»Sexualität ist, was wir daraus machen. Eine teure oder eine billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form von Zärtlichkeit, eine Art der Regression, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung.« (Offit 1979, S.16)“ (Offit zitiert von Sielert 2005, S.37).
An diesem Zitat, von Offit in Sielert, wird die Vielfältigkeit des Begriffs „Sexualität“ deutlich. In Deutschland existierte nachweislich bis in das 17. Jahrhundert eine überaus reichhaltige Sprache über sexuelle Zusammenhänge, die es erlaubte über „das Sexuelle im Sinne genitaler Lust in vielfältigen Beziehungen des Menschen“ zu sprechen und zu schreiben. Dies wurde von einem belgischen Sexualforscher sowohl für den flämischen wie auch für den deutschen Sprachraum nachgewiesen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff „Sexualität“ auf das sich in dieser Zeit durchsetzende, eingeengte Verständnis „der Funktion des Sexuellen auf das Fortpflanzungsgeschehen“ übertragen. (vgl. ebd., S. 39; Sielert et al. 21993, S.14).
Ursprünglich stammt der Begriff „Sexualität“ aus der Biologie und wies hier auf das Vorhandensein männlicher und weiblicher Organismen hin[1]. Der Begriff „Sexualität“ entstammt dem lateinischen Secare (schneiden/ trennen) und Sectus (Trennung/ Unterscheidung), aus ihnen wurde das Wort Sexus aus dem im 20. Jahrhundert das Wort Sex/ Sexualität entstand und im Zusammenhang mit der Erotik verwendet wurde. (vgl. ebd.; Sielert 2005, S.39).
Seit den 70er Jahren (unter dem Einfluss der 68er Bewegung) wurde das Thema „Sexualität“ in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen (Medizin, Psychologie, Sexologie u.a.) kontrovers diskutiert. Aufgrund dieser vielseitigen Einflüsse besteht bis heute jedoch noch keine einheitliche Definition. (vgl. Leue- Käding 2004, S.29). Jede Wissenschaftsdisziplin setzt hierbei ihre eigenen Schwerpunkte, die Medizin z.B. auf die Reproduktionsfunktion und die organischen Vorgänge wie die Hormonproduktion.Einen weiteren Grund für das Fehlen einer einheitlichen Definition nennt Sielert:
Sexualität zu definieren, macht einige Mühe. Sexualität umfasst zu viel und zu Widersprüchliches, ist weitgehend dem Irrationalen und Unbewussten verhaftet. (Sielert 2005, S.37).
Weitere Gründe belegt Leue- Käding durch Zitate von Fröhlich und nennt hier unter anderem, dass der Wissenschaftszweig der Sexualität erst 100 Jahre existiert und das aufgrund der Vielzahl der bisher erschienen Publikationen und der vorherrschenden Strukturlosigkeit und Unübersichtlichkeit, eine einheitliche Definition noch nicht möglich war. („Fröhlich 1999a, 140- 142“zitiert von Leue- Käding 2004, S.29f.).
Um das Thema „Sexualität“ zu behandeln, müssen die Ergebnisse aus den verschiedenen Wissenschaftszweigen berücksichtigt werden. Burkert et al. nennt zu diesem Zweck die Wissenschaften: Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Anthropologie, Medizin, Theologie und Sexologie. Des Weiteren schreibt er, dass diese Ergebnisse in der praktizierten Sexualpädagogik wenig Beachtung bekommen und diese sich vorwiegend auf die biologische Wissensvermittlung begrenzt (besonders im Bereich der Schulsexualaufklärung). (vgl. Burkert et al. 1970, S.8).
Neben dem oben bereits erläuterten „Stand der wissenschaftlichen Kenntnisse“ müssen des weiteren die „Wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse“ berücksichtigt werden. Diese haben u.a. einen sehr großen Einfluss auf die Bewertung der Sexualität durch die Gesellschaft. Zu den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen im Nachstehenden ein Beispiel zur Verdeutlichung von Schmidt:
In der frühen Industrialisierungsphase westlicher Gesellschaften mussten alle erwirtschafteten Überschüsse zum Aufbau der Wirtschaft, zur Gewinnmaximierung, möglichst wieder investiert werden; Konsum und Bedürfnisbefriedigung wurden aufgeschoben. Eine Verzichtsmoral war die Folge, sie betraf keineswegs nur sexuelle, sondern alle sinnlichen und regressiven Bedürfnisse. Der Körper wurde diszipliniert und damit verplanbar für disziplinierte Arbeit. (Schmidt IN: Pro Familia 2001, S.157; vgl. Kiechle/ Wiedmaier 1998, S.11).
