Manfred Lütz: Jehuda Bacon, Sie haben Auschwitz erlebt, überlebt. Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Jehuda Bacon: Vor allem die Frage: Von wo kommt das Böse? Auschwitz war für mich fast die Verkörperung des Bösen, des Unmenschlichen. Das war eine ganz andere Dimension, die für ein so genanntes Normalleben eigentlich unfassbar war. Wie kann so etwas passieren? Wie kann man so werden? Dieses Thema hat mich nach dem Krieg am meisten interessiert. Und weil ich kein Philosoph bin, sondern Künstler, habe ich versucht, das als Künstler intuitiv zu erfassen. Ich dachte, dass jemand, der überlebt hat, das weitererzählen muss. Ich wollte für all die anderen jüdischen Kinder erzählen, was die Seele eines jüdischen Kindes erlebt hat, und hatte dabei den naiven kindlichen Glauben, wenn ich das erzähle, werden die Menschen besser. Aber die Menschen wurden nicht besser. Und das mit dem Erzählen war nach dem Krieg auch sehr schwierig. Viele konnten meine Erzählungen nicht ertragen und ich wusste auch nicht, was man erzählen kann und was nicht.
Sie haben Schreckliches erlebt, dennoch wirken Sie so gar nicht verbittert ...
Das war mein Geschenk von oben. Nach dem Krieg begegnete ich wunderbaren Menschen, deren Einfluss bis heute reicht. Diese Menschen haben mir das Vertrauen in die Menschen wieder zurückgegeben. Und das war auch sehr nötig. Denn meine Freunde und ich konnten nach all dem, was wir erlebt hatten, niemandem mehr Glauben schenken. Warum sollte uns jemand etwas Wahres sagen oder etwas Gutes tun? Denn die meisten Menschen, die wir getroffen hatten, waren nicht so angenehme Menschen gewesen, wenn nicht gar geradezu böse.
Wen meinen Sie mit diesen wunderbaren Menschen?
Da war zum Beispiel ein Mann, der vor dem Krieg Waisenhäuser geleitet hatte und schon vor Ende des Krieges darüber nachdachte, wie er dann, wenn seine Kinder wieder zurückkämen, sie sofort behüten und ihnen die beste Pflege geben könnte. Leider kamen diese Kinder nicht zurück, aber es kamen andere. Und als ihm das Sozialministerium sofort nach dem Krieg einige Schlösser prominenter Deutscher übergab, da verwandelte er sie in Kinderheime. Der Mann hieß Premysl Pitter und er war ein Mensch, der uns nicht durch Predigen und viel Reden, sondern durch seine Güte und Liebe gewonnen hat. Ich wusste damals noch nicht, was das bedeutet, aber heute muss ich sagen, er war charismatisch. Alle Kinder, die ihm begegneten und ihn erlebten, können ihn bis heute nicht vergessen. Das Eigenartige war, dass er nichts von uns wollte, sondern uns einfach nur seine Liebe gab, sich mit seiner ganzen Persönlichkeit dahingab. Plötzlich sahen wir, da ist jemand, der nichts will, aber alles gibt, hauptsächlich die Liebe, der wir in Auschwitz und überhaupt im Krieg nicht mehr begegnet waren. Da ist ein Mensch, der sich nur dieser Jugend, diesen Kindern widmet.
Was waren das für Kinder?
Nicht nur jüdische Kinder, sondern auch Kinder der ehemaligen Hitlerjugend. Er war vom Außenministerium beauftragt, sich auch um Kinder in den Lagern zu kümmern, in denen die Sudetendeutschen vor der Vertreibung eingesperrt waren. Und so ging er in die Lager, brachte die schlimmsten Fälle von Müttern mit kleinen Kindern heraus und gab ihnen dieselbe Pflege wie uns. In jener Zeit war das ein Wunder. Es gab damals sofort nach dem Krieg noch einen ungeheuren Hass gegen alle Deutschen. In Prag war es lebensgefährlich, deutsch zu reden. Deutsche wurden geschlagen oder es geschah ihnen Schlimmeres. Und da kam so ein Pitter, geht in so ein Lager, wo jetzt die Deutschen sind, nimmt die schlimmsten Fälle heraus und verlangt auch für sie, wie für alle anderen Kinder, besseres Essen und bessere Kleidung.
Ist Ihnen aus dieser ersten Zeit bei Premysl Pitter etwas genauer in Erinnerung geblieben?
Da gab es so ein kleines Mädchen. Damals bat ich jeden: Sitz, ich will dich zeichnen! Ich wollte einfach jeden als Modell benützen. Sehr egoistisch! Und als ich vor ein paar Jahren in Prag eine Ausstellung hatte, sah ich da noch alte Zeichnungen von mir, und plötzlich sehe ich das Bild dieses Mädchens mit Flaschenlocken und darunter hatte ich ein paar Zeilen geschrieben: Das Kind konnte man noch retten. Die Mutter hatte sich die Adern aufgeschnitten und dem Kind auch, weil sie die schreckliche Situation nicht mehr aushalten konnte. Und dieses deutsche Kind war auch zu uns gekommen. Pitter nahm auch jüdische Kinder aus Polen auf, denn da hatte es sofort nach dem Krieg kleine Pogrome gegeben. Jüdische Kinder, die aus den KZs in ihre Orte zurückgekehrt waren und sagten, das war mein Haus, da lebte ich, wurden einfach umgebracht. Pitter war ein wunderbarer Mann, der wirklich für alle sorgte.
