirchen bekannt ist. Der Himmel ist strahlend blau, die Luft ist klar und stechend kalt. Auf der Suche nach einem schönen Fleckchen für die Mittagspause biegen wir von der Hauptroute ab und folgen einer Schotterpiste zu einem abgelegenen Stausee. Vor uns stehen zwei Männer auf dem Weg, vielleicht Anfang sechzig, Gewehre über die Schulter gehängt. Als wir näher kommen, halten sie uns freudig winkend auf. Mit einer unverkennbaren Bewegung, bei der sie ein gedachtes Teeglas zwischen Daumen und Zeigefinger an den Mund führen, bitten sie uns in ihr Haus. Ich frage mich, wie wohl die Frauen über diese spontanen Einladungen ihrer Männer denken. Schließlich bleibt die Arbeit an ihnen hängen, und sie werden vorher ja nicht einmal gefragt.
Ismaels Frau allerdings scheint über unseren Besuch sehr erfreut. Sie läuft uns mit offenen Armen entgegen, und Ismael stellt sie als Semra vor, indem er sich schmunzelnd würdevoll vor ihr verbeugt. Die beiden leben in einem kleinen Steinhaus, das aus einem Vorraum und einem etwa gleich großen, durch einen Holzherd...