Die Opfer des sexuellen Missbrauchs stehen unter einem starken Geheimhaltungsdruck, welcher durch Äußerungen des Täters, aber auch durch psychische Empfindungen des Kindes, wie Scham-, Schuld- und Angstgefühle, aufrechterhalten wird.[185] Verbale Äußerungen über die Geschehnisse sind somit kaum möglich. Aber fast alle Kinder wenden bestimmte Strategien an, um den Missbrauch abzuwehren, zu ertragen oder um auf sich aufmerksam zu machen.[186] Derartige Hinweise oder Symptome sind aber keinesfalls eindeutig. Jedes Kind entwickelt individuelle Verarbeitungsstrategien und zeigt somit individuelle Symptome. Verhaltensauffälligkeiten sind ebenso abhängig vom Alter und Geschlecht des Kindes. Auch hat die Opfer- Täter- Beziehung einen entscheidenden Einfluss auf die kindlichen Verarbeitungsprozesse:
„Je mehr ein Kind einem Erwachsenen vertraut und auf dessen emotionale Unterstützung angewiesen ist, desto größer ist der Vertrauensverlust, der Verrat, die Enttäuschung, die gefühlsmäßige Zerrissenheit und die Verwirrung des Kindes über den sexuellen Missbrauch.“[187]
Ebenso wirken sich der Zeitpunkt des Missbrauchsbeginns, Intensität und Dauer der Übergriffe, sowie der Altersunterschied zwischen Opfer und Täter unterschiedlich traumatisch aus. Eine enge Korrelation besteht auch zwischen der Anwendung von Zwang und Gewalt und dem Ausmaß der Folgen.[188] Reagieren die Eltern bzw. die Mutter ablehnend oder bestrafend auf den Missbrauch, kann das eine zusätzliche Traumatisierung des Opfers bedeuten. Darüber hinaus haben die Qualität therapeutischer Interventionen und die Stabilität der kindlichen Psyche erhebliche Relevanz auf mögliche Folgen.[189] Die Schäden, die sexuelle Übergriffe hinterlassen, sind also individuell und sehr unterschiedlich.
Nicht jedes Kind empfindet den sexuellen Missbrauch als traumatisch. Untersuchungen haben gezeigt, dass zwischen 21% und 36% der missbrauchten Kinder gar keine unmittelbaren Symptome zeigen.[190] Diese Untersuchungsergebnisse widersprechen der noch vielfach in der Literatur herrschenden Meinung, dass jede Art des sexuellen Missbrauchs negative Auswirkungen auf das Leben der Opfer hätte und entstehende Schäden nahezu irreparabel seien.[191] Solche Thesen beruhen auf klinischen Studien oder Befragungen von Frauen, die Beratungsstellen aufsuchten. Dieses Klientel nahm diese Hilfsangebote aber gerade deshalb wahr, weil es sehr traumatisierende Übergriffe erlebte. Derartige Untersuchungen lassen demnach keine generalisierenden Schlüsse zu.[192]
Die in der Literatur zu findenden „Symptomtabellen“ für sexuellen Missbrauch sind deshalb mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Zum einen können sie nicht für alle Kinder in gleicher Weise herangezogen werden, da Verarbeitungsmechanismen individuell und von verschiedenen Faktoren abhängig sind. Zum anderen muss ein Auftreten dieser Symptome nicht gezwungenermaßen auf einen sexuellen Missbrauch hinweisen. Sie können ebenso andere Ursachen, wie z.B. psychische oder körperliche Misshandlung, Scheidung der Eltern, Tod eines Angehörigen, Umzug oder jegliche Art von Belastungen haben. Werden diese Listen dazu genutzt, um beim Kind nach bestimmten Symptomen zu suchen, welche anschließend als Indiz für das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs gewertet werden, kann dies gravierende Folgen haben.[193] Leider wird auch in der vorliegenden Literatur noch behauptet, dass ein gehäuftes Auftreten der in den Listen zu findenden Symptome sehr stark auf sexuellen Missbrauch hindeuten würde.[194] Einige Autoren animieren sogar dazu, beim Vorliegen bestimmter Symptome zunächst einmal den sexuellen Missbrauch als Ursache in Betracht zu ziehen, und auf diesen Verdacht hin weitere Nachforschungen zu betreiben:
„Und wenn wir diesen Gedanken [des sexuellen Missbrauchs] einmal gefaßt haben und feststellen, er hat sich eingenistet in unserem Kopf, wir werden ihn nicht mehr los, dann sollten wir uns dringend weiter damit beschäftigen, denn es ist immer noch so wenig alltäglich, über sexuellen Mißbrauch nachzudenken, daß wir bei genauerem Hinsehen meist erkennen werden, daß es einen Anlaß für unser ungutes Gefühl gegeben hat. Der muß dann überprüft werden, bis sich unser Verdacht bestätigt oder erledigt hat.“[195]
Mir sind leider keine Erhebungen bekannt, aus denen ersichtlich wird, wie viele Menschen in Deutschland zu Unrecht verdächtigt wurden, aber ich möchte hier eindringlich vor einer vorschnellen Bewertung warnen.
