1 Domus Sanctae Marthae
»Guten Abend«, sagte die Stimme. »Ich wollte Ihnen danken.«
Francesco Lepore mimt mit Daumen und kleinem Finger einen Telefonhörer. Er hat gerade abgenommen und wirkt auf einmal ebenso wichtig wie die Worte seines mysteriösen Gesprächspartners, der mit einem starken Akzent Italienisch spricht. Lepore erinnert sich an alle Einzelheiten des Gesprächs:
»Das war am 15. Oktober 2013 gegen 16.45 Uhr, ich kann mich noch gut daran erinnern. Ein paar Tage zuvor war mein Vater gestorben, und ich fühlte mich einsam und verlassen. Da hat mein Handy geklingelt. Mit unterdrückter Nummer. Ich gehe ran und sage automatisch:
›Pronto‹. Die Stimme fährt fort. ›Buona sera! Hier ist Papst Franziskus. Ich habe Ihr Schreiben bekommen. Kardinal Farina hat es an mich weitergeleitet, und ich wollte Ihnen sagen, wie sehr mich Ihr Mut berührt hat, und wie sehr mich die Kohärenz und die Ehrlichkeit Ihres Briefes angesprochen haben.‹
›Heiliger Vater, ich bin es, der gerührt ist; dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mich extra anzurufen. Das war nicht nötig. Ich wollte Ihnen einfach nur schreiben.‹
›Doch, doch‹, beharrt Franziskus, ›Ihre Ehrlichkeit, Ihr Mut haben mich berührt. Ich weiß nicht, was ich jetzt für Sie tun kann, aber ich würde Ihnen gerne helfen.‹«
Francesco Lepore versagt vor Verblüffung über den unerwarteten Anruf fast die Stimme, er zögert. Nach kurzer Stille fährt der Papst fort:
»Darf ich Sie um etwas bitten?«
»Worum?«
»Würden Sie für mich beten?«
Francesco Lepore schweigt.
»Ich habe ihm schließlich gesagt, dass ich nicht mehr bete. Aber dass er für mich beten kann, wenn er will«, erzählt Lepore.
Franziskus erklärt, dass er bereits für ihn betet, und fragt:
»Darf ich Sie segnen?«
»Diese Frage des Papstes habe ich natürlich bejaht. Danach gab es eine kurze Stille, er hat mir noch einmal gedankt, und so endete das Gespräch.«
Nach einem kurzen Moment sagt Lepore:
»Wissen Sie, ich bin nicht unbedingt ein Freund dieses Papstes. Ich habe Franziskus nie groß verteidigt, aber seine Geste war wirklich rührend. Ich habe das noch nie jemandem erzählt, habe es für mich behalten, wie ein Geheimnis, etwas Schönes. Ich erzähle es zum ersten Mal.« (Kardinal Farina, den ich zweimal in seiner Wohnung im Vatikan interviewt habe, hat mir bestätigt, dass er Lepores Brief an den Papst weitergegeben und der Anruf stattgefunden hat.)
Zum Zeitpunkt des Anrufs befindet sich Francesco Lepore gerade im offenen Bruch mit der Kirche. Er hat gekündigt und wurde »laisiert«, wie es so schön heißt. Der Priester und Intellektuelle, Stolz der Kardinäle im Vatikan, hat die Soutane an den Nagel gehängt. Er hat Franziskus einen Brief geschrieben, auf gut Glück, aus seinem Schmerz heraus, hat die Geschichte eines homosexuellen Priesters erzählt, der Lateinübersetzer des Papstes wurde. Seine Geschichte. Um endlich abzuschließen. Damit sein Leben endlich wieder stimmt, um die Heuchelei zu beenden. Damit hat er alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Dieser Anruf von höchster Stelle konfrontiert ihn allerdings unerbittlich mit seiner Vergangenheit, die er vergessen, einem Kapitel, das er abschließen wollte: Dazu gehören seine Liebe zum Latein und zum Priesteramt; seinen Eintritt ins Seminar; seine Priesterweihe; sein Leben im Gästehaus Santa Marta; seine speziellen Freundschaften mit (unzähligen) Bischöfen und Kardinälen; die endlosen Gespräche über Christus und Homosexualität unter Priestern, manchmal auf Latein.
Verlorene Illusionen? Zweifellos. Er war rasch aufgestiegen: ein junger Priester, der bei den angesehensten Kardinälen und schließlich sogar bei den letzten drei Päpsten Dienst tat. Man hatte Großes mit ihm vor; man versprach ihm eine Karriere im Apostolischen Palast, vielleicht ein Bischofsamt, oder gar die purpurne Kardinalswürde!
Das war vor seiner Entscheidung. Francesco stand vor der Wahl: Vatikan oder Homosexualität – und im Gegensatz zu vielen Priestern und Kardinälen, die ein Doppelleben führen, wollte er mit sich selbst im Reinen sein und hat sich für die Freiheit entschieden. Franziskus hat bei jenem Telefonat nicht direkt das Thema Sexualität angesprochen, aber es ist eindeutig Lepores Ehrlichkeit zu verdanken, dass ihn der Papst persönlich angerufen hat.
»Meine Geschichte schien ihn anzusprechen, und vielleicht auch, dass ich gewisse Praktiken des Vatikans aufdeckte, wie unmenschlich meine Vorgesetzten mich behandelten; es gibt so etwas wie das Recht der ersten Nacht und viele Gönner. Und wie sie mich fallengelassen haben, sobald ich kein Priester mehr war.«
Es ist bezeichnend, dass Franziskus Francesco Lepore explizit für seine »Diskretion« dankt, was sein Schwulsein angeht, für eine Art »Demut«, »im Geheimen«, anstatt eines aufsehenerregenden öffentlichen Coming out (der gewiefte Papst bietet indirekt an, eine neue Arbeit für ihn zu finden).
