Genitale Ungerechtigkeit
Die lustigen und nicht so lustigen Namen für die Genitalien werde ich hier nicht aufzählen, sondern vielmehr den auffälligen Unterschied erwähnen, den es zwischen der Benennung von männlichen und weiblichen Genitalien gibt. Denn der macht was mit uns – auch mit dir. Wie sieht das in Worten aus?
Für kleine Mädchen gibt es Bezeichnungen wie «private parts» oder «da unten». Ein ganz bestimmter Ausdruck hat mich besonders geärgert, mittlerweile habe ich ihn schon einige Male gehört: «Popo vorne». Was um Himmels willen hat der Hintern mit der Vulva zu tun? Zwei gewölbte Bäckchen? Im Ernst – geht’s noch unpassender? Bei diesen Worten schwingt von Anfang an Scham mit. Bei den Jungs läuft es neutraler und aktiver ab, da geht es mehr um die Funktion, siehe das Wort «Pipi-Mann», oder es schwingt zusätzlich etwas Lustiges mit, etwa bei «Zipfel» oder «Rüssel». Es wird weniger negativ bewertet. Häufig werden weibliche Genitalien auch als passiv, minderwertig oder in Abhängigkeit zum Penis beschrieben. Damit wird unterschwellig zu verstehen gegeben, dass der männliche Körper als Gießform für den Menschen anzusehen ist. Wie in der Bibel, als Gott eine Rippe von Adam nahm und Eva erschuf. Dabei ist die Grundform des Menschen ein Neutrum, aus dem alle Geschlechter gleichwertig entstehen. Mehr dazu später.
Vagina und Vulva wurden über Jahrhunderte als etwas Mangelhaftes, als sexuell inadäquat, als viel zu verletzlich beschrieben. Oder noch merkwürdiger: als gefährlich. Googele mal Bilder zur Vagina dentata – der beißenden, der bezahnten Vagina. Das ist nichts für zarte Gemüter. Am schlimmsten ist aber (jedenfalls für mich), wie die Vagina in westlichen Medien vorherrschend als riechend und ekelhaft «verkauft» wird. Produkte zur Bekämpfung von nicht vorhandenem Geruch und von natürlich gesundem Ausfluss sind weit verbreitet.
Nomen est omen
Viele nennen die Vulva – das äußere Genital der Frau – Scheide. Das ist falsch. Andere meinen damit die Vagina, aber auch das ist unpassend. Die Vagina ist im Ruhezustand kein offener Schlauch, keine leere Höhle, die darauf wartet, dass etwas in sie eindringt. Was dann? Ihr Gewebe schmiegt sich weich und geschlossen aneinander und schwillt bei Erregung an, genau wie bei einem Mann. Die Vagina macht dann aktiv Platz, indem sie sich nach oben hin verlängert (siehe «Balloneffekt» auf S. 59).
Fun Fact: Es gibt einen neuen Namen für das gesamte weibliche Genital: Vulva + Vagina = Vulvina (Quelle: Ella Berlin). Wie findest du das? Fällt dir ein besserer Name ein? Ein ganz eigener?
In einer Studie zeigte sich: Die Hälfte aller befragten Frauen und viele Männer lernten als Kind überhaupt keine genitalen Namen. Nur sechs von hundert Frauen kannten die richtige Bezeichnung für ihr Genital. Himmel und Zwirn, es geht um den eigenen Körper! Immerhin wusste jeder zweite Mann die korrekten Bezeichnungen für das männliche Pendant. Und jede dritte Frau.
Warum ist das Vokabular so wichtig? Sprache spiegelt unsere kulturellen Werte und Einstellungen wider, über Sprache wird auch mit darüber entschieden, wie wir empfinden. Das Verstehen, Kennen und Benennen der sexuellen Anatomie prägt dein genitales Selbstbild, also wie du über deine Genitalien fühlst und denkst. Das wiederum beeinflusst deine erlebte Sexualität.
Wenn du gerade denkst: Puh, hier geht es aber viel um die Frau, dann schau dir kurz die gleich erwähnten Zahlen an. Vielleicht bist du genauso überrascht, wie ich es war, als ich sie zum ersten Mal las. Sie stammen aus einer Studie, bei der fast 10000 Frauen aus dreizehn Ländern teilnahmen. Dabei wurde Folgendes zum weiblichen Genital enthüllt:
47 Prozent der Frauen hatten Zweifel wegen der Größe.
61 Prozent Bedenken, was das Aussehen angeht.
Ein Drittel der Befragten hatte als Kind zu hören bekommen, es sei böse oder unrein, das Genital zu berühren.
Fast jede zweite Frau sah ihre Vagina als Körperteil, über das sie am wenigsten Bescheid wusste.
75 Prozent der Studienteilnehmerinnen waren der Meinung, gesellschaftliche Tabus seien für ihre Unwissenheit verantwortlich.
Stell dir nun vor, du bist ein Junge und zweifelst an der Größe deines Penis. Ja, das kann schon mal sein. Versuche dir nun einzureden, dass er schmutzig und muffig ist, dass es nicht gut ist, ihn anzufassen. Aus diesem Grund würde er zu dem Teil deines Körpers, über den du am wenigsten Bescheid weißt. Ginge das? Eher nicht, denn du könntest nicht mal pinkeln! Frauen können es jedoch komplett vermeiden, ihre Vulva anzufassen. Sie ignorieren einfach ihr «Unten». Jungs sind dann damit konfrontiert, wenn ihre Freundinnen keinen Oralsex mögen. Im besten Fall machen sie mit, wenn sie gerade geduscht haben.
