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Das South Bend meiner Kindheit und Jugend
Hier, am westlichen Rand der Östlichen Zeitzone, dämmert es spät. Wir sind so weit von der Küste entfernt, dass unser erster Sonnenaufgang eines neuen Jahres erst nach acht Uhr morgens beginnt. Die meisten Januartage sind bewölkt, was den Sonnenaufgang zu einem versteckten, schrittweisen Prozess macht. Statt eines Augenblicks, in dem der Tag anbricht, ist es eher eine kalte Veränderung nach der künstlich beleuchteten Nacht, während der der Schein der Straßenlampen zwischen dem bewölkten Himmel und der Schneedecke zu einem orangefarbenen Schimmer wird, der hell genug ist, um damit um vier Uhr morgens draußen Zeitung zu lesen.
Die erste Spur von Morgenlicht lässt daher die Dinge in der Tat dunkler wirken, während das bernsteinfarbene Licht der Nacht weicht und der Himmel die Farbe von stahlblauem Indigo annimmt. Die unterschiedlichen Lichtsorten werden ringsumher sichtbar, angefangen bei der hellen Umgebung bis zu vereinzelten Lichtpunkten am Horizont. Das Allgemeine macht nach und nach das Besondere sichtbar.
Wenn man diesen Vorgang durch die Fenster des Eckbüros des Bürgermeisters im vierzehnten Stockwerk betrachtet, kann man sich leicht vorstellen, auf der Kommandobrücke eines Schiffs auf See zu stehen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn es draußen windig ist und Böen an den Panoramafenstern rütteln, was unverhältnismäßig viel Krach macht. So als würde das gesamte Gebäude von einer steifen Brise gepackt. Ein paar Schneeflocken wirbeln durch die Luft und fliegen am Spiegelbild des eigenen, vom Neonlicht erhellten Gesicht vorbei. Da meint man, sich an einem Möbelstück festhalten zu müssen, um stabil stehen zu bleiben.
Es war so ein Morgen im tiefsten Winter, am Neujahrstag 2012, meinem ersten Tag als Bürgermeister von South Bend, einer Stadt mit hunderttausend Einwohnern im Norden Indianas. Meiner Heimatstadt. Während ich über meinen noch leeren Schreibtisch in das Blau einer winterlichen Morgendämmerung im Zeitlupentempo blickte, und der Himmel nicht mehr orangefarben, aber auch noch nicht grau war, überlegte ich, was ich mit den ersten Minuten meiner noch nicht verplanten Zeit tun sollte.
Tag eins hatte früh mit einem Besuch in der Garage der Straßenmeisterei begonnen, um die Trupps des Winterdiensts zu motivieren. Danach hatte ich einen Stopp beim Memorial Hospital eingelegt, um unser Neujahrsbaby Caleb zu begrüßen. Inzwischen befand ich mich oben in meinem neuen Büro und hatte für den Rest des Tages reichlich Termine. Bis hin zu der offiziellen Vereidigungszeremonie, die für den Abend angesetzt war. Aber was genau sollte ich in diesem einen, nicht verplanten Moment tun? Meine Rede ein weiteres Mal durchgehen? Mein neues E-Mail-Postfach als Oberhaupt der Stadt öffnen? Noch mal die Wettervorhersage checken, entschied ich, und herausfinden, wie es den Fahrern der Schneepflüge erging.
Schnee kann etwas Wunderbares sein. Kinder empfinden ihn als großen Wohltäter, weil er schulfrei und heiße Schokolade und Schlittenfahrten verspricht. Doch für jeden Bürgermeister, auf den er fällt, kann er sich als tödlicher Feind erweisen. Ein Tag mit verpfuschtem Räumdienst trennt ihn vom politischen Desaster. Wie Mike Bloomberg erleben musste, kann ein heftiger oder schlecht verwalteter Schneesturm tagelange Kritik nach sich ziehen. Schlimmstenfalls kann eine Karriere, wie Michael Bilandic aus Chicago und John V. Lindsay aus New York am eigenen Leib erfuhren, dadurch völlig in Vergessenheit geraten. Selbst nachdem er schon geschmolzen ist, verfluchen Bürgermeister den Schnee des vergangenen Winters, weil das Schmelzwasser unweigerlich wieder friert und zum Erzeuger des anderen großen Feindes jedes Bürgermeisters wird: des Schlaglochs.
IN MEINER JUGEND LERNTE ICH, dass Schnee in Orten wie South Bend auch eine starke einigende Kraft erzeugen kann. Nachdem ein Schneesturm vorbei ist und die Wintersonne alles zum Glitzern bringt, kommen wir mit unseren Schaufeln nach draußen. Und während Wasser von Eiszapfen an den Regenrinnen der Garagen tropft, begeben wir uns auf die Straßen, um unsere Autos wieder auszugraben. Das wird eine soziale Aktivität, die auf fröhlicher nachbarschaftlicher Anteilnahme basiert. Schnee liefert auch die Grundlage für Gespräche. Auch wenn wir stolz darauf sind, damit fertigzuwerden, bietet ein anständiger Schneesturm Gesprächsstoff für Wochen, wenn nicht Jahre. Wie Regen für die Engländer lohnt Schnee für einen South Bender eine intensive Diskussion, auch wenn oder gerade weil er uns so vertraut ist.