Einige Zeit später macht Monsignore Krzysztof Charamsa, ein Prälat aus dem Kreis um Kardinal Ratzinger, den Mund auf, und sein äußerst mediatisiertes Coming out hat eine heftige Reaktion des Vatikans zur Folge. Auf einen Anruf des Papstes kann er lange warten!
An diesem Beispiel wird das ungeschriebene Gesetz von Sodom deutlich: Wer zum Vatikan gehören will, sollte besser die »Schrankregel« der Ungeouteten befolgen: homosexuelle Priester und Bischöfe tolerieren, die Situation gegebenenfalls genießen, aber alles im stillen Kämmerlein. Toleranz und Diskretion gehen Hand in Hand. Es erinnert an Al Pacino in Der Pate: »Don’t ever take sides against the family«.
Im Laufe meiner umfangreichen Nachforschungen sollte ich feststellen, dass Schwulsein im Klerus beinahe der Norm entspricht. Ein nicht zu überschreitendes Tabu ist die Mediatisierung oder das öffentliche Engagement. In der katholischen Kirche ist Schwulsein leicht, banal, manchmal sogar erwünscht; doch öffentliche Stellungnahmen und Sichtbarkeit sind verboten. Wer diskret schwul ist, gehört zur »Gemeinde«; wer einen Skandal provoziert, kickt sich selbst ins Abseits und wird ausgeschlossen.
Mit Blick auf diese »Regel« wird einem die volle Tragweite von Franziskus’ Anruf erst bewusst.
Ich bin Lepore ganz zu Anfang meiner Recherchen begegnet. Vor dem Brief und dem Anruf. Dieser von Berufs wegen stille Mann – er ist der diskrete Übersetzer des heiligen Vaters – hat zugestimmt, offen mit mir zu reden. Ich hatte damals nur wenige Kontakte im Vatikan. Francesco Lepore war einer meiner ersten schwulen Priester, einer von über zehn. Ich hätte nie gedacht, dass anschließend so viele Prälaten des heiligen Stuhls die Beichte ablegen würden.
Warum reden sie? Ganz Rom vertraut sich mir an, Priester, Schweizer Gardisten, Bischöfe, die unzähligen Monsignori und, mehr als alle anderen, Kardinäle. Richtige Plaudertaschen! All die Eminenzen und Exzellenzen sind äußerst gesprächig, wenn man sie zu nehmen weiß, geradezu geschwätzig, in jedem Fall aber unvorsichtig. Jeder hat seine Gründe: Manche reden aus Überzeugung, um in dem verbissenen ideologischen Kampf Stellung zu beziehen, der sich mittlerweile im Vatikan zwischen Traditionalisten und Liberalen abspielt; andere aus Machthunger und, nennen wir das Kind beim Namen, Eitelkeit. Manche reden, weil sie selbst schwul sind und alles über die anderen ausplaudern wollen, anstatt von sich zu sprechen. Und schließlich gibt es jene, die sich aus Verbitterung darüber auslassen oder weil sie gern lästern und tratschen. Alte Kardinäle, die von Gerede und Verleumdung leben. Sie erinnern an die Stammgäste verrufener homophiler Clubs der 1950er-Jahre, wie sie sich weltmännisch und mit gehässiger Grausamkeit über alle lustig machten, weil sie selbst nicht zu ihrer Sexualität stehen konnten. Im »Schrank« der Ungeouteten, hinter verschlossenen Türen, erwartet man Grausamkeit am wenigsten.
Francesco Lepore wollte da raus. Er hat mir von Anfang an seinen echten Namen genannt und war einverstanden, dass ich unsere Gespräche aufzeichne und veröffentliche.
Bei unserem ersten Treffen in Rom, das Pasquale Quaranta, ein gemeinsamer Freund und Journalist bei La Repubblica, organisiert hatte, kam Lepore aufgrund der ewigen Streiks ein wenig zu spät zum Restaurant Eataly an der Piazza della Repubblica. Ich hatte das Eataly ausgesucht, weil es ziemlich verschwiegen außerhalb des Vatikans liegt, so dass man sich ungestört unterhalten kann. Oft, beinahe monatlich, haben wir uns zu langen Gesprächen und Spaghetti all’amatriciana getroffen. Und jedes Mal wurde der ehemalige Priester plötzlich ganz lebhaft.
Auf dem alten, etwas vergilbten Foto springt einem der kreideweiße Piuskragen auf der schwarzen Soutane ins Auge: Francesco Lepore, nachdem er gerade zum Priester geweiht worden war. Er hat kurze Haare, ist ordentlich gekämmt und glatt rasiert; genau das Gegenteil von heute, jetzt trägt er einen Vollbart und Glatze. Ist es derselbe Mann? Der verkappte Priester und der bekennende Schwule – zwei Gesichter einer Realität.
»Ich wurde in Benevento geboren, in Kampanien, nördlich von Neapel«, erzählt Lepore. »Meine Eltern waren katholisch, aber praktizierten den Glauben nicht. Sehr früh spürte ich eine tiefe religiöse Anziehungskraft. Ich mochte Kirchen.«
Viele der interviewten schwulen Priester haben von dieser »Anziehungskraft« gesprochen. Eine mysteriöse Suche nach der Gnade. Faszination für die Sakramente, die Pracht des...