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Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung

Grundlagen, Diagnostik und Intervention

AutorPia Bienstein / Johannes Rojahn (Hrsg.)
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl274 Seiten
ISBN9783840923678
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Menschen mit geistiger Behinderung sind einem erheblichen Risiko ausgesetzt, selbstverletzendes Verhalten über die Lebensspanne zu entwickeln. Häufig kommt es zur Ausbildung des Verhaltens bereits im Kindesalter, und es kann zu schweren körperlichen Verletzungen sowie zur sozialen Isolation der Person führen. Bei Eltern und dem betreuendem Umfeld kann das Verhalten große Sorgen, Ängste und Hilflosigkeit auslösen, aber auch Wut und Unverständnis über das Verhalten. Die Ursachen für die Entwicklung und Aufrechterhaltung sind vielfältig und bedürfen einer ausführlichen, multimodalen Diagnostik zur Identifikation der begünstigenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen. Vor dem Hintergrund der frühen Entwicklung und hohen Persistenz des selbstverletzenden Verhaltens kommt der Früherkennung und adäquaten Behandlung eine große Bedeutung zu. Das Buch enthält umfangreiche Informationen zur Definition, Klassifikation, Epidemiologie, Symptomatik und zu komorbiden Störungen. Zudem wird der aktuelle Wissenschaftsstand über die Ursachen und Funktionen des Verhaltens, das Vorgehen innerhalb der multimodalen Diagnostik sowie die verhaltenstherapeutische und psychopharmakologische Behandlung - in Abhängigkeit der zugrunde liegenden Ursachen - erläutert und anhand von Beispielen illustriert. Möglichkeiten der Eltern- und Teamberatung und Krisenintervention werden vorgestellt sowie die ambulante und stationäre Versorgungssituation, die evidenzbasierte Praxis und die Evaluation von Interventionen beschrieben.

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Kapitelübersicht
  1. Vorwort
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. 1 Geistige Behinderung – eine Einführung
  4. 2 Selbstverletzendes Verhalten: Beschreibung, Definition und Epidemiologie
  5. 3 Ätiologie
  6. 4 Multimodale Diagnostik und therapiebegleitende Evaluation
  7. 5 Verhaltenstherapeutische Interventionen
  8. 6 Psychopharmakologische Behandlung
  9. 7 Elternberatung, Teamberatung und Burnoutprophylaxe
  10. 8 Krisenintervention
  11. 9 Zur psychosozialen Versorgungssituation geistig behinderter Menschen mit zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen
  12. 10 Zur Bedeutung evidenzbasierter Praxis
  13. 11 Evaluation von Interventionen
  14. Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Leseprobe
Heute kommt in Anlehnung an Lashley (2005), Handmaker (2005) und Harris (2006) eine differenzierte Gliederung ätiologischer Faktoren (siehe Tabelle 4) in Betracht. Dabei ist zu beachten, dass auch bei pränatalen Ursachen, z. B. bei solchen, die ein genetisch bedingtes Syndrom bewirken, die Auffälligkeiten nicht immer von Geburt an bestehen, sondern sich unter Umständen erst im Laufe der Kindheit manifestieren (z. B. Rett-Syndrom) oder sich in bestimmten Aspekten verschlimmern (z. B. Prader-Willi-Syndrom).

Einige – leider noch zu wenige – Auswirkungen identifizierbarer ätiologischer Faktoren auf das sich entwickelnde kindliche Gehirn lassen sich hinsichtlich ihrer Auswirkungen kompensieren. Ein gutes Beispiel ist die Diät bei Phenylketonurie. Man darf hoffen, dass der wissenschaftliche Fortschritt weitere Möglichkeiten eröffnet. Während früher sehr oft Verlegenheitsdiagnosen wie „frühkindlicher Hirnschaden unklarer Ursache“ hingenommen werden mussten, treten mit der rasanten Entwicklung der Genetik und ihrer Methoden immer deutlicher genetische Ursachen für geistige Behinderung in den Vordergrund. So gelten heute ca. 55 % der mittelgradigen bis schweren geistigen Behinderungen und 10-15 % der leichten geistigen Behinderungen als genetisch verursacht (Chelly et al., 2006; Flint & Knight, 2003). Tartaglia et al. (2009) sahen mehr als 1000 genetische Ursachen für geistige Behinderung. Diese Entwicklung wirft im Hinblick auf Prinzipien und Praxis genetischer Beratung, Pränataldiagnostik, Präimplantationsdiagnostik, Gentherapie usw. eine Fülle schwerwiegender methodischer und ethischer Fragen auf. Gleichzeitig – die Phenylketonurie wurde schon erwähnt – ergeben sich aus der individuellen Diagnostik genetisch bedingter Störungsbilder zukünftig sicher auch therapeutische, darunter gentherapeutische, Möglichkeiten.

