Pjöngjang
Am dritten, unserem letzten Tag in Wladiwostok, sollen wir endlich Boris und Pawel treffen. Auf dem Weg zum Treffpunkt deponieren wir unser Gepäck im Bahnhof. Boris und Pawel erwarten uns schon im Anticafé, der eine in Jeans und schlichtem hellblauen Pullover, gut genährt und gut rasiert, der andere im karierten Hemd und mit akkuratem Dreitagebart, zwei Businessmen im Freizeitlook. Sie begrüßen uns in gepflegtem Englisch, der Verkehrssprache aller Mitglieder der globalen Kaste der Businessmen, und ich bin erleichtert, denn Englisch kann ich ganz gut. Katerina kann ebenfalls gut Englisch, und ich verstehe auch, was sie sagen will, weil ich sie sehr gut kenne.
Die Grüße aus Berlin überbringt sie dennoch mit einem Schwall russischer Worte, von denen ich annehme, dass es sich um Grüße aus Berlin handelt. Ich nicke höflich, wie ich es mir angewöhnt habe, wenn ich ungefähr verstehe, worum es geht, und entschuldige uns für unsere Verspätung. An Katerinas Blick erkenne ich, dass sie gerade dasselbe getan hat. «No problem», sagt Boris und fragt nach unserer ehrlichen Meinung zu Wladiwostok, ohne Political Correctness, ihn interessiere der Blick von außen auf seine Stadt immer sehr. Pawel erhebt sich. «Du bist ja auch ein Fan von Wladiwostok! Hier ist Selbstbedienung – was wollt ihr trinken?»
Ich hebe die Hände, ich könne mich um die Getränke kümmern, aber Pawel winkt ab, erklärt uns das Prinzip des Anticafés: Man trägt sich am Eingang mit Namen und Ankunftszeit ein, am Ende werden zwei Rubel pro Minute berechnet. Tee, Kaffee und Plätzchen bekommt man für ein freundliches Lächeln. Das sei Pawel nun bereit und willens einzusetzen. Unsere Verspätung habe allerdings bereits vierundsechzig Rubel gekostet, zwinkert Pawel. «Go ahead, dirty old bastard, it’s about one Euro», stößt ihn Boris in die Seite.
Warum er so einen tollen Cowboy-Akzent habe, will Katerina wissen. «Ach, das ist nur wegen der Filme, die ich gesehen habe. Ich war nie in den USA. Ich kann auch einen britischen Akzent nachmachen.» In tadellosem British English fährt er fort: «Während des Studiums war ich Mitglied in einem Studenten-Club, Model United Nations, das ist ein Debattierclub, wo die Arbeit der UN simuliert wird. Es gibt die gleichen Komitees, man diskutiert die gleichen Themen. Man lernt die Politik unterschiedlicher Länder zu verstehen und zu vertreten, man schmiedet Allianzen, wie es sie in der richtigen Welt gibt, und man spielt natürlich gegeneinander. Und all das geschieht auf Englisch, so übt man sich. Ich habe das drei Jahre lang gemacht.» Nach und nach wird sein Akzent wieder breiter. «Nach dem Studium habe ich dann für Caterpillar gearbeitet. Da brauchte ich auch ein bisschen Englisch.» Jetzt arbeitet er für eine Schweizer Firma.
Pawel kehrt mit großen Gläsern Milchkaffee an unseren Tisch zurück. Er ist Sales Executive beim größten Container-Frachtunternehmen der Welt.
Am Nebentisch sitzt ein junger Mann. Er scheint einem Westberliner Künstlermärchenland der siebziger Jahre entsprungen: jung, hübsch und ausgestattet mit Cordhose und einem überdimensionalen Hemdkragen. Er legt sein Buch beiseite. «Wo kommt ihr her?», mischt er sich in unser Gespräch und stellt sich als Artjom vor.
«Aus Berlin.»
«Aus Berlin!», wiederholt er feierlich. «Ich liebe die Berlinale! Eines Tages möchte ich einen Film auf der Berlinale vorstellen. Ich war noch nie in Berlin, auch nicht in Deutschland, aber später möchte ich in Berlin Film studieren. Ich bin bereit, dafür zu sterben.»
«Du übertreibst», sagt Pawel.
«Nein!», widerspricht Artjom. «Ich bin hier in Wladiwostok geboren. Mein Vater leitet das internationale Filmfestival in Wladiwostok, das Pacific Meridian. Er schafft es, Wladiwostok einmal im Jahr zur Kulturmetropole zu machen. Natürlich werden überwiegend Filme aus dem Asiatisch-Pazifischen Raum gezeigt, es kommen weltberühmte Regisseure, zum Beispiel der philippinische Filmemacher Brillante Mendoza, der macht unter anderem Horror, philosophischen Horror. Oder Apichatpong Weerasethakul, ein Vertreter der thailändischen Avantgarde. Sein Film Onkel Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben wurde 2010 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Während des Festivals in Wladiwostok vergesse ich Berlin und Europa. Dann will ich nur hier sein.»
«Wie ich gesagt habe, Wladiwostok ist eine großartige Stadt.» Boris lehnt sich zurück und verschränkt die Arme über der Fitnessbrust.
«Hast du denn schon einmal von unserem phantastischen Festival gehört?», stichelt Pawel.
«Nein, aber es ist doch gut, dass es hier so etwas gibt. Nicht nur in Moskau kann man gute Filme sehen.»
