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Sexualmoral und Sexualerziehung in Vergangenheit und Gegenwart

Zu den Grundlagen der Sexualpädagogik

AutorKarl-Heinz Ignatz Kerscher
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl130 Seiten
ISBN9783638010979
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Sammelband aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Sonstiges, Note: keine, , 15 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die bisherigen Wertorientierungen der Sexualpädagogik sind fragwürdig geworden angesichts der Globalisierung, der multikulturellen Durchmischung unserer Bevölkerung, der religiösen Vielfalt im Lande und der Pluralisierung von Lebensformen, Lebensstilen und Subkulturen. Sexualität steht vor der Frage, woran sie sich im Zeitalter der Postmoderne ethisch-moralisch orientieren kann, ohne eurozentrische Anmassung und ohne fundamentalistischen Alleinvertretungsanspruch des westlich-christlichen marktwirtschaftlichen Wertesystems. Die 'Erklärung der sexuellen Menschenrechte', wie sie von der Generalversammlung der World Association for Sexology im Jahre 1999 in Hongkong verabschiedet worden ist, könnte eine solche Orientierungshilfe bieten. Der vorliegende Band leistet interdiszilinäre, fächerübergreifende Beiträge zu den Grundlagen der Sexualpädagogik.

Prof. Dr. phil. Karl- Heinz Ignatz Kerscher Geboren 1943 in Hamburg; Universitätsstudium Volkswirtschaft, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Kunst, Jura und Sozialpädagogik; Ausbildung zum Volks-, Realschul- und Waldorfschul-Lehrer, Promotion zum Dr. phil.; Professor der Leuphana Universität zu Lüneburg im Ruhestand; Pionier der emanzipatorischen Sexualpädagogik, namhaftester Vertreter der Postmodernen Pädagogik; Erziehungswissenschaftler, Sexualforscher, Hochschuldozent, fachwissenschaftlicher Sachbuchautor, Zirkusdirektor beim Circus Tabasco, Feuerläufer, Straßenmusiker, Senioren-Residenz-Entertainer, ehrenamtlicher Lektor auf Kreuzfahrtschiffen, Neueste Publikationen: 'Kreativ und Innovativ. Bausteine Postmoderner Pädagogik.' München 2011. 'Fasziniert und Aktiviert. Intentionen Postmoderner Pädagogik.' München 2011. 'Kulturell und Intellektuell. Perspektiven Postmoderner Pädagogik.' München 2012. 'Tolerant und Human. Leitideen Postmoderner Pädagogik.' München 2012. 'Lustbetont und Sinnenfroh. Positionen Postmoderner Sexual-Pädagogik.' München 2012. 'Schaffensfroh und Qualifiziert. Akzente Postmoderner Pädagogik.' München 2013. 'Orientierungssuche postmoderner Pädagogik. Zwischen Bangen und Hoffen.' München 2013. 'Peace Education. Ideas for a Postmodern Pedagogy.' München 2013. 'Pazifistisch und Altruistisch. Leitsterne Postmoderner Pädagogik.' München 2013. 'Weltraum Pädagogik. Erziehung und Bildung im Zeitalter der Raumfahrt.' München 2014. 'Space Education. Pedagogy in the Era of Space Missions.' München 2014.

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Leseprobe

Einleitung


 

Sexuelle Aufklärung im heutigen Sinn war noch vor gut 300 Jahren gänzlich unbekannt. Im Altertum und Mittelalter betrachtete man Sexualität als festen Bestandteil des Lebens und nicht als einen besonderen, problematischen Komplex, der besondere Aufmerksamkeit verdient hätte. Sexuelles Wissen wurde ganz selbstverständlich wie jedes andere Wissen erworben. Kinder lebten nicht in einer eigenen, geschützten Welt, sondern nahmen an fast allen Arbeits- und Freizeitaktivitäten der Erwachsenen teil (Vgl. HAEBERLE   1985 ; vgl. USSEL 1970)

 

Da die Mehrheit der Bevölkerung vor dem Zeitalter der Industrialisierung auf dem Lande lebte, hatten die Kinder genügend Gelegenheit, Tieren bei der Paarung zuzusehen. Auch war es keineswegs ungewöhnlich, dass Mensch und Tier unter einem Dach lebten. Weder in Ober-  noch in Unterschichten gab es eine ausgesprochene Privatsphäre, und es herrschte wenig Schamhaftigkeit und Verlegenheit in bezug auf die natürlichen Körperfunktionen. Familien badeten und schliefen gewöhnlich unbekleidet gemeinsam. Brautwerbung und Schwangerschaft wurden offen diskutiert, Geburten fanden zu Hause statt. Sexuelle Dinge blieben für niemanden ein Geheimnis, und man hielt Jungen und Mädchen mit Beginn der Pubertät für heiratsfähig.