Traurige Tatsache: Sehr kleine Mädchen sind an ihrem Genital genauso interessiert wie Jungs, fassen es gerne an und lernen dann aber auf dem Weg zur Frau, dies nicht mehr zu tun. Stell dir weiterhin vor, wie es wäre, wenn die Hoden im täglichen Sprachgebrauch «Schambeutel» oder «Schamsack» heißen würden – gleich den Schamlippen. Oder dass die Hoden zusammen mit dem Penis als «Zapfen» oder «Stöpsel» daherkommen würden, sie also gar keinen eigenen Namen hätten. Genauso wird mit dem Genital der Frau umgegangen.
Weil Worte so viel ausmachen, wurde zum Beispiel in Schweden auch offiziell und konsequent der Begriff «Jungfernhäutchen» aus dem Vokabular gestrichen. Dieses Häutchen gibt es nämlich biologisch nicht – mehr dazu in den Kapiteln 7 und 10.
Versuche diese Ausführungen insgesamt als genitale oder intime Gerechtigkeit aufzufassen, denn weibliche Genitalien wurden lange genug ignoriert, wissenschaftlich falsch beschrieben oder miesgemacht. Daran möchte ich etwas verändern, und alle Jungs können mitmachen. Indem auch sie das lesen, was hier zum weiblichen Körper steht. Danach liefert kein Junge mehr Futter für irgendwelche dummen Mythen. Das gilt auch für Mädchen und den männlichen Körper. So kann der Sex für euch nur entspannter werden!
Eine junge US-amerikanische Forscherin, Sara McClelland, sie lehrt an der University of Michigan, prägte den Begriff «intime Gerechtigkeit». Sie war der Meinung, dass die unterschiedliche Wertigkeit bei männlichen und weiblichen Genitalien dazu geführt hat, dass heterosexuelle Frauen eher Sex für den Mann und nicht für sich haben. Sex wird aber für beide besser, wenn auch Frauen ihren Körper mögen und spüren, inklusive der Genitalien. Lies also unbedingt neugierig weiter und staune! Und erzähl alles, was du lernst, weiter.
Hier schon mal ein erster Tipp: Ersetze ab sofort und für immer das Wort «Schamlippe» durch Venus- oder Liebeslippe. Oder sage innere oder kleine Lippen und äußere oder große Lippen. Und vergiss sofort wieder den Schamsack und den Schambeutel. Hodensack und Venuslippen entstehen übrigens im Mutterleib aus demselben embryonalen Gewebe. Tja!
Achtung! Einen Punkt zur genitalen Gerechtigkeit gibt es noch vor der Anatomie: Eine niederländische Studie von 2016 mit dem ungewöhnlichen Titel «Ich habe eine nette, ekelige Vagina» wies nach, wie feministische Frauen offener für eigene sexuelle Empfindungen und die Anatomie ihres Körpers sind als Frauen, die keine Femi-Identität hatten. Aber was heißt hier feministisch? Gemeint ist eine Gleichberechtigung von allen Geschlechtern auf ökonomischer, politischer und sozialer Ebene. Eine feministische Frau ist also nicht gleichzusetzen mit einer Männerhasserin, auch hat sie nicht unbedingt Haare unter den Achseln oder an den Beinen, und ebenso wenig ist sie dauerkämpferisch und ständig auf Konfrontation aus oder leidet an permanenter PMS. Nicht zu vergessen: Sie kann nur Lesbe sein. Genau diese Annahmen werden beliebig und nur zu gern vorwurfsvoll geäußert, wenn Frauen auf ihre Rechte achten. Wenn Feminismus aber zum Kampf der Geschlechter wird, ist es für alle von Nachteil. Haben vor uns lebende Frauen für moderne Frauen viele Rechte tatsächlich hart erkämpft, müssen wir nicht mehr ganz so laut werden, wenn es diesbezüglich auch noch einiges zu tun gibt. Du musst als Frau nur genau wissen, was du möchtest.
Feminismus kann zum Beispiel sein, als Frau (oder als Mann) gut über den weiblichen Körper Bescheid zu wissen. Wie kannst du damit anfangen? Mit einem Spiegel, indem du dich anschaust und beginnst, das anzunehmen, was du siehst – auch die Vulvina. Genau jetzt! Echt jetzt.
Solltest du dir Get Lucky anschauen, lernst du den sechzehnjährigen Mehmet kennen, der schon ziemlich feministisch angehaucht ist und ein ausgesprochen starkes Gerechtigkeitsempfinden hat. Mehmet achtet sehr auf seinen Umgangston, etwas, das Aaron, ein gleichaltriger (sexueller) Angeber aus der Clique, nicht besonders interessiert. Im Gegenteil. Aaron bringt schon mal den einen oder anderen sexistischen Spruch über die Lippen, à la: «Blowjob ohne Schlucken geht gar nicht.» Wie findest du das? Als Junge? Als Mädchen? Wie ist dein Ton, wenn du über Sex redest? Anders als wenn du über dein liebstes Hobby sprichst? Oder je nachdem, mit wem du dich gerade unterhältst? Wie äußerst du dich über Jungen und über Mädchen? Über Genitalien? Welche Schimpfworte benutzt du? Etwa sexuelle?
Noch nebenbei: Statistisch gesehen (also durchschnittlich) haben Jungen ein besseres...