|34|2 Faktoren, die zur Entstehung der sozialen Ängstlichkeit und des selektiven Mutismus beitragen
Ein ganzes Bündel von Einflussgrößen führt zur Entstehung einer sozialen Angststörung mit Sprechhemmung: Eine angeborene Disposition zu Angst, Lernen an sozialen Modellen, erzieherische Einflüsse, kognitiver Stil (wie über Informationen und Erfahrungen gedacht wird und wie sie verarbeitet und genutzt werden), äußere Lebensbedingungen und spezielle Belastungen. Für einen besseren Überblick über die Entstehung, den Entwicklungsverlauf und die wichtigsten Einflussgrößen, die dabei zum Tragen kommen, wird zwischen verursachenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen des selektiven Mutismus unterschieden (Für einen erweiterten Überblick s. Schmidt-Traub, 2017).
2.1 Verursachende Bedingungen
Menschen mit selektivem Mutismus haben eine genetisch bedingte Bereitschaft zu Angsterleben, die mit Verhaltenshemmung, speziell mit einer ausgeprägten Sprechhemmung, einhergeht. Sie befürchten, beim Sprechen in wenig vertrauter Umgebung zu versagen, da es ihnen an Vertrauen in die eigene Sprechfähigkeit fehlt. Bei ängstlicher Erregung reagieren sie mit Verspannungen der Kehlkopfmuskulatur, sodass es zu sprachmotorischen Einschränkungen beim Sprechen kommt (vgl. hierzu auch „Neuronale und physiologische Grundlagen des Sprechens und des stressbedingten Schweigens“ im Anhang, S. 110).
Die Längsschnittuntersuchungen des Amerikaners Jerome Kagan und seiner Mitarbeiter (Kagan et al., 2009), in denen Neugeborene von den ersten Lebenstagen an über 45 Jahre lang in regelmäßigen Abständen beobachtet wurden, haben gezeigt, dass 17 bis 20 % der Kinder eines Jahrgangs mit einem ängstlich-scheuen Temperament zur Welt kommen, das sie lebenslang beeinflusst. Ein Temperament hat eine gewisse Vorhersagekraft für bestimmte Verhaltensmuster im weiteren Leben und |35|entspricht einem bestimmten Verhaltensstil, der über die ganze Lebensspanne hinweg relativ stabil bleibt. Verhaltensstile weisen bestimmte Merkmale auf (wie Reaktionstempo, Ausdauer, Empfänglichkeit für Stimmungen und Gefühle).
Menschen mit einem ängstlich-scheuen Temperament sind empfindsamer, schreckhafter und ängstlicher als Gleichaltrige mit einem anderen Temperament. In der Regel liegt bei einem der biologischen Eltern (oder einem anderen nahen Verwandten) ein vergleichbares Temperament vor (Subellok et al., 2010; Bahrfeck-Wichitill et al., 2011). Bei ängstlichen Kindern dürfte es mehrheitlich die Mutter sein, da Ängste bei Frauen doppelt so häufig vorkommen wie bei Männern. Ängstlich-scheue Kinder sind gehemmter als ihre Altersgenossen. Sie neigen dazu, unklare und unbekannte Situationen negativer zu bewerten als nichtängstliche Personen und gehen ihnen möglichst aus dem Weg.
Mittlerweile sind einige der genetischen Grundlagen der Angst bekannt. Die Bereitschaft, vermehrt Angst zu erleben, ist angeboren. Dennoch lässt sich nicht vorhersagen, ob ein Kind mit ängstlich-scheuem Temperament künftig eine Angststörung oder selektiven Mutismus entwickeln wird. Das hängt im Wesentlichen von der Erziehung und von weiteren, teils unabsehbaren Milieueinflüssen ab.
Das erzieherische Vorgehen der Eltern trägt wesentlich dazu bei, das Angstrisiko eines Kindes zu vergrößern oder zu verringern (vgl. Kap. 2.2 und Kap. 2.3; Schmidt-Traub, 2015). Überbehütende Eltern ermahnen ihre Kinder viel, besonders vorsichtig zu sein; das kann auch verunsichernd auf das Kind wirken. Einige erklären ihren Kindern bei jeder Gelegenheit, wie schlecht die Welt ist und wie viel Unheil in ihr droht. Damit fördern sie eine tendenziell pessimistische Sicht der Welt und den Möglichkeiten des Kindes, auf Missstände Einfluss zu nehmen. Seltener sind die Eltern von ängstlichen Kindern ausnehmend streng und erziehen sie in einem Klima der Angst. Es gibt auch Eltern, die ihre Kinder einfach machen lassen und sie kaum darin unterstützen, die Angst zu überwinden und den Alltag eigenständig zu bewältigen.
