II. Hilfe zur Sinnfindung
Die Logotherapie Viktor E. Frankls
Sigmund Freud und Alfred Adler haben die Psychotherapie des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt. In der von Freud entwickelten Psychoanalyse wird der Mensch als einer gesehen, der vornehmlich lustorientiert lebt und durch die Befriedigung von Lust sein inneres Gleichgewicht wahrt. Adlers Individualpsychologie sieht den Menschen hauptsächlich als machtorientiert, um das Urerlebnis eines Minderwertigkeitsgefühls zu kompensieren. Kein Zweifel: Freud und Adler haben wesentliche Aspekte des Menschseins erkannt. Doch das, was Menschsein im Kern ausmacht, ist weder sein Wille zur Lust noch sein Wille zur Macht, sondern sein Wille zum Sinn. Viktor E. Frankl verdanken wir die Einsicht, dass der Mensch weder ein bloß Reagierender noch ein bloß Abreagierender, sondern ein in die Welt hinaus Agierender ist. Frankl zufolge bestimmt der Wille zum Sinn menschliches Handeln, Denken und Fühlen. Damit setzte er Freud und Adler die Logotherapie als „Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie“ entgegen. Sie versteht sich als sinnzentrierte Therapierichtung.
Hat mein Leben einen Sinn? Diese Frage stellt sich jeder Mensch in seinem Leben, der Religiöse wie der Atheist. Natürlich stellt sich niemand diese Frage in jedem Augenblick seines Lebens. Die Frage nach dem Sinn erübrigt sich, wenn Leben als sinnvoll empfunden wird. Aber sie kommt dann auf die Tagesordnung, wenn wir in Krisensituationen geraten, die die Routine des Alltäglichen durchbrechen. Leben wird plötzlich als sinnlos aufgefasst, wenn eine Ehe zerbricht, der Ehepartner stirbt, einer arbeitslos wird, Krankheit droht, einer mit seiner Zeit nichts anzufangen weiß und deshalb apathisch ist, sich wertlos fühlt oder mit Angstzuständen reagiert, kurzum: keine sein Leben tragende Perspektive mehr sieht.
Frankl spricht von existenzieller Frustration. Sie ist kein Anzeichen für eine körperliche oder seelische Krankheit. Es handelt sich vielmehr um einen gesunden Schmerz, eine Reaktion mit Signalcharakter, der jedoch vom Einzelnen richtig verstanden werden will. Nicht in dem Sinne, dass er sich in den Alkohol- oder Drogenrausch, vielleicht auch in noch mehr Arbeit stürzt. Dadurch würde die Frustration nicht bewältigt, lediglich übertüncht werden. Bei entsprechender seelisch-körperlicher Veranlagung kann existenzielle Frustration in Krankheit umschlagen. Frankl nennt sie noogene Neurose, also eine Neurose, die durch einen Mangel an Sinn beziehungsweise durch einen geistigen Konflikt ausgelöst wird und durch körperlich-seelische Störungen zum Ausdruck kommt.
Das Leiden an einer tiefen Sinnlosigkeit und lähmenden Leere wird mehr und mehr zur beherrschenden Krankheit unserer Zeit. In früheren Jahrhunderten suchten die Menschen Antwort auf die Fragen: Woher komme ich? Und wohin gehe ich? Erst durch die Lösung der sozialen Frage, durch die Entlastung von elementarer Daseinsvorsorge, stellt sich eine neue Frage – die nach dem Sinn des je eigenen Lebens. Wir verbringen nicht mehr unsere Lebenszeit fast ausschließlich damit, unser materielles Überleben zu sichern. Wir haben nun Zeit, Freizeit, freie Zeit, in der wir uns mit uns selbst beschäftigen können. „Die Menschen bekommen dann“, so Ernst Bloch, „jene Sorgen geschenkt, die sie sonst nur in der Todesstunde haben“, wo einer mit sich allein ist.
Immer mehr Menschen geraten in Lebenskrisen, obwohl sie keinerlei soziale Sorgen und Probleme haben. Es sind vielmehr die Übersättigung an materiellen Gütern und die Unfähigkeit, das eigene Leben von einer lebensthematischen Mitte her zu gestalten, und all dies zusammen treibt sie in den Zustand der Langeweile, der Initiativlosigkeit, der Apathie und somit in die existenzielle Frustration.
Wie der Mensch in den Zustand der existenziellen Frustration gerät, beschreibt Frankl so: „Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte und Triebe, was er tun muss. Und im Gegensatz zu früheren Zeiten sagen ihm heute keine Traditionen mehr, was er tun soll. Nicht wissend, was er muss, was er soll, weiß er aber auch nicht mehr recht, was er eigentlich will. Und die Folge? Entweder er will nur das, was die anderen tun, und das ist Konformismus. Oder aber umgekehrt: Er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen. Und da haben wir den Totalitarismus.“ (Theorie und Therapie der Neurosen, München 1988) Die noogene Neurose, quasi als dritte Variante neben Konformismus und Totalitarismus, wäre schließlich die Verzweiflung daran, dass er überhaupt einen Sinn des Lebens gibt.
