Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken1
Seelenruhe – ein altes, unmodisches Wort. Wer braucht so was heute noch? Ruhe ja, gelegentlich, aber Seele? Unrast, Hektik, Ungeduld – sind das nicht die leistungssteigernden Drogen heute? »Der Feind ist der Schlaf« war die Überschrift in einem Feuilletonartikel in der Süddeutschen Zeitung über »Kreativität«. Und nicht nur der Autor dieses Beitrags fragte sich angesichts der ständigen Selbstüberforderung der »kreativen Klasse«, wer eigentlich dann noch die Alltagsarbeiten verrichten soll, wenn alle sich dem Kreativitätszwang unterwerfen.
Problematisch ist ja nicht, dass die sogenannten Kreativen sich selbst Ziele stecken, die es zu erreichen gilt, sondern der Grad der Selbstausbeutung und des unermüdlichen Antriebs – Adornos Albtraum. Die kapitalistisch gewendete »Ressource Kreativität« ist nämlich nichts anderes als die Bemäntelung des ständigen Leistungsdrucks, gespeist von einer andauernden Unzufriedenheit und Unersättlichkeit. Und wer sich nicht zur »kreativen Klasse« zählt oder zu ihr gerechnet wird, optimiert sich zumindest selbst.
Dass unter diesen Bedingungen Ruhe, Seelenruhe zumal, als lästig, ja kontraproduktiv empfunden wird, verwundert kaum. »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin« ist etwa so eine beliebte Formel der Aktionsfetischisten. Wer schläft, sündigt zwar nicht, aber er bringt auch sonst nichts zustande, soll das heißen. Das aber gilt eigentlich als die Sünde schlechthin. Natürlich stellt sich die Gegenfrage, ob etwa derjenige tatsächlich Bleibendes schafft, der ständig »auf Achse« ist, »am Rad dreht«, »auf Hochtouren läuft«. Und – ist Seelenruhe gleichbedeutend mit Schlaf? Oder mit »tätigem Nichtstun«? Oder nicht doch vielmehr Unerschütterlichkeit, eine Haltung, die ja durchaus mit einem aktiven, erfüllten Leben in eins gehen kann. Das Prädikat »demutsvoll«, mit dem Wilhelm Busch Seelenruhe in der »Frommen Helene« ironisch belegt (»O wie lieblich sind die Schuhe / demutsvoller Seelenruhe«),2 vermutet man nach der Tradition des Begriffs nicht unbedingt. Hier ist Seelenruhe vornehmlich mit Bedächtigkeit verknüpft. Wer seelenruhig agiert, handelt überlegt, ja, überlegen, nicht übereilt, kaltblütig, nicht heißblütig. Er ist »ganz bei sich selbst«.
Das führt zu der Frage, ob Seelenruhe als persönliches Ziel nicht egoistisch sei. Ist nicht vielmehr Engagement gefragt? Kampf gegen Ungerechtigkeit und Zumutungen, andauernde Bedrohungen? Ständige Verbesserung der Welt gemäß dem Marx’schen Diktum, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, es aber darauf ankomme, sie zu verändern?3 – Drehen wir den Spieß um. Und fragen uns, ob dieser ständige »Kreativitätszwang« oder auch die fortdauernde Optimierung nicht einer tiefen Ablehnung der Welt entspringen. Immer alles verbessern wollen, sich nicht einverstanden erklären mit dem, was ist. Es dauernd besser zu wissen, was wirklich gut ist (für mich und für andere), was »angesagt« ist. Man sollte, es müsste doch … Aber tut uns und den anderen das auch gut? Im Grunde schwingt in der modernen Form »Kreativität« und Selbstoptimierung ein permanentes Beleidigtsein mit: Die Welt ist eine einzige Zumutung. Ich hab was Besseres verdient. Es geht ums Ganze. – Ja, aber von dem bin ich nur ein Teil, und was heißt das, wenn’s »ums Ganze« geht? Geht es um alles oder um Ganzheit? Und gilt dann nicht der alte Satz von Aristoteles, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile? Und im Umkehrschluss, dass jeder seinen Anteil an dem Ganzen hat, auch er an dem Mehr beteiligt ist, das sich auch in seiner Zugehörigkeit zum Ganzen ausdrückt? Das Ganze haben oder ganz werden – das scheint die Alternative zu sein. Seelenruhe kommt aus einer grundsätzlichen Bejahung der Welt beziehungsweise einer Zustimmung zu meinem In-dieser-Welt-Sein.
Die Welt bejahen – das hört sich verdächtig nach Schönfärberei und »positivem Denken« an. Aber es besteht ein Unterschied zwischen »bejahen« und »sich etwas zu eigen machen«. Das eine ist eine Frage der Perspektive, das andere eine Frage des Umgangs damit. Wir müssen nicht annehmen – wie Gottfried Wilhelm Leibniz –, dass wir in der »besten aller möglichen Welten« leben. Es genügt, »unseren Garten zu bestellen«, wie Voltaire am Ende seiner Satire Candide über Leibniz’ Optimismus schreibt.