Unbekannte Ursachen

Je komplexer die Symptomatik eines Störungsbildes (insbesondere morphologische Auffälligkeiten, Fehlbildungen) ist, desto wahrscheinlicher ist eine genetische Verursachung. Diese muss allerdings mittels genetischer Untersuchungen bestätigt werden.

Die Entwicklung der klinischen Genetik steht heute mit einer weiteren Entwicklung in Verbindung, nämlich der zunehmenden Erforschung der Verhaltensphänotypen genetisch bedingter Syndrome (Hodapp, 1997; Sarimski, 2003; Seidel, 2002), deren vertiefte Kenntnisse wahrscheinlich in der Zukunft besser als bisher individualisierte Förderkonzepte ermöglichen.

Abschließend sei darauf verwiesen, dass im Einzelfall Ursachen verschiedener Kategorien zusammenwirken können. So kann infolge einer genetisch bedingten Disposition ein üblicherweise tolerabler Sauerstoffmangel kritisch werden oder es kann zu einer alkoholtoxischen Schädigung des Embryos eine soziale Deprivation verschärfend hinzutreten. Im Zusammenhang mit den ätiologischen Aspekten sei nochmals klargestellt, dass eine Schädigung zerebraler Funktionen, die erst im späteren Leben, z.B. im Erwerbsalter auftritt, keinesfalls als Geistige Behinderung oder Intelligenzminderung bezeichnet werden darf, sondern dem Sammelbegriff der erworbenen Hirnschädigung zugerechnet werden muss.

4 Entwicklungspsychologische Aspekte

Dass Kinder mit geistiger Behinderung nicht allein Verzögerungen ihrer intellektuellen Entwicklung, sondern auch solche der statomotorischen Entwicklung und der lebenspraktischen Kompetenzen – und zwar in Abhängigkeit von Ursache und Schwere der Behinderung – aufweisen, ist bekannt. Viel zu wenig wird hingegen beachtet, dass auch ihre emotionale Entwicklung durch Defizite und Disharmonien gekennzeichnet ist. Gerade hierzu bietet die Berücksichtigung von genetisch verursachten Störungsbildern und deren Verhaltensphänotypen einen hilfreichen Zugang. Die Bedeutung der emotionalen Entwicklungsverzögerung und der hinter dem Lebensalter zurückbleibenden grundlegenden emotionalen Bedürfnisse hat Dosen (2010) seinem entwicklungspsychologisch und entwicklungspsychiatrisch fundierten Zugang zugrunde gelegt. Dieser Ansatz gibt auch für Therapien und andere, darunter pädagogische und heilpädagogische, Interventionen konzeptionelle und praktisch-methodische Orientierung (vgl. Dosen et al., 2010). Dies gilt nicht allein für Problemverhalten, sondern auch für die durch eine geistige Behinderung modifizierten psychischen Störungen. Nochmals soll darauf verwiesen werden, dass bei bestimmten Syndromen Besonderheiten der kognitiven, emotionalen, sprachlichen und motorischen Entwicklung über die Lebensspanne vorliegen. Das verdeutlicht, dass pauschale Aussagen über geistige Behinderung und ihre Prognose nicht immer möglich sind.

5 Komorbiditäten und zusätzliche Behinderungen

5.1 Allgemeines

Menschen mit geistiger Behinderung weisen eine Vielzahl zusätzlicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen, akuter und chronischer Krankheiten und Behinderungen auf. Das Spektrum dieser Komorbiditäten umfasst nahezu das gesamte Spektrum diagnostischer Kategorien aller medizinischen Disziplinen. Komorbiditäten sind zusätzliche Hemmnisse der sozialen Teilhabe.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort7
Inhaltsverzeichnis11
1 Geistige Behinderung – eine Einführung13
2 Selbstverletzendes Verhalten: Beschreibung, Definition und Epidemiologie31
3 Ätiologie58
4 Multimodale Diagnostik und therapiebegleitende Evaluation95
5 Verhaltenstherapeutische Interventionen132
6 Psychopharmakologische Behandlung176
7 Elternberatung, Teamberatung und Burnoutprophylaxe205
8 Krisenintervention218
9 Zur psychosozialen Versorgungssituation geistig behinderter Menschen mit zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen230
10 Zur Bedeutung evidenzbasierter Praxis253
11 Evaluation von Interventionen267
Die Autorinnen und Autoren des Bandes276

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