|23|Kapitel 2
Selbstverletzendes Verhalten als klinisches Störungsbild
In diesem Kapitel soll aufgezeigt werden, welche vielfältigen Erscheinungsformen selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen annehmen kann, und wie sich diese Formen anhand verschiedener Kriterien ordnen und klassifizieren lassen.
2.1 Klinische Erscheinungsformen
Die Vielfalt selbstverletzender Verhaltensweisen. Selbstverletzendes Verhalten findet sich bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, und es kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Beispiele aus der klinischen Praxis zeigen, dass selbstverletzendes Verhalten alle Körperteile betrifft und auf viele unterschiedliche Arten und Weisen durchgeführt werden kann. So berichtet Favazza (1992) von Selbstverletzungen an nahezu allen denkbaren Stellen des Kopfes, des Körpers und der Gliedmaßen. Neben den eigenen Händen, Fäusten, Fingernägeln und Zähnen können im Prinzip alle verfügbaren Gegenstände als Instrumente zur Selbstverletzung eingesetzt werden. Nicht nur offensichtlich geeignete Instrumente wie Messer oder Rasierklingen kommen zur Anwendung, sondern auch harmlos erscheinende Objekte wie Schmuck, Stifte oder Nagelclips können gegen den eigenen Körper eingesetzt werden (Ferentz, 2001). Besonders verbreitet sind Verletzungen der Haut, vor allem an den Gliedmaßen. Die Verletzungen können zum Beispiel durch Schnitte mit Messern, Rasierklingen, Glasscherben oder anderen scharfen Gegenständen, durch Beißen, durch Kratzen mit den Fingernägeln, durch Nadelstiche, durch Verbrennungen mit Zigaretten oder durch Verbrühungen mit heißer Flüssigkeit herbeigeführt werden (Bjärehed & Lundh, 2008; Cerutti, Presaghi, Manca & Gratz; 2012; Murray, Warm & Fox, 2005). Aber nicht nur die Haut, auch das Körperinnere wie die Atemwege und Verdauungsorgane können durch die Einnahme, das Einatmen oder die Injektion von Substanzen, Flüssigkeiten oder Gasen geschädigt werden (Bennett, Trickett & Potokar, 2009).
Bedeutung des Fließens von Blut. Für viele Betroffene ist der Anblick von Blut von zentraler Bedeutung, sodass meist bis aufs Blut gekratzt oder geritzt wird (Feldman, 1988; van Moffaert, 1990). Möglicherweise ist das Erscheinen von Blut deshalb so wichtig, weil es ein deutlich sichtbares Zeichen dafür darstellt, dass das eigene Tun eine Wirkung oder eine Veränderung herbeigeführt hat. Sein |24|Anblick scheint den Betroffenen das Gefühl zu geben, „wirklich“ und „lebendig“ zu sein (Ferentz, 2001).
Da die Aussagen zum Anblick von Blut, das aus einer selbst zugefügten Wunde tritt, fast ausschließlich auf Erzählungen von Betroffenen und Berichten aus der klinischen Praxis beruhten und noch keine wissenschaftliche Einschätzung vorlag, prüften Glenn und Klonsky (2010) dieses Phänomen im Rahmen einer systematischen Erhebung. Hierzu befragten sie 64 Studierende mit selbstverletzendem Verhalten unter anderem danach,
ob es wichtig für sie sei, Blut zu sehen, nachdem sie sich geschnitten hatten,
wie lange sie die blutende Schnittverletzung normalerweise beobachteten, und
was die Handlung bei ihnen bewirkt.
Für mehr als die Hälfte der Studierenden war es wichtig, eine blutende Wunde zu sehen. Für diese Gruppe waren fünf oder weniger Minuten ausreichend, damit die Selbstverletzung ihre Wirkung entfalten konnte. Die Handlung selbst wurde primär als spannungslösend und beruhigend beschrieben. Ferner zeigte sich bei denjenigen, die den Wunsch äußerten, eine blutende Wunde zu sehen, eine stärker ausgeprägte Borderline- und Bulimie-Symptomatik. Dies lässt vermuten, dass der Anblick von Blut vor allem für Personen von Bedeutung ist, die psychisch stärker belastet sind.
Bevorzugte Körperregionen. Obwohl alle Körperregionen von Selbstverletzungen betroffen sein können, werden bestimmte Regionen bevorzugt. In einer Studie von Favazza und Conterio (1989) wurden 240 Frauen mit selbstverletzendem Verhalten zu ihren Methoden und den bevorzugten Körperregionen befragt. Am häufigsten wurde das Schneiden der Haut berichtet (72 %), das Sich-Verbrennen (30 %), Sich-Kratzen (22 %), das Offenhalten von Wunden (22 %), das Ausreißen von Haaren (10 %) und das Brechen eigener Knochen (8 %). Die Frauen verletzten sich vorwiegend an den Armen (74 %), aber auch am Kopf, an Brust und Bauch sowie an den Genitalien.
Briere und Gil (1998) befragten 93 Personen (davon 89 Frauen) mit selbstverletzendem Verhalten, welche Verhaltensweisen sie in welchem Ausmaß durchführen (vgl. Tab. 2). Es wurde eine große Spannweite verschiedener Verhaltensweisen erfasst, und es zeigte sich auch hier, dass das Schneiden der Haut die häufigste Form mit 71 % darstellte; aber auch das Beißen auf die Innenseiten des Mundes (60 %) und Sich-Kratzen (59 %) waren sehr verbreitet.
Genitale Selbstverletzung. Eine besondere Form selbstverletzenden Verhaltens stellen Verletzungen der Geschlechtsorgane dar, die insgesamt selten auftreten, dann aber häufig schwerwiegend sind. Aufgrund der Seltenheit des Auftretens liegen fast ausschließlich Einzelfallstudien vor. Personen mit genitalen Selbstverletzungen lassen sich nach Alao, Yolles und Huslander (1999) vier Typen zuordnen:
|25|Psychotische Patienten, die ihre Genitalien verzerrt wahrnehmen und/oder halluzinierte Befehle zur Selbstverstümmelung befolgen,
Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen (vor allem Frauen),
Menschen, die ihr Geschlecht verändern möchten (vorwiegend Männer im Rahmen von Transsexualismus; vgl. Eke, 2000) und
Personen, deren selbstverletzendes Verhalten bestimmte religiöse Überzeugungen widerspiegelt.
Tabelle 2: Häufigkeit verschiedener Formen von selbstverletzendem Verhalten (bei Erwachsenen; Briere & Gil, 1998, S. 614)
Verhaltensweisen | Anzahl | Prozent |
Schneiden (Arme, Beine) | 66 | 71 |
Sich-Beißen (Mundinneres) | 56 | 60 |
Kratzen (bis auf Blut) | 55 | 59 |
Nagel- oder Nagelhautbeißen (bis aufs Blut) | 40 | 43 |
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Sich-Beißen (andere Stellen als Mundinneres) |