 

Selbst zu Beginn der Neuzeit, als die städtische Mittelschicht begann, wichtige Informationen in gedruckter Form zu verbreiten, wurde Sexualität noch nicht als Thema für sich behandelt. In Lehrbüchern für Kinder, wie beispielsweise den „Colloquia Familiara“ des  ERASMUS VON ROTTERDAM (1522), wurde Sexualität offen und einfach als fester Bestandteil des täglichen Lebens behandelt, dem man nicht mehr und nicht weniger Bedeutung zumaß als allen anderen Dingen von allgemeinem Interesse.

 

Im Laufe der folgenden Jahrhunderte entwickelten die Menschen jedoch eine völlig andere Einstellung.

 

Kindheit  und später auch Jugendalter wurden als besondere,  „unschuldige“ Lebensphasen definiert, in denen es galt, die jungen Menschen vor den Versuchungen der Erwachsenenwelt zu  schützen. Eine zunehmende Prüderie interpretierte alles Sexuelle als schmutzig und gefährlich. Masturbation wurde zum allgemeinen Problem  und zu einer ernsthaften Gefahr für die Gesundheit erklärt. Jos van USSEL ( 1970) hat eindrucksvoll die Methoden der Anti-Masturbations-Kampagnen im 18. und 19. Jahrhundert beschrieben.

 

Sexualität war zu einem mysteriösen und zutiefst verwirrenden Gegenstand geworden.

 

Es herrschte die Auffassung , dass Sexualität gefährlich sei und Kinder unschuldige Wesen, die vor dieser Gefahr unter allen Umständen bewahrt werden müssten. Eine Einstellung war, den „natürlichen“ Zustand „heiliger Unschuld“, in den ein Kind angeblich geboren wird, möglichst lange zu erhalten.

 

Jegliche Informationen auf dem sexuellen Gebiet sollten Kindern und Jugendlichen auf keinen Fall zugänglich sein und jede Neugier im  Keim erstickt werden , indem man das Thema als schmutzig und ekelerregend darstellte. Sexuelle Unwissenheit war (bei Kindern) gleichbedeutend mit Reinheit.

 

Eine andere Ansicht war, dass man den Gefahren nur durch frühzeitige „sexuelle

 

Aufklärung“ begegnen könne. Nach dieser Auffassung war sexuelle Unwissenheit gefährlicher als sexuelles Wissen , da es zu schädlichen Missverständnissen und Phantasien führen könne.

 

Entsprechend dieser allgemeinen Auffassung wurde an einigen für die damalige Zeit „progressiven“ Schulen erstmals „Aufklärungsunterricht“ gegeben. Das Ziel war, einen Sinn für Sittsamkeit und eine „gesunde Scheu“ vor sexuellen Dingen zu vermitteln. Die Methode der Sexualerziehung bestand im Fernhalten und  Ablenken von der Sexualität und in der Abschreckung. So wurden die anatomischen Unterschiede zwischen Mann und Frau im Leichenschauhaus demonstriert. Zusätzlich wurden Schüler in Krankenhäuser und Siechenheime geführt, um ihnen Syphilitiker und Wahnsinnige als Opfer der Masturbation vorzuführen.

 

Kurzum, der eigentliche Zweck des gesamten Unternehmens war nicht so sehr, die Jugend über sexuelle Dinge aufzuklären, als sie vor Versuchungen zu warnen.

 

Mit der Französischen Revolution von 1789 wurde die Forderung nach sexueller Erziehung für Jungen und Mädchen gestellt. Leider schwächte sich der sexualrevolutionäre Impuls schnell wieder ab. Das Thema „Sexualität“ verschwand wieder aus den Lehrplänen, kaum dass es richtig eingeführt worden war. 

 

Nicht nur in Frankreich, sondern überall in Europa wurde das Bürgertum immer mächtiger und zunehmend konservativer. Mit dem Aufstieg der Mittelschichten in Europa und Nordamerika wurde die Verbreitung sexuellen Wissens zunehmend eingeschränkt.