Viele Eltern ermutigen jedoch ihre Kinder immer wieder, Herausforderungen anzunehmen. Sie trauen ihnen auch zu, diese selbstständig zu meistern, und sind ihnen bei der Lösung von schwierigen Problemen behilflich. So eine Erziehung stärkt das Selbstvertrauen des Kindes und ver|36|ringert seine Angstbereitschaft. Insbesondere ängstliche Kinder brauchen Bezugspersonen, die ihnen Zuversicht entgegenbringen und daran glauben, dass sie wichtige Fragen und Probleme im Leben selbstständig lösen können. Das stärkt ihre psychische Stabilität und Resilienz.
Vater und Mutter sind außerdem wichtige soziale Modelle für ihre Kinder. Ängstliche Eltern leben ihnen das eigene Angsterleben, entsprechende Bewertungsmuster und Vermeidungsverhalten vor. Sie sind auch häufig überbesorgt und besonders beschützend in der Erziehung der Kinder. Diejenigen Kinder, die wie sie ein ängstlich-scheues Temperament haben, übernehmen vermutlich besonders viel von den Grundüberzeugungen und der Handlungsbereitschaft dieses Elternteils.
Chronische und punktuell heftige Belastungen erschweren die Entwicklung eines Kindes (vgl. Kap. 2.2). Stammt ein ängstlich-scheues Kind aus einem anderen Kultur- und Sprachraum (vgl. Kap. 1.2) und wird im privaten Umfeld überwiegend in seiner Muttersprache gesprochen, hat es größere Schwierigkeiten, Deutsch zu lernen und sich in Kindergarten und Schule einzuleben. Bilingualität ist für scheue Kinder oft eine länger anhaltende Belastung (obwohl sie natürlich auch Vorteile bietet).
Hat ein ängstliches Kind zudem den Hang zum Perfektionismus von seinen Eltern übernommen (vgl. Kap. 2.2) und will alles richtig formulieren und aussprechen, wird es schneller unsicher bei Sprechversuchen und gerät leichter unter Druck, vor allem in größeren Gruppen. Dort traut es sich dann kaum oder gar nicht, zu sprechen, und vermeidet solche Situationen immer mehr. Durch das Schweigen und durch das Vermeiden von Gelegenheiten, sich mit anderen auszutauschen, nimmt die Sprechangst zu.
Selektiver Mutismus wird bei einigen ängstlichen Kindern schließlich noch durch entwicklungsbedingte Sprach- und Sprechstörungen begünstigt (vgl. Kap. 1.2). Um körperliche Ursachen und Einflüsse (Hörschwierigkeiten, Hirnschädigungen; Lenarz et al., 2012) auszuschließen, sollte ein Kind, das in bestimmten Situationen nicht spricht, gründlich medizinisch untersucht werden – vor allem von Fachärzten für Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen und Kinderneurologie. Hört das ängstlich-scheue Kind z. B. nicht gut und versteht es nur mühsam und fehlerhaft, was andere sagen, wird es leichter verunsichert. In der Folge traut es sich dann vielleicht auch nicht zu, mit weniger bekannten Menschen zu kommunizieren und zieht sich immer mehr zurück, sodass seine Sprechangst zunimmt.
|37|2.2 Auslösende Bedingungen
Starke Belastungen lösen bei Personen, die zu sozialer Ängstlichkeit und Sprechhemmung neigen, leichter Unruhe und Angst aus, besonders im Kindesalter. Oft ist der Kindergarten die erste Hürde bei der Loslösung von der vertrauten familiären Umgebung. Für ein schüchternes Kind sind die vielen Kinder und Erzieherinnen zunächst etwas unheimlich und schüchtern es ein, sodass es sich nicht zutraut, Kontakt aufzunehmen. Übergänge – wie der Eintritt in den Kindergarten und die Schule, Umzüge in eine andere Stadt oder ein fremdes Land – sind besonders einschneidende Lebensereignisse für ängstlich-verhaltene Kinder.
Außerdem können einzelne extrem unangenehme Erlebnisse belastend sein und selektiven Mutismus auslösen oder verschlimmern. Vielleicht erschrickt sich ein ängstlich-gehemmtes Kind bei einem heftigen Streit zwischen zwei lebhaften Kindern oder wenn eine Lehrerin ein anderes Kind lautstark zurechtweist. Das kann auch passieren, wenn es selbst laut angesprochen wird (Lautstärke ist subjektiv, mutistische Kinder reagieren meistens überempfindlich auf Lärm) oder unter Druck gesetzt und zu etwas genötigt wird, wovor ihm graut. Spricht künftig einer der Streithasen oder die forsche Lehrerin das Kind an, wird es möglicherweise innerlich zusammenfahren, versteinern und kein Wort hervorbringen.
Nach dem Lernprinzip des klassischen Konditionierens ist es in diesem Fall zu einer Verknüpfung des Angstgefühls in der Streitsituation mit den beiden streitenden Kindern gekommen (bzw. eine Verbindung von der Angst, die beim strengen Verhalten der Lehrerin auftrat, mit ihrer Person). Künftig lösen diese Personen...