Kapitel 4
Die Kraft der Bedeutung
Nicht die Intensität des Schmerzes bestimmt, wie stark die Auswirkung ist, sondern die Bedeutung, die wir dem Geschehen beimessen.
Jesus warnte uns davor, dass uns andere nach demselben Maßstab verurteilen, mit dem wir sie verurteilen. Der Unterschied ist jedoch, dass sie viel mehr davon zurückgeben werden, als wir gegeben haben. Weiter sagte er: »… und mit dem Maß, das ihr bei anderen anlegt, werdet ihr selbst gemessen werden« (Mt 7,2 NGÜ). Das Maß bzw. die Auswirkung, die irgendein Geschehnis auf uns hat, basiert auf zwei Faktoren: Der erste ist die Bedeutung, die wir dem Geschehnis beimessen. Der zweite ist unser Motiv, wenn wir dieselben Dinge tun. Wenn wir etwas messen bzw. einschätzen, indem wir ihm Wert, Umfang und Bedeutung geben, dann entscheidet dieses Maß, welche Auswirkung es auf uns haben wird.
Die Auswirkung, die das Verhalten einer Person auf uns hat, hat wenig mit seiner oder ihrer Absicht zu tun. Die Auswirkung hängt mit unserem Urteil ab bzw. damit, welches Maß wir anlegen. Hinter der Handlung einer Person mag keine böse Absicht stehen, und dennoch kann sie verheerende Auswirkungen haben. Es gibt sogar Handlungen, mit denen Gutes beabsichtigt wird, die aber großen Schmerz verursachen. Wenn solche Dinge geschehen, denken wir: Sie tun mir das an. Die Wahrheit ist: Ganz egal, welche Absichten die Personen haben – wir tun uns das selbst an.
Alles hängt von der Bedeutung ab
Ich bin in einem rauen und gewalttätigen Umfeld aufgewachsen. Ich sah Gewalt, als ich noch sehr jung war, da mein Vater meine Mutter körperlich misshandelte. In meiner Kindheit drohte mein Vater damit, das Haus mitsamt der Familie niederzubrennen. Ich war etwa elf Jahre alt, als ich zum ersten Mal bewusstlos geschlagen wurde. Mein Stiefvater hatte meine Mutter geschlagen, und ich hatte eingegriffen, um sie zu beschützen. Nachdem ich fünf Jahre von zu Hause fort gewesen war, kam ich als Achtzehnjähriger zu Besuch und übernachtete bei meiner Familie. Während dieser Zeit versuchte mein Stiefvater, mich im Schlaf umzubringen.
Wenn Menschen Teile meines Zeugnisses hören, sagen sie manchmal: »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du auch nur annähernd normal sein kannst.« Sie denken, dass diese Umstände einen größeren negativen Einfluss auf mein Leben haben sollten. Obwohl ich manche emotionalen Probleme habe, die ich noch nicht völlig erkannt habe, haben die oben beschriebenen Erlebnisse keine wirkliche Bedeutung in meinem heutigen Leben.
Was ich erlebt habe, war offenkundige Ablehnung; eine Ablehnung, mit der man wahrscheinlich am einfachsten umgehen kann, denn sie ist offen und geschieht »geradeheraus«. Bei dieser Art von Ablehnung gibt es nicht viele Hintergedanken und wenig emotionale Manipulation.
Die Situation mit meinem Stiefvater war simpel. Er hasste mich und wollte mich aus dem Haus treiben. Ich hasste ihn und wollte nicht mit ihm im Haus bleiben. Das ist einfach zu verstehen. Bevor ich Jesus als meinen Erlöser aufnahm, war ich meinem Stiefvater gegenüber sehr bitter und hasserfüllt. Ich dachte daran, ihn umzubringen. Nachdem ich errettet war, verurteilte ich ihn nicht länger und befreite mich von dem Schmerz. Obwohl seine Handlungen viel Schmerz in meinem Leben verursachten, war es mein Urteil, welches die Ursache der andauernden Qual war.
Menschen, die zu mir in die Seelsorge kommen, haben Dinge erlebt, die weit weniger dramatisch waren und dennoch einen schwerwiegenderen Einfluss auf ihr Leben hatten. Um ehrlich zu sein, hatte ich in der ersten Zeit meines Dienstes kein Mitgefühl für diese Menschen. In meiner arroganten Selbstgerechtigkeit dachte ich: »Wacht auf! Das steht in überhaupt keinem Verhältnis zu dem, was ich erlebt habe.« Die Hilfe, die ich diesen Menschen anbot, war wahrscheinlich nicht sehr hilfreich. Schließlich erkannte ich, dass es nicht die Intensität des Anstoßes ist, die den Schmerz festlegt; vielmehr ist es immer die Bedeutung, die wir ihm beimessen. Eine Person kann demnach eine extrem heftige Erfahrung machen, die wenig zerstörerische Auswirkungen nach sich zieht, während eine andere Person eine scheinbar harmlose Erfahrung machen könnte, die aufgrund der Bedeutung, die sie ihr beimisst, verheerende Auswirkungen hat.
Tatsächlich hatte die subtile, manipulative Ablehnung, die ich von meiner Großmutter erlebte, eine größere bleibende Auswirkung als die Gewalt, die ich von meinem Stiefvater erfuhr. Es ist normalerweise schwieriger, mit versteckter Ablehnung umzugehen als mit offener. Versteckte Ablehnung bringt viel größere emotionale Herausforderungen mit sich, auch wenn sie nicht so heftig sein mag wie offene Ablehnung. Es wird noch schwieriger, damit umzugehen, wenn sie von Menschen kommt, die wir lieben und denen wir vertrauen. Von einer Person abgelehnt zu werden, die wir hassen, hat im Vergleich bedeutend weniger Auswirkungen, als von einer Person abgelehnt zu werden, die wir lieben. Die Handlung bleibt dieselbe, aber wir geben ihr mehr Bedeutung, weil wir ein Urteil darüber fällen, warum er oder sie das getan hat.