Diese Verzichtsmoral hatte bedeutende Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Wertungen und Moralvorstellungen. Die „Sexualität“ galt in dieser Zeit als „Kräfte zehrend“ und sollte sich negativ auf die „disziplinierte Arbeit“ auswirken und wurde somit von der öffentlichen Meinung negativ besetzt. Kiechle und Wiedmaier schreiben hierzu:
In dieser Zeit entstand“ (außerdem) „die kleinbürgerliche und systembegünstigende Vorstellung, dass Sexualität nur innerhalb der Ehe vollzogen werden darf, was zu einer extrem sexualfeindlichen Erziehung führte. Die aus dieser Erziehung entstandene negative Einstellung verfestigte sich über die Generationen, (ebd., S.11f.).
Menschen (bzw. Eltern), die unter diesen repressiven Bedingungen aufwuchsen, bewerten zweifelsohne die „Sexualität“ anders als Kinder und Jugendliche „die heute unter sexualisierten Umweltbedingungen und einem sexualfreundlichen Elternhaus aufwachsen.“ (vgl. Sielert 2005, S.54).
Die Sexualität steht immer unter den gesellschaftlichen Einflüssen und ist daher eine gesellschaftliche Kategorie. Sielert schreibt hierzu: „Das natürliche Moment am Sexuellen lässt sich vom gesellschaftlichen nicht trennen.“ (ebd., S.42). Sigusch schreibt aus sozialwissenschaftlicher Sichtweise der Sexualität: „Der Mensch ist von Natur aus gesellschaftlich, und seine Sexualität ist es auch“ (Sigusch IN: Pro Familia 2001, S. 144). Die gesellschaftlichen Ansichten prägen somit die individuelle Ebene und das Sexualverhalten, wie auch die Sichtweise der Funktion in derselben Weise. Diese meist im unbewussten verinnerlichten Normen und Werte der Gesellschaft beeinflussen unbewusst und der direkten Kontrolle entzogen die psychischen Vorgänge. Zu den psychischen Vorgängen, die die menschliche Sexualität beeinflussen, gehören unter anderem die Sinneseindrücke, die sexuelle Wünsche erwecken. Persönliche Einstellungen und das Gewissen steuern die sexuellen Triebe, Wünsche und Gefühle, die sexuelle Handlungen begleiten. Die psychischen Vorgänge und die organischen Vorgänge beeinflussen sich wechselseitig. (vgl. Burkert et al. 1970, S.12). Mit organischen Vorgängen sind hier unter anderem die Hormonproduktion (z.B. die Menstruation) oder die Beschleunigung der Herzfrequenz bei sexueller Erregung gemeint. (vgl. ebd., S.11). Die psychischen und organischen Vorgänge beeinflussen das Sexualverhalten. Mit dem Sexualverhalten ist hier nicht nur der Geschlechtsverkehr gemeint, sondern unter anderem auch Masturbation, Kuscheln, Streicheln, Tragen reizvoller Kleidung u.a.. (vgl. ebd., S.12). Im Anhang (Abb.1: Die Komplexität der Sexualität) befindet sich ein Schaubild das die Komplexität des Themas (wie soeben erläutert) verdeutlicht. Dieses Schaubild muss jedoch meines Erachtens durch die Dreiteilung von Sporken ergänzt werden. Walter schreibt hierzu:
Der holländische Medizinethiker Sporken hat den Bedeutungsinhalt des Begriffes „Sexualität“ in einem Drei- Stufen- Schema erfasst: Sexualität meint nach Sporken 1) „das ganze Gebiet von Verhaltenweisen in den allgemeinmenschlichen Beziehungen (im sog. koedukativen Alltag), 2) im Mittelbereich von Zärtlichkeit, Sensualität, Erotik und 3) in der Genitalsexualität“ (Sporken, 1974, 159). (Sporken zitiert von Walter IN: Walter [Hrsg.] 62005, S.34).
Ich möchte den Begriff „Sexualität“ in den folgenden Ausführungen differenzieren. Der Begriff „Sexualität“ umfasst die ersten zwei Stufen des Drei- Stufen- Systems von Sporken und der Begriff „Genitalität“ bezieht sich ausschließlich auf den sexuellen Akt (Koitus wie auch Masturbation), also die dritte Stufe der Dreiteilung. Diese Differenzierung ist durchaus wichtig, da Sexualität viel mehr ist, als nur Genitalität, auch für Menschen mit geistiger Behinderung steht die Sexualität (anfassen, kuscheln, sich geborgen fühlen...) meistens im Vordergrund einer Partnerschaft. (ausführlich s. Kap. II. , 1). Sexualität ist ein Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit (von der Geburt bis in das Greisenalter) und lässt sich nicht nur auf die Genitalität und Reproduktion reduzieren. Lust, Befriedigung, Partnerschaft stehen eng mit ihr in Verbindung. Sexualität ist ein soziales Verhalten bzw. beeinflusst dieses, schon das Kind lernt Bewertungen, Vorschriften und Verbote in der Gesellschaft zu den Themen „Sexualität“ und „sexuelles Verhalten“.
Im vorangegangen Kapitel habe ich...