„Sexueller Mißbrauch kann zahlreiche Anzeichen und Symptome hervorrufen. Sie alle können- einzeln oder in Gruppen- auf sexuellen Mißbrauch hindeuten. Doch selbst, wenn Sie eine Häufung von in Frage kommenden Symptomen beobachten, stellen diese noch keinen Beweis für sexuellen Mißbrauch dar.“[196]
Trotz aller Bedenken möchte ich in diesem Kapitel einige Folgen und somit auch mögliche Erkennungsmerkmale des sexuellen Missbrauchs vorstellen, da ich denke, dass gerade Pädagogen, die in ihrer alltäglichen Arbeit mit Kindern und somit auch mit potentiellen Opfern konfrontiert werden, für Verhaltensauffälligkeiten sensibilisiert werden sollen. Sexueller Missbrauch sollte dabei als einer von vielen möglichen Gründen für Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in Betracht gezogen werden. Es muss aber stets bewusst sein, dass eine Verhaltensänderung bei Kindern multikausal sein kann. Sensible Nachforschungen sind deshalb nötig.
In diesem Kapitel beschränke ich mich, nachdem ich kurz einige Abwehrstrategien der Kinder aufzeigen möchte, auf die Darstellung der kurz- und mittelfristigen Folgen. Erörterungen zu langfristigen Folgen würden zu sehr von der Thematik abweichen, bei der es um Präventionsarbeit in der Grundschule geht. Aus diesem Grund möchte ich mich ebenso auf mögliche Folgen und Erkennungsmerkmale des sexuellen Missbrauchs bei Grundschulkindern beschränken.
Kinder entwickeln, abhängig vom Alter und von den sich ihnen bietenden Möglichkeiten, verschiedene Strategien, um dem Täter aus dem Weg zu gehen.[197] Bei außerfamiliärem Missbrauch versuchen sie in der Regel eine Zusammenkunft zu vermeiden. Wohnt der Täter allerdings in der gleichen Wohnung wie das Opfer, ist ein Zusammentreffen unvermeidbar. Die Kinder versuchen sich vor den Übergriffen zu schützen, indem sie bestimmte Abwehrmechanismen entwickeln. Sie rücken beispielsweise Möbel vor die Tür, oder bauen zum Schutz ihr Spielzeug im Zimmer auf.[198]
„Die vierjährige Anne streut z.B. Popcorn vor die Zimmertür. Die Kleine hofft, daß es ´knacken wird, wenn der Täter darauf tritt. Dann will sie schnell aufstehen, aufs Klo gehen und ganz laut abziehen. Das wird Mama bestimmt hören.“[199]
Häufig schlafen die Kinder voll bekleidet, oder wickeln sich in unzählige Decken ein. Einige nehmen ihre Haustiere mit ins Bett oder laden häufig Übernachtungsgäste ein. Betroffene Kinder kommen auch oft zu früh zum Unterricht, oder vermeiden es, nach Schulschluss nach Hause zu gehen.[200] Lehrerinnen sollten hier aufmerksam werden. Hinter derartigen Verhaltensweisen muss zwar nicht gezwungenermaßen ein sexueller Missbrauch stecken, aber eventuell existierende familiäre oder sonstige Probleme sollten in Betracht gezogen werden.
Die Formen der konkreten Abwehrmechanismen sind vielseitig. Oftmals schaffen es die Opfer, indem sie dem Tätern Widerstand entgegenbringen, eine Intensivierung oder Fortdauer des Missbrauchs zu verhindern:
„Immerhin konnten 66% der von Russel (1986) befragten Frauen verhindern, daß die Gewalttat auf ein intensiveres Niveau überging. Auf ihre Frage nach den primären Widerstandsstrategien erhielt Russel folgende Antworten: Gut ein Fünftel aller Frauen wehrte sich körperlich, ein weiteres Fünftel versuchte zu fliehen, und ein knappes Viertel wandte verbale Strategien an. 7 Prozent versuchten, sich Hilfe bei Dritten zu holen, und ein weiteres Viertel wandte andere Strategien an.“[201]
Einige Täter lassen sich zwar von kindlicher Gegenwehr, aus Angst vor einer Aufdeckung der Übergriffe, abschrecken. Anderen Tätern imponieren diese Abwehrstrategien allerdings wenig. Sie erhöhen den Geheimhaltungsdruck auf die Kinder und wenden sogar massive körperliche Gewalt an.[202]
Das unmittelbare Erleben des Missbrauchs wird bestimmt von einer Vielzahl an Emotionen, welche für das Kind sehr verwirrend sein können. Die häufigsten Empfindungen sind Ekel, Verwirrung, Ohnmacht und Scham.[203] Das Erleben der Missbrauchssituation ist individuell und abhängig vom Entwicklungsstand, der Persönlichkeit des Kindes, der Beziehung zwischen Täter...