|23|2 Ätiologische Faktoren und Störungsmodelle
Nach dem biopsychosozialen Störungsmodell wird die sexuelle Funktion von einer Kombination aus biologischen, psychologischen und sozialen Einflüssen geprägt. Eine Übersicht über jene Risikofaktoren, die häufig mit sexuellen Problemen einhergehen bzw. diese begünstigen, kann helfen, gemeinsam mit einer Patientin ein individuelles Störungsmodell zu erarbeiten. Mithilfe eines solchen Störungsmodells kann dann die passende therapeutische Behandlungsstrategie gewählt werden.
2.1 Psychologische Faktoren
Es gibt bislang keine Hinweise darauf, dass einzelne psychologische Faktoren ursächlich für sexuelle Störungen bei Frauen sind. Es liegt jedoch nahe, dass bestimmte affektive Zustände oder Kognitionen die Wahrscheinlichkeit für sexuelle Probleme erhöhen. Zudem zeigt eine Vielzahl von Studien, dass psychologische Faktoren häufig gemeinsam mit sexuellen Funktionsstörungen vorliegen – ohne dass die Ursache-Wirkungszusammenhänge bislang geklärt werden konnten (Meana, 2012).
Persönlichkeit
Nur wenige Studien haben bisher den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und sexueller Funktion bei Frauen untersucht. Offenheit für Erfahrungen, eine Facette der Big Five (Ostendorf & Angleitner, 2004), ist mit stärkerem sexuellen Verlangen und einer liberaleren sexuellen Einstellung verbunden. Letztere scheint ebenfalls bei extravertierten Frauen stärker ausgeprägt zu sein. Neurotizismus hingegen ist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für sexuelle Störungen assoziiert (Osborn, Hawton & Gath, 1988).
Dysfunktionale Kognitionen zu Sexualität
Welche Einstellung eine Frau zu Sexualität im Allgemeinen und ihrem persönlichen Sexualleben im Speziellen entwickelt, ist sowohl von persönlichen als auch von sozialen und gesellschaftlichen Faktoren abhängig. Auch wenn sich das gesellschaftliche Klima in Bezug auf viele Aspekte der Sexualität (z. B. Sex außerhalb der Ehe, nicht heterosexuelle Orientierung, sexuelle Selbst|24|bestimmung der Frau) im Vergleich zu den 1950er-Jahren deutlich entspannt hat und als weniger sexualitätsfeindlich beschrieben werden kann, unterscheiden sich auch heutzutage Frauen darin, wie offen sie über sexuelle Belange kommunizieren und welche persönliche Haltung sie gegenüber sexuellen Themen einnehmen. Eine ablehnende oder negative Einstellung zu Sexualität kann dabei sexuelle Störungen begünstigen. Einige Studien konnten zeigen, dass konservativere sexuelle Einstellungen und Religiosität mit geringerer sexueller Funktion einhergehen (Sims & Meana, 2010).
Auf der anderen Seite kann gerade durch die größere sexuelle Liberalität auch Leistungsdruck empfunden werden, sexuell zu genügen, mitzuhalten oder zu funktionieren. Dieser Druck wird dabei nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen ausgeübt. Wenige Frauenzeitschriften – egal ob für Teenager, Mütter oder reifere Frauen – kommen ohne Empfehlungen aus, wie Sex noch besser, erfüllender oder spektakulärer gestaltet werden kann oder beschreiben im Detail, welche Fähigkeiten eine gute Liebhaberin ausmachen. Werden derartige Botschaften internalisiert, kann dies zu Minderwertigkeits-, Scham- oder Schuldgefühlen führen, welche einer befriedigenden Sexualität im Wege stehen.
Maladaptive Schemata
Frühe maladaptive Schemata sind definiert als umfassende Themen oder Muster aus Erinnerungen, Körperempfindungen, Emotionen und Kognitionen, die sich auf die Person selbst oder nahe Kontakte beziehen. Diese Muster entstehen in der Kindheit oder frühen Jugend und hindern die erwachsene Person daran, ihre psychischen Grundbedürfnisse, z. B. nach Nähe oder Selbstwerterhöhung zu erfüllen (Jacob & Arntz, 2014). Frauen mit sexuellen Funktionsstörungen weisen mit höherer Wahrscheinlichkeit maladaptive Schemata in Bezug auf Minderwertigkeit („Ich bin inkompetent“) und Abhängigkeit („Ich brauche andere Menschen, um zurechtzukommen“) auf (Oliveira & Nobre, 2013). In negativen sexuellen Situationen werden dann bei betroffenen Frauen häufiger negative Selbstschemata aktiviert und diese Situationen im Kontext eines Versagens- oder Inkompetenzschemas („Ich bin schwach“, „Ich bin einfach unfähig“) interpretiert (Nobre & Pinto-Gouveia, 2009).
