Wir bleiben wach
»Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind!«, krächzt es wieder und wieder aus meinem Telefon. Doch auch wenn ich ewig wach bliebe – die Wolken würden schwarz bleiben. So fühlt es sich zumindest an. Das rote Plastikherz, das vor meinem Schlafzimmerfenster hängt – ein Geschenk von meinem Freund Dominic –, blinkt unaufhörlich und wirkt dabei, als würde es mich auslachen. Ich möchte schlafen, endlich schlafen. Aber wie? Eine Tablette nehmen? Oder vielleicht gleich hundert? Ich bin eine Dramaqueen, ich weiß. Aber diesmal zu Recht. Was er jetzt wohl macht? Was sie jetzt wohl bei ihm macht? Was sie jetzt wohl gerade zusammen machen? Dieses verdammte Blinke-Herz! Ich will irgendwas kaputt machen. Ich bin wütend, verletzt und traurig. Eine gefährliche Kombination! Ein Pulverfass. Ich versuche zu masturbieren. Das hilft ja manchmal bei Stress. Aber heute bleibt es bei einem lächerlichen Versuch. Geil war gestern. Und bald geht schon die Sonne auf. Ich beneide die beiden.
Dominic wollte mit mir ins Berghain gehen. Endlich mal. Das Berghain, dieses sagenumwobene ehemalige Heizkraftwerk in Berlin-Friedrichshain, ist sein Lieblingsklub. »Dort spielen sie den letzten wahren Techno!« Dominics Augen funkeln immer so schön, wenn er von etwas schwärmt. Wir hatten uns so darauf gefreut, endlich mal wieder zu zweit loszuziehen, endlich mal wieder zu zeigen, dass es auch coole Paare neben den ganzen Sofadösern gab. Wir zwei gegen den Rest der Welt im flackernden Licht auf der Tanzfläche. Doch dann musste ich ihm schweren Herzens absagen, weil Julia, eine Kollegin aus der Bar, in der ich jobbe, krank wurde.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zur Arbeit machen, als mein Telefon klingelte. Julia.
»Hey Süße, ich kann heute doch arbeiten! Entschuldige den Wirbel, ich hoffe, ich hab deine Abendplanung nicht zu sehr durcheinandergebracht.«
Wie geil war das denn?! Sofort änderte ich meinen Plan. Ich beschloss, Dominic zu überraschen. Im Berghain plötzlich vor ihm zu stehen – das war super, oder? Fand ich auch. Damals. In den alten Tagen. Also vor etwa zwei Stunden.
Ich wusch mir mein »Gib mal ordentlich Trinkgeld!«-Make-up aus dem Gesicht und trug nur ein wenig Wimperntusche und Lippenstift auf. Dominic steht nicht auf zugekleisterte Frauen. Dafür stehe ich normalerweise nicht auf Strapse, aber heute hatte ich mir zur Feier des Tages extra welche gekauft. Strap on in the name of love! Ich grinste. Mit einem eiskalten Mädchenbier in der Hand machte ich mich mit den Öffentlichen auf den Weg ins Berghain. Als ich die etwa fünfzig Meter lange Schlange sah, sank meine Laune jedoch sofort. Ich hasste es zu warten. Was nun? Sollte ich Dominic anrufen und ihn bitten, mich reinzuholen? Dann wäre meine Überraschung dahin. Dem Türsteher schöne Augen machen, in der Hoffnung, dass er mich direkt reinwinkte? Das war einen Versuch wert. Ich drängelte mich also nach vorn zur Tür. Oha! Der in Schwarz gekleidete Schrank, den ich dort erblickte, machte mir ein bisschen Angst – nichts gegen Tätowierungen, aber im Gesicht? Mein Stil war das nicht. Aber ich war ja im Gegensatz zu ihm auch nicht der Partypapst. Wummernde Bässe drangen durch die Luft. Ich nahm all meinen Mut zusammen, schob meine Brüste zurecht und wollte gerade den unheimlichen Türsteher mit dem zugepiercten Mund davon überzeugen, mich sofort reinzulassen, als ich ihn sah.
Dominic. Der Mann, mit dem ich seit sechs Monaten zusammen war, der mir den Glauben an die Männer, an die Liebe zurückgegeben hatte, dem ich vertraute wie noch keinem Freund zuvor. Lachend kam er aus dem Dunkel ins Licht. Doch nicht allein, oh nein – wer zur Hölle war diese Tussi in seinem Arm?! Die war doch gar nicht sein Typ! Sie sah aus wie einem Porno entsprungen, gefühlt einen Meter neunzig groß, riesige Brüste aus Silikon, High Heels und – na klar – Strapse! Das war meine Überraschung, verdammt!
Es heißt, kurz bevor man stirbt, zieht das Leben im Zeitraffer an einem vorbei. Ich weiß nicht, ob das stimmt – immerhin bin ich noch nicht so oft gestorben –, aber es könnte etwas Wahres dran sein. Als ich die beiden zusammen erblickte, lief wie auf Knopfdruck unsere ganze Geschichte in meinem Kopf ab. Da war sein erster Blick, sein erster Kuss, unser erster Sex – mein ganzes Leben, unser Leben. Wir waren eins, verdammt! Und nun fühlte es sich auf einmal an, als gäbe es kein Wir mehr, nur noch ein kleines, jämmerliches Ich, dessen Herz gerade achtlos in einen Mülleimer gedonnert worden war. Als wäre ich eine leere, zerbeulte Dose. Ich hatte gehört, dass Herzen brechen können. Aber bislang hatte ich das für kitschiges Gelaber gehalten. Doch jetzt: vorbei! Knacks!
Sie stiegen in ein Taxi und ich beeilte mich, gleich das nächste direkt dahinter zu erwischen.