Im Krieg, als noch Juden in Prag lebten, gab es da selbstverständlich auch Mütter mit kleinen Babys, aber die durften keine Milch bekommen. Was machte Pitter? Er sammelte Milch von tschechischen Familien und brachte sie in jüdische Familien mit Säuglingen. Er wurde angezeigt und zum Chef der Gestapo vorgeladen. Das bedeutete normalerweise den Tod oder die Deportation ins KZ. Er war darauf vorbereitet. Und was passierte jetzt? Der Chef der Gestapo fragte ihn: »Ist das wahr, das mit den jüdischen Kindern? Ja wissen Sie denn nicht, dass das verboten ist!« Und da sagte er: »Selbstverständlich wusste ich das.« – »Aber warum haben Sie es dann getan?« – »Das war meine menschliche Pflicht!« – So eine Antwort hatte dieser Gestapochef vorher noch von niemandem gehört. Und sein Auftreten wirkte auch diesem nicht so angenehmen Herrn von der Gestapo gegenüber so überwältigend, dass er diese Anzeige nahm, sie in den Papierkorb warf und sagte: »Gehen Sie!« Und nicht nur das, er schützte ihn den ganzen Krieg über. Pitter predigte nicht gegen den Faschismus ...
Er war Prediger der böhmischen Brüder ...
Ja, zwar kein organisierter, aber er lebte in diesem Geist. Und er wirkte auch so und das war das Wichtigste. Bei Premysl Pitter konnten wir erleben, dass es Menschen gibt, die einem voll Güte nur helfen wollen, ohne zu erwarten, irgendetwas zurückzubekommen. Er zeigte uns die Möglichkeit der Liebe, der Menschlichkeit. Und so war er für uns die Verkörperung der Möglichkeit: Nicht alle sind böse. Das war eine große neue Erfahrung. Das heißt, wir konnten diesem Menschen glauben, wo wir doch die Erfahrung gemacht hatten, dass es gefährlich ist, jemandem zu glauben. Der konnte ja ein Verräter sein oder mich schlagen. Und hier ist ein Mann, der mit seinem guten Einfluss so auf uns wirkte, dass er uns dadurch zeigte: Es gibt auch andere Menschen. Premysl Pitter hat mir den Glauben an die Menschheit zurückgegeben. Er hatte ein großes Charisma und alle seine Mitarbeiter waren getragen von diesem Geist. Dank der wunderbaren Menschen, die wir um uns hatten, gab es auch nie Rachegefühle zwischen deutschen und jüdischen Kindern, wir wollten sie niemals verprügeln, weil sofort eine andere Atmosphäre da war.
Können Sie sich noch an ein typisches Erlebnis mit Premysl Pitter erinnern?
Ja! Stellen Sie sich vor, wir sitzen das erste Mal in einem Saal in dem Schloss und nehmen das Mittagessen ein und es ist ja Sitte, dass man ohne Kopfbedeckung bei Tisch sitzt. Nur ein Junge lässt seine Mütze auf dem Kopf. Und da kommt Pitter herein und denkt, das ist so ein Lausbub, der kennt die Sitten nicht, und nimmt ihm die Mütze vom Kopf. Doch da sagt ihm ein jüdischer Mitarbeiter, das sei kein Lausbub, sondern der Sohn eines Rabbiners und da ist es Sitte, immer die Kopfbedeckung aufzubehalten. Sofort gab ihm Pitter die Mütze zurück und entschuldigte sich. 25 Jahre später hatten wir ehemaligen Kinder, wir waren ja arm, ein paar Groschen zusammengespart und Pitter nach Jerusalem eingeladen, wo er eine Medaille von der israelischen Regierung bekam. Und da passiert etwas. Als Pitter zu uns ehemaligen Kindern hereinkommt, und es ist ja viele Jahre später, sieht er Wolfi, den Rabbiner-Sohn, und fragt: »Bist du der Wolfgang?« Der sagt: »Ja.« Und da sagt er: »Kannst du mir verzeihen, was ich dir damals angetan hab?« (Jehuda Bacon kommen die Tränen.) Es quälte ihn also der Gedanke, dass er jemanden Unschuldigen beschuldigte.
Ich weiß, dass Sie dem Religionsphilosophen Martin Buber begegnet sind und dass er Sie sehr inspiriert hat. Mich hat Martin Buber deswegen besonders beeindruckt, weil er sehr tief über den Menschen nachgedacht hat, über das dialogische Prinzip, die existenzielle Begegnung zwischen Menschen. Wann haben Sie ihn zum ersten Mal getroffen?
Das war ein Vortrag kurz nach dem Krieg. Bis dahin kannte ich nur einige Bücher von ihm. Wie schon gesagt, wollte ich wissen, woher das Böse kommt, und genau über dieses Problem ging es in dem Vortrag. Er erzählte, er bekomme aus der ganzen Welt Briefe mit der Frage: Wieso können Sie noch sagen: Gelobt sei Gott, denn seine Güte und Ehre währt ewig. Wo war die Güte, wo war die Ehre in Auschwitz? Und Buber antwortete: Trotz allem ist es möglich! Und ich sah, dieses Paradox des Glaubens, das ich schon als Kind und als Halbwüchsiger gespürt hatte, das ist die Antwort. Deswegen fühlte ich mich ihm sehr nahe. Ich bin zwar kein Schriftsteller wie er, sondern Künstler. Aber er war auch Künstler, hatte diese Intuition, und da spürte ich etwas Gemeinsames.
Haben Sie ihn auch persönlich kennengelernt?
Ja. Er gab einen Abendkurs über die Psalmen. Das interessierte mich sehr. Ich hatte natürlich auch schon die Psalmen gelesen, aber so wie jemand, der noch keine Ahnung hat. Und jetzt erlebe ich plötzlich, wie Martin Buber da einen Satz zwei Wochen lang...