Die heutige Lebensbewältigung vollzieht sich im Wechselspiel von Individuum und gesellschaftlicher Umwelt. Dabei muss vom Einzelnen aktiv am Lebensentwurf gearbeitet werden und somit spielen die Fähigkeiten und Ressourcen, die das Subjekt zur Verfügung hat, eine entscheidende Rolle. Es können immer nur jene Ressourcen genutzt werden, die jeder Einzelne wahrnimmt und erschließen kann, aber auch die jeder Einzelne nicht wahrnimmt und nicht erschließen kann. Es mag auf den ersten Blick logisch sein, dass sich mehr Ressourcen positiv auswirken und weniger Ressourcen negativ auswirken. Jedoch kann ein Mangel an bestimmten Ressourcen Motivation und Antrieb geben, diese so schnell wie möglich zu erwerben und damit Entwicklungsprozesse aus einem Defizit erfolgreich zu gestalten. Umgekehrt kann eine Vielzahl von verfügbaren Ressourcen ungenutzt bleiben (vgl. Keupp u.a. 2008, S.198).
Um Fähigkeiten und Ressourcen für einen gelingenden Lebensentwurf näher bestimmen zu können, kann man das Kapitalsortenkonzept von Pierre Bourdieu (1983) zu Hilfe nehmen. Dabei wird der zunächst rein aus der Ökonomie stammende Begriff des Kapitals auf alle Lebensbereiche übertragen. Für Bourdieu ist Kapital akkumulierte Arbeit in Form von Material, aber auch in inkorporierter d.h. verinnerlichter Form, so kann z.B. das Wissen über ein gelesenes Buch oder eines gesehenen Filmes auch Kapital sein. Für identitätstheoretische Überlegungen ist dieses Konzept hilfreich, da es bestimmte Kapitalformen bzw. Ressourcen aufzeigt und quantifiziert, da es beschreibt, wie sich Ressourcen im sozialökonomischen Raum verteilen und interpretieren lassen, vor allem aber wie sich bestimmte Kapitalsorten umwandeln lassen und wie dabei Gewinne und Verluste auszumachen sind. Für Bourdieu (1983) gibt es drei primäre Kapitalsorten, nämlich das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital (vgl. Ahbe 1997, S.207, S.210f.; Keupp u.a. 2008, S.198f.).
„Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts; […]“ (Bourdieu 1992, S.52). Hierbei handelt es sich um alle materiellen Ressourcen bzw. Besitz, z.B. Geld, Grund und Boden, Produktionsmittel usw. Diese Form des Kapitals wird meist mittels Eltern und Herkunftsfamilie übergeben und hat großen Einfluss auf die Entwicklung bzw. den Erwerb anderer Kapitalsorten (vgl. Keupp u.a. 2008, S.199).
Kulturelles Kapital tritt in drei verschiedenen Formen zum Vorschein, nämlich inkorporiert, objektiviert und institutionalisiert. Inkorporiertes Kapital kann nur vom Individuum selbst erworben werden, indem es Zeit und Energie investiert. Es wird verinnerlicht, darum wird es ein Teil der Person und des Habitus einer Person und kann demnach nicht verschenkt, verkauft, oder getauscht werden. Die Verinnerlichung dieser Kapitalform kann intentional (vorwiegend über die Familie), aber auch unbewusst (z.B. durch Tradierung in einer bestimmten Region) stattfinden. Unter objektiviertem Kapital versteht man kulturelles Kapital, das materiell veranschaulicht werden kann (Gemälde, Schriften, Tonträger, usw.), materiell übertragbar ist, aber genau so viel Zeit und Energie bei der Aneignung kosten wie beim inkorporiertem Kapital. Ein Musikstück zu genießen oder ein Buch zu interpretieren usw. ist die eigentliche Leistung dieses Prozesses. Als institutionelles Kapital kann man das Resultat der Objektivierung von inkorporiertem Kapital verstehen. Dies sind staatlich anerkannte Zeugnisse, Abschlüsse, Titel usw., die das gesammelte kulturelle Kapital bescheinigen (vgl. Bourdieu 1992, S.53ff.).
Die Übermittlung kultureller Ressourcen erfolgt vorwiegend über die Herkunftsfamilie und ist weniger leicht zu vermitteln, als dies z.B. beim ökonomischen Kapital der Fall ist. Zum einen verlangt die Aneignung des kulturellen Kapitals Bereitschaft, Anstrengung und Zeit des Zöglings, zum anderen muss auch die Zeit für die Aneignung von den Übermittlern des Kapitals bereitgestellt werden. Deshalb stellt sich die Frage, wie viel verfügbare Zeit es in einer Familie gibt bzw. wie diese Zeit genutzt wird (vgl. Keupp u.a. 2008, S.200).
„Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ (Bourdieu 1992, S.63).
