Sklaverei – eine sehr alte Schlange
»Welche neue Form wird dieses alte Monster annehmen, in welcher neuen Haut wird diese alte Schlange daherkommen« (Frederick Douglass, 1865).
Der Mensch sei frei geboren, aber überall liege er in Ketten, sagte Jean-Jacques Rousseau im ersten Kapitel seines Gesellschaftsvertrags. Sklaverei, der Besitz von Menschen, ist heute weltweit verboten, aber es gibt sie immer noch als globales Phänomen, heute genauso wie durch die ganze Weltgeschichte hindurch. War ›der Mensch‹ je frei geboren?
Sklaverei bedeutet Gewalt von Menschen über den Körper anderer Menschen, es bedeutet in den allermeisten Fällen körperlichen Zwang zu schwersten und schmutzigsten Arbeiten oder zu Dienstleistungen sowie Mobilitätseinschränkung. Dazu kommen alle Formen und Folgen von Statusdegradierung, wie besonders der entwürdigende Kauf und Verkauf von Menschen. Einzelne der genannten Dimensionen, auch in Kombinationen, existieren weiterhin. Heute sind sie oft nicht mehr begründet mit der falschen, aber wirkungsvollen Theorie von eingefrorener ›äußerer‹ Statusdegradierung, d. h. Rassismus, sondern eher durch andere soziale oder ethnische Rangzuschreibungen. Sexuelle Verfügung ist sogar noch immer verbunden mit einem der Hauptmerkmale formeller Sklaverei – dem Kauf und Verkauf sowie der Kommodifizierung menschlicher Körper, oft im Rahmen irgendeiner Art illegaler Verschleppung oder Entführung. Aber Sklaverei bedeutet nicht nur sexualisierte Gewalt; auch die schlicht durch exzessive Gewalt erzwungene Arbeit für die jeweiligen Halter macht die Opfer zu Sklaven – heute ist das meist keinen Medienbericht mehr wert. Was hingegen nicht mehr existiert, ist die Legitimierung und Institutionalisierung durch formale Rechtssysteme sowie der Anspruch, ein einmal erworbenes Eigentum über das Mutterrecht (»Sklavenbauch gebiert Sklaven«) sozusagen legal zu verewigen. Aber selbst das gilt in Bezug auf Gebräuche weltweit nur bedingt.
Sklavenstatus und Sklaverei (oder besser: Sklavereien) sind offenbar ein nicht-evolutionäres Phänomen der Welt- und Globalgeschichte. Ich komme auf dieses fundamentale Problem noch mehrfach zurück. Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass Sklaverei zwar in bestimmten Gesellschaften eine stärkere Einbindung in vorherrschende Wirtschaftssektoren (wie Hauswirtschaft, Bergbau oder Plantagen), Institutionalisierung und Verrechtlichung erfahren hat in Form von sogenannten »hegemonischen Sklavereien«, aber nicht-institutionalisiert oder in anderen Formen der Institutionalisierung in allen Gesellschaften bis heute existiert hat und weiterhin existiert. Sklavereien und unfreie Arbeit treiben eher, wie ein Motor aus menschlichen Körpern, die Dynamiken von Wirtschaft und Reichtum an. Es gibt insofern keine evolutionistische Epoche der »Sklavereigesellschaft«; es gibt nur Gesellschaften mit mehr oder weniger ausgeprägten, mehr oder weniger institutionalisierten Sklavereien. Oder eben mit Sklavereiplateaus, wie ich es in vorliegendem Buch vorschlage. Besagte Plateaus setzen in der Welt- und Globalgeschichte irgendwann einmal ein; sie hören aber nicht auf und existieren auch unterhalb oder neben den jeweils späteren Plateaus (mit Ausnahme des weiter unten behandelten dritten Sklavereiplateaus). Ich bin auch nicht ganz sicher, ob wir nicht besser immer im Plural von Sklavereien sprechen sollten. Bei den Gesellschaften mit stärker ausgeprägten Sklavereien handelt es sich, möglicherweise seit der Bronzezeit, aber einigermaßen sicher seit der Uruk-Zeit im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, jeweils um staatlich oder imperial organisierte Gesellschaften oder um solche, die sich gegen Expansionen wehren bzw. auf Raub und Menschenjagd spezialisiert sind (räuberische Gesellschaften oder militaristic slaving societies). Erst seit dem 14. Jahrhundert verbanden sich Sklavereien, zuerst in Weltregionen, die mehr und mehr als »Westen« bezeichnet wurden, mit Institutionen und Firmen, deren Gesamtheit seit 1900 als »Kapitalismus« bezeichnet wird (siehe das dritte Plateau unten).
Sklaverei ist nur scheinbar tot. Bei näherem Hinsehen wird schnell klar, dass die großen und klar erkennbaren Sklavereien sich zu illegalen, meist kleinen und getarnten Sklavereien gewandelt haben. In diesem Wechsel des Aggregatzustandes der Sklaverei von groß und fest zu eher flüssig und klein sowie oft opportunistisch liegt der Bruch, den ihre formalen Abschaffungen im »Westen« oder auf seinen Druck hin 1792–1970 weltweit langfristig bewirkt haben. Die große Mehrzahl anderer, sagen wir ›kleinerer‹, verdeckter und mobiler Sklavereien, existiert weiter oder entwickelte sich neu. Prozesse der Versklavung und Zwangssysteme haben, vor allem seit dem ambivalenten Prozess von Abolitionen und Abolitionsdiskursen, zwar einen anderen historischen Aggregatzustand angenommen. Alle Sklavereien sind heute, wie bereits gesagt, illegal, aber es gibt mehr Versklavte als je zuvor in der Geschichte (zumindest was die geschätzten, bekannten und absoluten Zahlen betrifft).