Der Welt – und das heißt hier vor allem: den anderen – zugestehen, dass sie das Recht haben, nicht so zu sein, wie wir es erwarten, dass wir selbst uns verändern dürfen, anders sein dürfen – und die anderen auch. »Du darfst dein Ändern leben.« Klingt schon mal anders als »Du musst dein Leben ändern« – leichter, beschwingter, befreiter, beruhigender. Ein Blick, der nicht voreilig urteilt, sondern lediglich fragt: Ist das jetzt angemessen für mich? Und aus einer Verneinung nicht den falschen Schluss zieht, dass das, was mir nicht angemessen scheint, auch nicht existieren, vorkommen, passieren darf. Ein solcher Umgang mit der Welt – und auch mit uns, die wir Teil von ihr sind – wäre tatsächlich »demutsvoll«. Und auch dieses »unmoderne« Wort, in dem nur scheinbar immer etwas Unterwürfiges, Kriecherisches mitschwingt, erführe dadurch eine Rehabilitierung. Demütig kann nämlich nur sein, wer ein gesundes Selbstwertgefühl hat.
Sich dafür zu entscheiden, auf diesem Weg aus dem ständigen »Auf und Ab« von Wunsch und Wirklichkeit, Frust und Lust herauszukommen, ist die Absicht dieses Buchs. Auf dem Weg zu unserer »inneren Mitte« werden wir – hoffentlich – immer befreiter und heiterer werden. Das Gespräch mit aktuellen Denkern und Denkern vergangener Epochen soll uns dabei helfen, diese Welt und uns als ihren Teil attraktiv zu finden. Anziehung statt Abstoßung. Eine Bestandsaufnahme im ersten Kapitel vornehmlich anhand von Seneca, ein paar lebenskluge Weisheiten als »Medizin« aus der Hausapotheke von Dr. Epikur im zweiten Kapitel, die Bedeutung von Freundschaft und Selbstfreundschaft im Anschluss daran bilden den Einstieg. Und schon sind wir »mittendrin, statt nur dabei«. Im vierten Kapitel erlernen wir die spielerische Seite des gesunden Zweifels mit Montaigne und Schiller, um dann im letzten Kapitel »gelassen in die Ausgelassenheit« zu gelangen. Dazwischen gibt es Begegnungen mit anderen Dichtern und Denkern, die Lebenskluges auf den Punkt gebracht haben, von der Antike bis zur Moderne.
Ein paar Worte noch zur Konzentration auf abendländische Denktradition und Geschichte. Zum einen: Das »Abendland« ist nicht deckungsgleich mit dem modernen »Westen« oder dem, was wir politisch heute darunter verstehen. Es ist vielmehr jener Kulturraum des »alten Europa« mit seinen unmittelbaren Nachbarn in Nordafrika und dem Vorderen Orient, das vor einigen Jahren von einem wild gewordenen westlichen (!) Politiker mit diesem abfällig gemeinten Prädikat belegt wurde, der damals am liebsten auch den Rest der Welt zu seinem persönlichen Rumsfeld gemacht hätte. Es ist tatsächlich die Wiege der westlichen Zivilisation, wobei wir die Rolle, die der Islam im frühen Mittelalter für die Bewahrung und Überlieferung des antiken Erbes gespielt hat – zum Beispiel bei der Rezeption der Philosophie von Aristoteles –, nicht hoch genug einschätzen können.
Dass der Schwerpunkt unserer Überlegungen hierauf liegt, hat nichts mit einer Ablehnung der vielfältigen und bereichernden An- und Einsichten anderer Kulturen zu tun. Eher soll hiermit einer Blickverengung begegnet werden, der wir selbst immer gern unterliegen – nämlich dass »der Prophet im eigenen Lande« nichts gilt. Der leichtfertige Umgang, ja, die Ignoranz, mit der dem jahrtausendealten abendländischen geistigen Erbe in heutiger Zeit begegnet wird, die einseitige Verengung des modernen Bildungsbegriffs auf Effizienz und Verwertbarkeit, die dem Ursprung unseres Wortes »Schule« hohnspricht – »Schule« stammt vom griechischen schol? ab, was »Muße, das Innehalten (bei der Arbeit)« bedeutet –, macht es erforderlich, diese abendländische Tradition wieder in Erinnerung zu rufen, nicht ein vordergründiges und fruchtloses Gegeneinanderausspielen von Kulturen.
Das verbietet sich – zweitens – ohnehin, wenn wir die Ursprünge betrachten. Der Philosoph Karl Jaspers hat in seinem Werk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte4 für die Epoche vom 8. bis etwa 2. vorchristlichen Jahrhundert den Begriff »Achsenzeit« geprägt. Laut seiner Überzeugung haben in dieser Epoche in vier voneinander unabhängigen Kulturräumen bedeutende geistige und technische Umwälzungen stattgefunden, die bis heute nachwirken: China, Indien, der Orient mit Persien und Israel/Judäa und der Okzident.
In China, wo Konfuzius und Laotse wirkten, entstanden in dieser Epoche alle Richtungen der chinesischen Philosophie (»Zeit der Hundert Schulen«).
In Indien, das in der Zeit zwischen 500 und 300 v. Chr. von den Lehren Buddhas geprägt wurde, waren bereits mit den älteren Upanischaden 800–600 v. Chr. die Anfänge der Naturphilosophie und des Hinduismus entstanden.
In Israel brachten die biblischen Propheten mit ihren Weissagungen ein wesentliches Moment der geistigen Schöpfung der Achsenzeit hervor. Nach einem Diktum des Theologen und Professors für das Alte Testament Theodor Seidl sind sie keine Wahrsager, sondern »Wahrheitssager« und zuständig für die »ungeschminkte Wahrheit«, mit einem Scharfblick für gesellschaftliche Missstände und ihre desaströsen Konsequenzen ausgestattet. In Persien entwarf Zarathustra als...