Fragen Sie jeden, der alt genug ist, sich daran zu erinnern, und sie werden alles über den Blizzard von ’78 zu hören bekommen. Laut Aussage meiner Eltern war er selbst zweieinhalb Jahre später noch der universelle Gesprächseinstieg, als sie mit ihrem Umzugswagen aus Texas in der College Street ankamen. Kurz bevor ich auf die Welt kam. »Haben Sie schon mal von dem Schneesturm von ’78 gehört?«, wurde man gefragt. Egal ob beim Tanken, in der Kassenschlange des Martin’s Super Market oder bei einer Einladung zum Abendessen, während man sein Brathähnchen schnitt. Und war die Frage erst einmal gestellt, spielte es kaum eine Rolle, wie man darauf antwortete. Machen Sie sich auch heute noch auf Geschichten über den Blizzard von ’78 gefasst.
ENDE JANUAR JENES KALTEN JAHRES lag der Schnee bereits über einen Meter hoch. Die Meteorologen kündigten einen Schneesturm für Donnerstag, den 26. Januar, an. Einen, der vielleicht heftig werden würde, aber noch war niemand dessen historisches Ausmaß klar. Der Bürgermeister befand sich auf Reisen, daher trug der City Controller, der städtische Finanzchef, Pete Mullen automatisch die Verantwortung.
Als Pete im Büro eintraf, schneite es bereits heftiger, und für ihn war es schon ein fürchterlicher Tag gewesen. Er hatte sein übliches Morgenprogramm absolviert – Duschen, Rasieren und einen Anzug anziehen – und wollte sich gleich einen Kaffee machen, als er noch nach seinem zwei Wochen alten Baby sah und feststellte, dass das Kind nicht mehr atmete. Es war dunkelrot angelaufen. Pete hielt es kopfüber und klopfte ihm auf den Rücken. Aber es tat sich nichts. Da rannte er mit dem Kind im Arm die Treppe hinauf, weckte seine Frau und gab ihr das Baby, während er sich das Telefon schnappte, um den Notruf 911 zu wählen.
Bald trafen Streifenwagen, ein Feuerwehrauto und ein Krankenwagen ein, erinnerte Pete sich. »Wenn die hören, dass es um ein Baby geht, ziehen sie alle Register, um so schnell wie möglich zu kommen.« Zu dem Zeitpunkt schneite es noch nicht oder nur wenig. Ein Sanitäter schob dem Baby etwas in die Luftröhre und machte seine Atemwege frei, sodass es wenig später wieder normal ein- und ausatmete. Pete fuhr im Krankenwagen mit in die Notaufnahme des St. Joseph Hospitals, wo der Kinderarzt der Familie schon wartete, während Mary Lou besorgt mit den anderen Kindern zu Hause blieb. Nachdem sichergestellt war, dass es dem kleinen Jungen wieder gut ging, bot der Arzt an, Pete und das Baby nach Hause zu fahren und anschließend Pete zurück in die Stadt mitzunehmen.
Als er mittags schließlich im vierzehnten Stock eintraf, war Pete Mullen also schon erschöpft. Aber inzwischen war auch klar, dass dies ein schwerer Sturm werden würde. Ich kann mir vorstellen, wie Pete aus demselben Fenster blickte, vor dem ich jetzt stehe, und die sich verschlechternde Sicht bemerkte. Zuerst sieht man die West Side nicht mehr, dann nur noch die Gebäude auf der anderen Straßenseite, dann nur noch das Gerichtsgebäude unten und schließlich nur noch ein eintöniges weißes Schimmern, wo eigentlich die Stadt sein sollte.
Bis zum Nachmittag hatte Pete allen gesagt, sie sollten nach Hause gehen, aber sich auf ihren Dienst am nächsten Tag einstellen. Da er selbst nicht riskieren wollte, das Büro zu verlassen und dann nicht mehr dorthin zurückkehren zu können, suchte er sich eine Couch und verbrachte die Nacht dort. Nach fünf Stunden stand er, immer noch im Anzug, wieder auf. Weil der Wind den Schnee zu immer höheren Wehen zusammenblies, in denen Autos stecken blieben und die ganze Viertel unter sich begruben, harrte Pete noch zwei weitere Nächte aus und hielt in der Stadtverwaltung die Stellung. Am Donnerstag fiel die Temperatur auf minus 17,8 Grad Celsius, und der Wind wehte mit bis zu 88 Stundenkilometern. Schneefälle von knapp einem Meter Höhe trafen die Stadt frontal. Rekordverdächtig waren allerdings die Schneeverwehungen, die Höhen von drei Metern und mehr erreichten.
Die Chevrolet-Niederlassung in der Innenstadt verlieh einige Fahrzeuge mit Vierradantrieb an die Polizei, damit Rettungskräfte mobil blieben. Hatte man das Glück (oder Pech), in der Einsatzzentrale der Rettungskräfte in der Stadtmitte zu arbeiten, bekam man eventuell eine Mitfahrgelegenheit nach Hause. So wurde Pete ein-, bis zweimal täglich nach Hause gefahren, um nach seiner Familie zu sehen und sich umzuziehen. Dann setzte man ihn an der Ecke seines Blocks ab und rief seine Frau an, um ihr mitzuteilen, er sei unterwegs. Denn er musste sich erst über die nicht geräumte Straße und durch den fast brusthohen Schnee kämpfen. Fast eine Stunde später erreichte er schließlich keuchend seine Haustür, nur fünf Türen von dort entfernt, wo man ihn hatte aussteigen lassen.
Die Ressourcen der Stadt reichten nicht aus. Daher engagierte Pete gegen Bezahlung jeden Bürger der Stadt, der einen Pick-up-Truck mit Schneeschaufel besaß. Am Samstag ließen die Schneefälle nach, der Stress allerdings nicht, da den Leuten die...