Um das Rätsel der sich immer wieder häutenden Schlange Sklaverei zu lösen, will ich zunächst auf der Ebene von Welt- und Globalgeschichte Definitionen von Sklaverei darstellen und analysieren. Danach folgen, in einer sehr weiten historischen Perspektive, die Plateaus oder Stratifikationen von Sklaverei auf diesem Globus. Im Grunde ist dies ein anthropologisch-historischer Versuch, die genannten Aggregatzustände von Sklavereien in chronologische Schichten zu ordnen. Es wäre auch eine räumliche Ordnung von Sklavereitypen möglich, dann würden sich aber zu viele chronologische Sequenzen innerhalb einzelner Räume wiederholen. Die übergreifende räumliche Ordnung ist an Ozeanen und Hemisphären ausgerichtet.
Für mich gibt es eine relativ simple Zäsur zwischen Welt- und Globalgeschichte – ohne dass ich damit sagen will, dass bestimmte Imperien, Staaten, Kulturen oder gar Individuen nicht auch heute noch Weltgeschichte schreiben, dafür sorgt schon die sogenannte New Imperial History (die natürlich von britischen Historikern lanciert worden ist). Die Zäsur ist 1522. In diesem Jahr kehrte eines der Schiffe, mit denen Fernão de Magalhães, spanisch Fernando de Magallanes (dt. Magellan), 1519 aus Sanlucar bei Sevilla aufgebrochen war, nach fast genau drei Jahren im September 1522 nach Spanien zurück. Das Schiff hatte den Erdball umrundet. Damit war der Beweis für die Theorie des Globus erbracht. Im 16. Jahrhundert beginnt Weltgeschichte, die den Globus umfasst – reale Globalgeschichte. Und es entsteht der enge historische Zusammenhang von europäischem Kolonialismus, Massensklavereien, Imperien und Kapitalismus, verbunden und vorangetrieben durch neues Wissen, die Massenproduktion (von Nahrungs- und Genussmitteln wie Zucker, Kakao, Kaffee, Tabak, Drogen, Opium, Farben, Gewürzen, Kautschuk, Trockenfrüchten), Technologien (wie dem Schiffbau und Transport) sowie Transkulturationen. Seit die Spanier 1571 Manila auf Luzón gegründet hatten, waren alle vier großen, bis dahin in Europa bekannten Landmassen (Amerika, Asien, Afrika und Europa) durch Segelschiffe verbunden. Auf all diesen Kontinenten existierten lokale und indigene Formen von Sklaverei. Damit begann die globale Phase der Weltgeschichte, die bis heute anhält. Nur Australien wurde erst durch britische Sträflingstransporte Ende des 18. Jahrhunderts einbezogen. Das sind Fixpunkte der wirklichen Globalisierung, natürlich nicht des ideellen Raumsphären- und Globendenkens (da sei Peter Sloterdijk vor).
Die Weltgeschichte vor und nach dem 16. Jahrhundert sowie die Globalgeschichte seit dem 16. Jahrhundert sind durch Sklavereien geprägt, oft unter dem Dach von Imperien oder räuberischer Regimes bzw. militaristischer Menschenjagdgesellschaften. Meist aber, und das dürfte für viele neu sein, verbirgt sich Sklaverei in der Tiefe der Geschichte in Häusern und Gebäuden, d. h. die sogenannte Haussklaverei konnte und kann auch in Tempeln, Jurten, Zelten oder Palästen stattfinden.
Was war Sklaverei? Zunächst sollten wir uns darüber klar sein, dass das deutsche Wort ›Sklaverei‹ für eine Institution steht, ein bereits existierendes Gewaltsystem, das in einer Gemeinschaft mit herausragenden Anführern oder einer Gesellschaft mit Staatsstrukturen (sozialen Hierarchien, Herrschaft, Armee, Recht, Bevölkerung, Territorium) durch Rechtsregeln und Gewohnheit der Mitglieder der Gesellschaft abgesichert ist, meist sogar durch Religion. Wenn also nach Sklaverei als Institution gefragt wird, ist die antike Sklaverei im römischen Imperium und Sklaverei in der Tradition des »römischen« Rechts wahrscheinlich die am besten definierbare Sklaverei der Welt- und Globalgeschichte. Auf jeden Fall aber ist sie die am häufigsten in der Geschichtsschreibung dargestellte Sklaverei. Sklaverei als voll entwickeltes soziales System bedeutet aber mehr – sie besteht mindestens aus den sozialen Elementen Versklavte (die absolute Mehrheit), Sklavenhalter, ›Sklavenproduzenten‹ und -jäger sowie Sklavenhändlern und ihren jeweiligen Hilfskräften (Bewacher, Matrosen/Ruderer, Ärzte/Heiler, Köche, Übersetzer, Schreiber/Notare).
Um diese Elemente in der Breite der Globalgeschichte und der Tiefe der Weltgeschichte zu erforschen und darzustellen, reicht es nicht, die Rechtsregeln und -texte einer Institution in einer gegebenen Gesellschaft...