Wie würdest du reagieren?
Oft geht es um etwas ganz Simples. Jemand spricht nicht mit uns. Vielleicht macht uns ein uns wichtiger Mensch kein Kompliment. Oder vielleicht werden wir für etwas nicht gelobt, das wir erreicht haben, oder ein Elternteil ist überängstlich. Wir denken, sie seien zornig, sie liebten uns nicht, sie fänden uns nicht hübsch oder sie dächten, wir wüssten nicht, wie man etwas tut. Alle diese einfachen Dinge können aufgrund der Bedeutung, die wir ihnen beimessen, einen lebensverändernden Einfluss auf uns haben. Wenn eine Mutter zum Beispiel überängstlich ist und denkt, dass sie damit ihre Liebe zeigt, urteilt das Kind üblicherweise: »Sie denkt, ich bin blöd.« Obwohl das Urteil nicht korrekt sein mag, sind die Auswirkungen zermürbend.
Stell dir vor, wie verheerend das folgende Ereignis sein könnte: Du weißt nicht, dass der Pastor am Sonntagmorgen einer Krisensituation gegenüberstand. Es war eine Situation, die zwischen Leben und Tod, Himmel und Hölle oder zwischen einer geretteten oder einer zerbrochenen Ehe entscheiden würde. Als er in die Gemeinde eilt, wo der Gottesdienst bereits begonnen hat, sind seine Gedanken immer noch auf diese Krise fixiert. Du sprichst ihn an, als er bei dir vorbeigeht. Aber er scheint dich zu ignorieren.
Eigentlich ist nichts Negatives geschehen; er hat einfach nicht mit dir gesprochen. Du beginnst dir jedoch aufgrund deiner Unzulänglichkeitsgefühle Gedanken zu machen und misst der Situation Bedeutung bei. Du beginnst, sie zu messen. Du fällst ein Urteil. Du stellst dir die W-Frage: »Warum hat er nicht mit mir gesprochen?« Abhängig davon, wie du diese Frage beantwortest, könnte dein Selbstgespräch folgendermaßen weitergehen: »Ich denke, er mag mich nicht. Tatsächlich bin ich mir nicht sicher, ob er mich wirklich je gemocht hat!« Du misst unbedeutenden Handlungen Bedeutung bei, und auf der Grundlage deines Urteils werden dir Schmerz und Ablehnung »zurückgemessen«. Dieses Erlebnis hat in deinem Leben jetzt Kraft bekommen.
An dieser Stelle könnte die Angelegenheit leicht geklärt werden. Du könntest zum Pastor gehen, den Vorfall – ohne zu urteilen – beschreiben und erfahren, dass diese Handlung nichts mit dir zu tun hatte. Weil er zu diesem Zeitpunkt in Gedanken versunken war, wäre es total egal gewesen, wer dagestanden hätte; er hätte niemanden wahrgenommen, der ihn angesprochen hätte.
Oder vielleicht gehst du zornig und frustriert nach Hause (nachdem du eventuell sogar deine Spende zurückgehalten hast). Dann geht es noch einen Schritt weiter und du erzählst anderen, was der Pastor dir angetan hat. »Ich bin dieser Gemeinde gegenüber immer treu und loyal gewesen – und der Pastor hat mich nie gemocht! Und jetzt ist er auch noch unhöflich zu mir!«
Du bist jetzt wirklich verletzt. Dein seelischer Schmerz und Kummer sind real, aber sie wurden nicht dadurch verursacht, was eine andere Person dir angetan hat, sondern durch das Urteil, das du gefällt hast. »… mit dem Maß, das ihr bei anderen anlegt, werdet ihr selbst gemessen werden« (Mt 7,2 NGÜ).
Jetzt beginnen zwei Dinge zu geschehen: Erstens werden die Leute dir allgemein in der gleichen Art und Weise begegnen, wie du ihnen begegnest. Danach geht es mit einem Riesenschritt zu dem »Maß, mit welchem ihr messt«. Das geht dann über in den Bereich, wo es nichts mehr damit zu tun hat, wie jemand anderes auf dich reagiert; es hat viel mehr damit zu tun, wie sehr dein Herz von der Bedeutung beeinflusst wird, die du der Sache beigemessen hast.
Wenn wir unser Leben damit zubringen, andere zu beurteilen – sie auf der Grundlage unseres Urteils zu behandeln –, ist unser Leben voller Schmerzen und Beeinträchtigungen. Wir haben keine erfüllenden Beziehungen, und mit der Kommunikation klappt es überhaupt nicht, weil wir immer über die Motive urteilen, die hinter dem stecken könnten, was andere sagen oder tun. Und all das beruht auf unserem Urteil.
Alles, was nötig ist, um aus diesem zerstörerischen Kreislauf auszubrechen, besteht in Folgendem: sich weigern zu urteilen, und sich weigern, den Handlungen anderer Menschen Bedeutung beizumessen. Wenn die Handlung einer anderen Person eine negative Auswirkung auf dich hat, frage einfach nach, ob es ein Problem gibt. Stelle keine Vermutungen an und miss der Sache keine Bedeutung bei. Wenn du lernst zu beobachten, anstatt...