Die Erfahrung der Sinnlosigkeit durch die Erfahrung von Sinn zu überwinden, dies versucht die Logotherapie zu ermöglichen. Frankl wehrt sich dagegen, dass bereits die Frage nach dem Lebenssinn als krankhaft abqualifiziert wird, wie Freud dies tat. In einem Brief an Marie Bonaparte schrieb er: „Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank …“ Dem hält Frankl entgegen: „Das In-Frage-Stellen des Lebenssinns kann […] niemals an sich etwa der Ausdruck von Krankhaftem am Menschen sein; es ist vielmehr eigentlicher Ausdruck des Menschseins schlechthin – Ausdruck nachgerade des Menschlichsten im Menschen.“ (Theorie und Therapie der Neurosen, München 1988)
Jeder Mensch stellt sich die Frage nach dem Sinn
Wenn der Wille zum Sinn als das entscheidende Motiv eines jeden Menschen angesehen wird, so trifft die Frage nach dem Sinn die Mitte menschlicher Existenz. Diese Frage muss im Zentrum psychotherapeutischen Handelns stehen. Für Frankl ist dies selbstverständlich, weil er sich gegen jeden Reduktionismus wendet, der menschliche Existenz womöglich nur auf seine Triebe reduzieren will. Die Frage nach dem Sinn ist für Frankl kein philosophisches Thema für elitäre Zirkel und Gedankenspielereien im Elfenbeinturm. Die Frage nach dem Sinn stellt sich jedem Menschen. Sie ist nicht gebunden an Alter, Geschlecht, Bildung, Kulturkreis.
Der Logotherapie geht es jedoch nicht darum, dass sie dem Ratsuchenden Sinn gibt, ihm einen Lebenssinn verordnet. „Sinn muss gefunden werden, und er kann jeweils nur von einem selbst gefunden werden […]. Sinn lässt sich also nicht verschreiben“ (Theorie und Therapie der Neurosen, München 1988), argumentiert Frankl. Ziel der Logotherapie ist es also, die Urmotivation des Menschen, dass jedes Leben in jeder Situation einen Sinn hat, freizulegen. Was jedoch konkret als Lebenssinn bestimmt wird, hängt an der individuellen Weltanschauung. Für sie sieht sich die Logotherapie aber nicht zuständig. Sie fragt lediglich nach dem Sinn individueller Existenz und nicht nach dem Sinn des Weltganzen. Für die Logotherapie ist zudem offensichtlich, dass der spezifische Sinn einer Person nicht objektivierbar ist, weil jeder Mensch einzigartig ist. Sinn kann demnach nicht verordnet werden, sondern muss von dem gefunden werden, der ihn sucht.
Der wesentliche Unterschied der Frankl’schen Konzeption zu anderen psychotherapeutischen Richtungen besteht darin, dass sie zukunftsorientiert ist. Herkömmliche Psychotherapie ist vorrangig störungs- und vergangenheitsorientiert. Sie will Symptome erklären, indem sie deren Entstehungsgeschichte aufschlüsselt. Natürlich kommt auch die Logotherapie nicht ohne die biografische Dimension menschlichen Lebens aus. Doch sie will keine „Archäologie der Seele“ betreiben, um zu erklären, wie einer geworden ist. Vielmehr betreibt sie eine „Futurologie der Person“, sucht also eine Antwort auf die Frage, wie einer sein Leben zukünftig gestalten kann. Sie will dem Patienten helfen, Sinnmöglichkeiten aufzuspüren. Vererbung, Erziehung, Umwelt, kurz die Vergangenheit – dies alles ist wichtig, um das Gewordensein eines Menschen zu beschreiben. Ohne dieses Wissen kann ein Individuum nicht verstanden werden. Aber niemand muss ein Gefangener seiner eigenen Vergangenheit bleiben, sondern kann sagen: Ich will anders werden. Nur der Neurotiker betont die Ursachen des Gewordenseins, um sie als Entschuldigung vor sich selbst und vor anderen anzuführen, dass er sich nicht verändert. Logotherapie ist also interessiert an dem gelingenden Leben von heute und morgen.
Was sind seelisch bedingte, das heißt, psychogen-neurotische Reaktionsmuster, die durch die Logotherapie beeinflussbar sind? Es sind dies angstneurotische, zwangsneurotische und sexualneurotische Reaktionsmuster. Deren Grundstruktur gleicht einer pathologischen Kettenreaktion, die sich zu einem Teufelskreis entwickelt. Beim Angstneurotiker etwa steht die Erwartungsangst am Anfang. Diese wiederum erzeugt eine Wiederholung des Symptoms, vielleicht dessen Verstärkung, vor allem aber Angst vor der Angst, die sich wiederum als Angst vor Ohnmacht oder Herzinfarkt beschreiben lässt, und schließlich Flucht vor der Situation, die Angst auslöst. Paradebeispiel dafür ist die sogenannte Agoraphobie, das heißt, jemand weigert sich, sein Haus zu verlassen. Hinter dieser Neurose steht die existenzielle Angst, das Leben zu verfehlen.
Der Zwangsneurotiker kämpft gegen Zwänge, die gleichzeitig Angst auslösen, etwa man könne sich selbst oder anderen etwas antun. Symptome,...