 

Dies führte soweit, dass es zu extremer Zensur auf dem gesamten Gebiet der Information über  Sexualität kam. Es gab überhaupt keine Erwähnung sexueller Aspekte in Lexika, Sachbüchern,  Bibeln, Kinderbüchern, Märchenbüchern usw. und auch im täglichen Leben mussten die geringsten Anspielungen auf dieses Thema in jeglicher Hinsicht vermieden werden. Es wird auch von der „Verschwörung des Schweigens“ gesprochen.

 

Unwissenheit und Heuchelei breiteten sich aus, und viele schwer erkämpften bürgerlichen Freiheiten gingen rasch wieder verloren. Diese zunehmende Prüderie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war  eine internationale Erscheinung ungekannten Ausmaßes.  In England  bringt man diese Entwicklung mit der Regierungszeit der Königin Viktoria in Verbindung, woher der Begriff des Viktorianischen Zeitalters rührt.

 

Die Kirche mit ihrem Sündenbegriff und ihrer Leibfeindlichkeit  spielte und spielt bis in die Gegenwart eine große Rolle bei der Unterdrückung der Sexualität.

 

Sämtliche Ursachen dieser historischen Entwicklung wurden jedoch nie völlig geklärt. Sie sind aber großenteils im direkten Zusammenhang mit der allgemeinen Industrialisierung zu sehen. Verwissenschaftlichung und  Technisierung, Verstädterung, Industrialisierung und der voranschreitende Kapitalismus verlangten einen Menschentypus, der diesen neuen Entwicklungen besser angepasst war als der mittelalterliche Mensch. Die veränderten Umweltbedingungen erzwangen von den Menschen eine neue Art und Weise des Umgangs mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit der Erziehung,  der sachlichen Umwelt  und den großen Lebensfragen (Vgl. KENTLER 1975, S. 33).

 

Industrialisierung bedeutet, dass eine Gesellschaft sich durch den Arbeitseinsatz ihrer Mitglieder aus Armut und Naturabhängigkeit herausarbeitet. In der Aufbauphase sind daher Verzichtsbereitschaft, Selbstbeherrschung und aufopferungsvoller Arbeitseifer notwendige Tugenden. Das Mittel, um diese zu erreichen, war die sexualfeindliche Erziehung. Durch sie lernten die Menschen, ein so drängendes und immer aktuelles Bedürfnis wie die Sexualität unwichtig zu nehmen und seine Befriedigung für längere Zeit aufzuschieben.

 

Aus dem sinnenfreudigen, sexualbejahenden Menschen wurde der asketische, prüde, leistungsbesessene Mensch der frühen Neuzeit.

 

Diese anspruchslose, genügsame Einstellung zum Leben zog einen extrem sparsamen Umgang mit den sexuellen Kräften, Konsumverzicht und die Unterwerfung unter ein strenges Leistungsprinzip nach sich.

 

Die Frage, welcher materielle Nutzen für den Menschen persönlich dabei herausspringen würde, blieb völlig außer acht.

 

Es wurde nicht mehr gearbeitet, um zu leben, sondern gelebt,  um zu arbeiten.

 

Da die meisten Menschen den Forderungen dieser sexualfeindlichen Erziehung nicht gerecht werden konnten, entstand eine „doppelte Moral“: In der Öffentlichkeit werden moralische Grundsätze vertreten, im Geheimen aber die Triebbedürfnisse ausgelebt ( Z.B. Pornographie, Prostitution ).

 

Diese Epoche der extremen Sexualunterdrückung hatte fatalste Folgen für körperliche und seelische Gesundheit. Viele Kinder und Jugendliche wurden grausamen und überflüssigen „Behandlungen“ unterworfen, um sie zum Gehorsam zu formen und ihren Eigenwillen zu brechen (Vgl. SCHATZMANN 1974). Ein besonderer  Kampf galt der Masturbation  der Kinder und Jugendlichen (Vgl. USSEL 1975, vgl. PILGRIM  1975 ).

 

Diese Methoden  erscheinen uns heute wie Horrorszenarien, aus welchem Grunde ich sie nicht näher ausführen möchte.

 

Oft kam es allein durch die der unterdrückenden Sexualerziehung entstammenden Schuldgefühle zu  seelischem Leiden und ernsthaften Erkrankungen bis hin zu Selbstmorden.

 

Angst vor Sexualität bestimmte das ganze Leben.

 

Frank WEDEKINDs  Drama „Frühlingserwachen“ (1891) gibt uns noch heute einen erschütternden Einblick in die damalige repressive...

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