Körperbild
Ein weiterer Aspekt, der für die weibliche sexuelle Funktion besondere Bedeutsamkeit hat, ist das Körperbild. Ein schlechtes Körperbild, also die negative Bewertung oder Unzufriedenheit mit dem gesamten Körper oder einzelnen Körperteilen kann Frauen in ihrer sexuellen Funktion beeinträchtigen (Woertman & van den Brink, 2012). Großen Einfluss auf die Sexualität kann ein negatives Körperbild dann nehmen, wenn sich dieses auf bestimmte Kör|25|perteile (z. B. Brüste, Genitalien) bezieht, die mit sexueller Aktivität in direktem Bezug stehen oder eine Frau sich z. B. aufgrund von Übergewicht schämt, sich vor einem Partner nackt zu zeigen. Befeuert durch die weite Verbreitung der weiblichen Genitalrasur, hat das Aussehen der Vulva bzw. der Schamlippen in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Eine chirurgische Verkleinerung der Labia minora hat die Brustoperation als häufigste Schönheitsoperation bei jungen Frauen abgelöst.
Merke
Auf eine genaue Exploration des Körperbildes sollte aus diesem Grund bei keiner Patientin verzichtet werden. Sie sollte auch erfolgen, wenn die Patientin aufgrund ihrer Jugendlichkeit oder Attraktivität kein problematisches Körperbild nahelegt. Oder auch dann, wenn die Therapeutin bei einer älteren Patientin (irrtümlich) vermutet, dass das Körperbild ab einem bestimmten Lebensalter keine Rolle mehr spielen dürfte.
Wird ein problematisches Körperbild als wichtiger ätiologischer Faktor für die sexuelle Störung identifiziert, bilden körperbezogene Selbsterfahrungs- und Spiegelübungen wichtige Behandlungsbausteine (siehe Kapitel 4.1.2.4).
Sexueller Missbrauch
Frauen, die sexuell missbraucht wurden, entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit sexuelle Störungen im Erwachsenenalter. Anders als früher angenommen, scheint es jedoch keine spezifischen Zusammenhänge zwischen z. B. sexuellem Missbrauch in der Kindheit und der Entwicklung spezifischer Störungen, wie Vaginismus, zu geben (Reissing, Binik, Khalif, Cohen & Amsel, 2003). Wenn aufgrund der Missbrauchserfahrungen oder anderer Traumatisierungen eine Posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, sollte diese vorrangig behandelt werden, bevor sexualtherapeutische Interventionen zum Einsatz kommen.
(Leistungs-)Angst
In den Anfängen der klassischen Sexualtherapie galt Leistungsangst als wesentlicher Faktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung sexueller Funktionsstörungen (Masters & Johnson, 1970). Die Überzeugung war, dass die autonome Erregung, die mit der Angst verbunden ist, hemmend auf die sexuelle Erregung wirkt und eine sexuelle Reaktion unmöglich macht. Diese Sichtweise erwies sich jedoch als falsch: Barlow (1986) konnte nachweisen, dass Angst sexuelle Erregung sogar verstärken kann; und zwar bei Männern, die nicht unter sexuellen Problemen leiden. Bei Männern, die bereits unter einer Erektionsstörung litten, sorgte Angst tatsächlich zu einer Reduktion der |26|Erregung. Diese Ergebnisse wurden so interpretiert, dass es vielmehr die kognitiven Aspekte der Leistungsangst (z. B. im Sinne von Sorgen über die sexuelle Funktion) sind, die dazu führen können, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sexuelle Reize oder Stimulation gerichtet wird. Diese Ablenkung kann dann dazu führen, dass sich sexuelle Probleme chronifizieren.
Sexuelle Exzitation und Inhibition
Nach dem Dualen Kontrollmodell (Bancroft, 2009) unterscheiden sich Personen darin, wie leicht sie durch sexuelle Stimuli erregbar sind (sexuelle Exzitation) und wie leicht ihre Erregung durch störende Einflüsse gehemmt wird (sexuelle Inhibition). Im Geschlechtervergleich ist die „sexuelle Bremse“ bei Frauen tendenziell stärker ausgeprägt und das „sexuelle Gaspedal“ weniger empfindlich als bei Männern. Beide Faktoren sind mit sexuellen Problemen bei Frauen assoziiert (Velten, Scholten, Graham & Margraf, 2016b). Frauen mit starker sexueller Inhibition fühlen sich häufig von Sorgen oder anderen grüblerischen Gedanken beim Sex abgelenkt, benötigen besonders viel Vertrauen zu einem Partner, um sich fallenzulassen, und können sich nur auf Sex einlassen, wenn „alles ...