Sozialkapital kommt durch Austauschbeziehungen zwischen bestimmten Personengruppen (Familie, Partei, Nation, Club, usw.) zustande, in dem jeder Einzelne sich dafür einsetzt, dass das jeweilige soziale Netzwerk aufrechterhalten wird. Soziale Netzwerke werden durch Institutionalisierungsarbeit definiert (z.B. durch Heirat, Vereinsversammlungen, regelmäßige Veranstaltungen eines Clubs, usw.), wobei die jeweilige Gruppe ihre Beziehungen hervorhebt und sichert, um einen Nutzen daraus zu ziehen, aber auch um die Grenzen zu definieren und zu sichern. Der Austausch in der Gruppe führt zu Anerkennung und festigt wiederum die Gruppenzugehörigkeit, sodass jedes Gruppenmitglied zum „Wächter über die Gruppengrenzen“ (Bourdieu 1992, S.66) wird. Ständige Beziehungsarbeit ist nötig, um das Sozialkapital aufrecht zu erhalten und den Ertrag für aufgewendete Zeit und Geld rentabel zu halten. Das Sozialkapital konstituiert sich aus der Summe der Beziehungen, die jeder Einzelne verwirklichen kann, bzw. von dem Umfang an Kapital, die die Interaktionspartner mitbringen (vgl. Bourdieu 1992, S.63ff.).
Der Besitz der Kapitalarten spielt für die Identitätsentwicklung eine entscheidende Rolle. Vor allem geht es um die Umwandlung und Übersetzung der Kapitalien in einer Art und Weise, welche der Identitätsentwicklung förderlich wirken. Das Ausmaß der Transfers lässt sich in der aufgewendeten Zeit messen, die man benötigt eine Kapitalsorte in eine andere umzuwandeln, wobei es z.B. viele Güter und Dienstleistungen gibt, die ohne weitere Transferleistung durch ökonomisches Kapital erwerbbar sind. Durch ökonomisches Kapital können die anderen Kapitalarten durch die Investition von Zeit erworben werden und somit scheint das ökonomische Kapital der Ausgangspunkt für alle anderen zu sein. Dennoch kann man die umgewandelten Ressourcen bzw. Kapitalien nicht auf das ökonomische Kapital ganz zurückführen, denn alle anderen Kapitalsorten entwickeln sich nicht unter der Logik des ökonomischen Kapitals. So ist ökonomisches Kapital wenig hilfreich, wenn es darum geht, soziales Kapital in kulturelle oder materielle Ressourcen umzuwandeln, wenn man z.B. durch einen Freund im jeweiligen sozialen Netz auf ein Jobangebot aufmerksam wird. So können sich freundschaftliche Beziehungen, in die man normalerweise immer Zeit investieren muss, aber ohne einen Vertrag oder o.ä. festgelegt sind, sich als sehr hilfreich erweisen, aber auch umgekehrt, z.B. wenn man jemandem einen Gefallen getan hat und man nichts dafür zurückbekommt, weil der Interaktionspartner es nicht will oder nicht kann. Ähnlich ist es bei der Umwandlung von ökonomischen in kulturelles Kapital, bei dem die verfügbare Zeit zum Erwerb des kulturellen Kapitals das Messinstrument ist. Diese Zeit wird durch die Quantität des ökonomischen Kapitals bestimmt, z.B. wenn ein Jugendlicher nicht sofort in den Arbeitsmarkt geht, sondern weiter in die Schule geht und ein Studium absolviert usw. So wird dem Jugendlichen ermöglicht durch ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital zu erwerben, wobei die Qualität und Quantität des Erwerbs des Kapitals sich nicht notwendigerweise rentieren muss, es hängt nämlich davon ab, inwieweit sich der Jugendlich einbringt und die Möglichkeiten nutzt. Bei den Umwandlungsprozessen und der Reproduktion der Kapitalsorten ist es wichtig, so wenig Arbeit wie möglich zu investieren und so wenige Verluste wie möglich zu verzeichnen (vgl. ebd. 1992, S.70ff.).
Eine zweite Ebene der Transformationsleistung von Kapital haben Keupp u.a. (2008) beschrieben. Dabei geht es um „äußere Kapitalien“, die in Form von Instanzen der sozialen Umwelt, z.B. Freundeskreise, Institutionen, soziale Hilfeleistungen usw. existieren und durch „Übersetzungskategorien“ in „Identitätsrelevante innere Kapitalien/Ressourcen“ umgewandelt werden (Keupp u.a. 2008, S.202). Hier werden, nicht wie oben beschrieben, schon vorhandene Kapitalien in andere umgewandelt, sondern es werden vorhandene Kapitalien in persönlichkeitsrelevante Ressourcen übersetzt. Es werden drei Übersetzungskategorien beschrieben, die für jede Form von Kapital anwendbar sind (vgl. Keupp 2008, S.202).
Die erste Kategorie der Transformation wird als Optionsraum gesehen. Hier am...