»Verfolgen Sie das Taxi da vorn!«
»Was glaubst du, was das hier ist? 2 Fast 2 Furious?«
Nachdem ich dem Fahrer einen Zehner extra versprochen hatte und wir nun beide überzeugt waren, dass das hier 2 Fast 2 Furious war, nahm er die Verfolgung auf. Fünf Minuten später hielt das Taxi, in dem Dominic und die Tussi saßen. Vor seiner Wohnung. Wo auch sonst?
»Fahren Sie weiter, bitte, in die Karl-Marx-Allee 47.« Sicher, ich hätte aussteigen können. Ihm eine Szene machen, kreischen, weinen, mit meinen Fäusten auf seiner Brust trommeln. Aber dafür fehlte mir die Kraft. Ich wollte nur noch nach Hause in mein Bett.
Das blinkende Herz an meinem Fenster lacht mich noch immer aus. Ich habe Durst. Doch um ihn zu stillen, müsste ich aufstehen und zum Kühlschrank gehen, der gefühlt am anderen Ende der Welt steht. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Früher glaubte ich, dass ich tatsächlich verschwinden würde, wenn man mein Gesicht nicht sehen konnte. Früher hatte ich auch noch keinen Schimmer von Liebeskummer. Von Liebe.
Was macht er gerade mit ihr? Hat er den Verstand verloren? Oder ich, weil ich mich so in ihm getäuscht habe? Man sagt ja, wenn man die eine oder den einen trifft, ändert sich alles. Was man will, was man braucht und was man sich wünscht, ist plötzlich etwas völlig anderes als noch zuvor. Plötzlich begannen alle schönen Ideen in meinem Leben mit D. Verdammt! Liebt er sie so, wie er mich geliebt hat? Und fickt er sie so, wie er mich gefickt hat? Und warum überhaupt?! Warum tut er das? Warum tut er mir das an? Ich dachte, unser Sex wäre der Wahnsinn. Jedenfalls hat er mir das immer ins Ohr gestöhnt: »Das ist Wahnsinn mit uns, Baby, weißt du das?« Reiche ich ihm nicht? Hat er mir nur was vorgespielt? Was hat sie, was ich nicht habe? Außer drei BH-Größen mehr und einen halben Meter längeren Beinen? Ist es das, was er will? Habe ich mich etwa so in ihm getäuscht?
Plötzlich klingelt mein iPhone. Dominic?! Ob er sich besonnen hat, ob ihm klar geworden ist, wohin er gehört? Oh je, ich klinge schon wie eine verzweifelte, klammernde Freundin. Dominic hat oft zu mir gesagt: »Du verdienst das Beste.« Dann hat er sich auf die Brust getrommelt und gerufen: »Und den Besten.« Anschließend hat er gezwinkert und ich war noch verliebter in ihn als davor. Jedes Mal.
Augen schließen, hoffen, beten, zum Telefon greifen. Nö. Es ist Tobi. Dominics bester Freund. Was will der denn jetzt von mir? Um diese Uhrzeit? Egal, ich lasse es klingeln. Doch Tobi gibt nicht auf. Beim dritten Versuch gehe ich ran.
»Party!«, brüllt es in mein Ohr. Wie mich seine gute Laune nervt!
»Was willst du, Tobi?«
»Oh, da hat eine aber miese Laune! Und das Samstagnacht! Was is’n los, Kleine?«
»Nichts.«
»Wenn Frauen sagen, es sei nichts los, kann das nur bedeuten, dass gerade die Welt untergeht.«
»Pass auf, Tobi, ich hab gerade echt keine Lust, mit dir zu quatschen, okay?«
»Nein, das ist nicht okay, Odette. Wenn es der Freundin meines besten Freundes schlecht geht, ist das auch mein Problem. Wo steckt Dom überhaupt?«
Nun hat er es geschafft: Ich muss weinen.
»Odette? Warum weinst du denn jetzt? Scheiße, sag mir doch endlich, was los ist!«
»Dominic fickt gerade irgend so eine Tussi, das ist los!«
»Was?!«
»Ja, Mann!«
»Das glaube ich nicht!«
»Dann glaub es halt nicht! Ich weiß es aber!«
Ich erzähle Tobias die ganze Story. Er will sie nicht wahrhaben, aber auch er kann die Fakten nicht schönreden.
»Ich würde ja zu dir kommen, aber die kleine Lilly schläft gerade so süß. Was hältst du davon, wenn ich dir ein Taxi vorbeischicke und wir reden über alles?«
Das ist nett von ihm. Aber ich lehne ab. Ich sage, dass ich es mir überlegen werde, doch das ist nur ein Vorwand, um ihn loszuwerden. Niemand bekommt mich jetzt aus meinem Bett. Niemand!
Zwanzig Minuten später: Schon wieder sitze ich im Taxi. Was? Wankelmütig? Ich? Na ja, ein bisschen vielleicht. Aber ich bin ja auch eine Frau! Wer denkt, Quantenphysik sei kompliziert, kennt die Frauen nicht. Das war so ein Spruch von Dominic – meinem zukünftigen Exfreund! Ich verstehe es immer noch nicht. Während der Fahrt fange ich schon wieder an zu weinen. Der Taxifahrer guckt ganz erschrocken und kramt eilig ein Taschentuch hervor. Und dann sagt er tatsächlich: »Sie sind viel zu hübsch, um traurig zu sein.« Normalerweise fände ich so einen Spruch schleimig. Aber in diesem Moment mache ich eine Ausnahme. Jetzt, wo ich mit verlaufener Wimperntusche im Taxi sitze und zu dem einzigen Mann fahre, der mir außer Dominic helfen kann. Tobi! Damit er mir erklären kann, wie es so weit kommen konnte. Denn Tobi kennt Dominic besser als jeder andere.
...