«Vergangenes Jahr bin ich allein nach Moskau geflogen», greift Artjom den Gedanken auf. «Ich wollte mir dieses Moskau doch einmal ansehen. Vielleicht interessante Leute aus der Filmwelt kennenlernen. Und was soll ich sagen? Hier bei uns ist es hügelig, und in Moskau ist es flach. Als ich auf dem Roten Platz stand, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Ich habe mich als Mensch noch nie so klein gefühlt. Im Dokumentarfilm Begegnungen am Ende der Welt von Werner Herzog gibt es eine geniale Szene: Eine Landschaft in der Antarktis, Berge, eine weiße Wüste, man sieht nur einen einzigen einsamen kleinen Pinguin, ein kleiner schwarzer Punkt, und dieser Punkt geht in Richtung des Gebirges. Warum geht er? Aus welchem Grund? Und warum erzählt der Meister ausgerechnet von Pinguinen? Es ist eine ziemlich interessante Tatsache, dass Pinguine manchmal irrsinnig werden. Plötzlich sind sie desorientiert und setzen sich ohne erkennbares Ziel von ihrer Kolonie ab, ohne dass es für ihre Kolonie nachvollziehbar wäre. Nun kann man diese Situation auf die Menschen übertragen – das könnte man machen, finde ich –, es fängt also einer an, einfach irgendwohin zu gehen. Warum denn? Wohin geht er denn?»
Man habe einen Tisch reserviert, löst Pawel kurzerhand die Frage nach dem Wohin, Nordkorea sei nur wenige Autostunden von hier entfernt, das Restaurant nur einige Gehminuten, man wolle die Gäste aus dem fernen Westen in ein nordkoreanisches Restaurant einladen, und wir freuen uns, dass Artjom die Einladung, uns zu begleiten, annimmt.
Echt nordkoreanisch erscheint mir die Karaoke-Darbietung dreier junger Damen in prächtigen bunten Gewändern. Das Pink, Türkis und Hellblau harmonieren perfekt mit der Einrichtung des Restaurants. Auf dem Karaoke-Bildschirm über unseren Köpfen flimmern koreanische Schriftzeichen, mutmaßlich die Texte der Lieder, über Bildern von Blumen, blitzsauberen Fabrikhallen und der glücklichen arbeitenden Bevölkerung des besten Landes der Erde. Die Sängerinnen können die Texte auswendig, sie würdigen den Bildschirm keines Blickes, stattdessen singt eine in Richtung Pawel, der jetzt seine Krawatte lockern würde, trüge er eine. Katerina übersetzt für mich aus der Speisekarte, die in Koreanisch und Russisch verfasst ist. Pawel übernimmt die Bestellung.
«Die Situation in Russland ist ja nicht die beste», hebt Artjom zu einem neuen Vortrag an, «eine Tragödie. Eine Katastrophe. Kunst ist wichtig. Kunst ist pluralistisch.»
«Was die politische Situation in Russland angeht», Boris macht Platz für die Vorspeisenplatte, «meinen die westlichen Länder, immer Bescheid zu wissen. Wir haben eine Website, die Nachrichten aus aller Welt ins Russische übersetzt, aus Europa, den USA, Japan, und man lernt die schlechtesten Meinungen über Russland kennen. Für Russland dagegen sieht es so aus, als wolle die NATO uns einkesseln, uns das geopolitische Wasser abgraben. Es geht um die balance of power. Wenn du in ein gefährliches Gebiet gehst, und du weißt, es ist gefährlich, wirst du dich vorbereiten, wenigstens dein Mobiltelefon mitnehmen und die Telefonnummer der Polizei auf die Schnellwahltaste legen. Wenn du in diese Zone gehst, ist es am besten, du verstehst zu kämpfen.»
Boris löffelt Kimchi auf Artjoms Teller, der bedankt sich mit einem Nicken und sagt: «Ich warte auf einen Filmemacher wie Werner Herzog. Es ist natürlich ziemlich schwierig für mich, für einen jungen Studenten, das Schaffen des weltberühmten Meisters irgendwie einzuschätzen, aber ich glaube, dass seine Filme besonders tiefe existenzielle Probleme des Seins ansprechen.»
Darauf weiß erst mal keiner was zu sagen. Boris angelt mit spitzen Stäbchen im Algensalat, Pawel wirft den abtretenden Sängerinnen einen bedauernden Blick hinterher, und ich konzentriere mich mit gesenktem Kopf auf etwas kleines Frittiertes. «Und wie geht es in Russland weiter?», fragt Katerina in die Stille.
Boris winkt ab: «Das wird sich nach den nächsten Wahlen zeigen. Bis dahin wird alles genauso stabil bleiben, wie es ist. Bis dahin ist alles vorhersehbar.»
«Und wann finden die nächsten Wahlen statt?»
«Das weiß ich gerade gar nicht.» Pawel schwenkt sein Bierglas. «Eigentlich ist es uns egal. Man wird uns bestimmt rechtzeitig informieren.»
Artjom träufelt Sojasoße auf Reisnudeln. «Es ist eine gute Zeit für die Avantgarde. Ostrowski hat gesagt: ‹Lichtstrahlen im finsteren Reich.›»
«Schau dir das große Interview mit Putin im Dezember an – und ich bin kein großer Fan von Putin», sagt Boris.
«Ein Sechs-Stunden-Interview!», fährt Pawel dazwischen.
«Nein, kürzer. Viel kürzer! Es war ungefähr vier Stunden lang.»
«Es war verdammt lang!»
«Tjuttschew hat geschrieben», Artjom wieder, «‹Verschweige, dämpfe und verhüll’ – all deine Träume,...