Vorwort – Ein Blick zurück nach vorn
»Wenn unsere Kinder und Enkel dermaleinst auf die jetzige gewaltige Zeit von 1914 zurückblicken, werden sie als Wissende mehr als wir selbst, die wir jetzt vor der geschlossenen Pforte der Zukunft stehen, die ungeheure Größe dieser Zeitwende voll begreifen.«
(Schöneberger Tageblatt vom 7. August 1914)1
Hinterher ist man bekanntlich immer klüger. Was einst geschah, scheint immer plausibler zu werden, je weiter wir uns von einem historischen Ereignis entfernen. So macht die Zeit aus uns Nachgeborenen zwangsläufig retrospektive Besserwisser – wir haben den Menschen von damals schließlich voraus, dass wir wissen, wo alles geendet hat und was aus ihren Zukunftserwartungen tatsächlich wurde. Für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gilt dies in besonderem Maße. Wir wissen heute, wie sehr er das Gesicht der Welt verändern sollte, welcher Schrecken und wie viel Leid während seiner vierjährigen Dauer angerichtet wurden – und welche neuen Katastrophen ihm wohl auch deshalb folgten, weil er diesen mit seinen Gewalterfahrungen und seinen direkten und indirekten Auswirkungen den Weg ebnete. Aber bedeutete das zugleich, dass die Menschen hierzulande es im Jahr 1914 auch schon wussten? Sicher nicht. Sie hatten ihre eigenen Erwartungen an die Zukunft, die sich mit unseren heutigen Erfahrungen allerdings nicht immer decken.
Diese Erwartungen sollen im Folgenden näher betrachtet werden – das Buch ist der Versuch zu verstehen, was im Sommer 1914 geschah und wie die Menschen diese Zeit erlebten. Denn ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten, ihre Erwartungen gegenüber dem Kommenden führen uns zu einem historischen Thema, das die Deutschen seit Jahrzehnten bewegt. Traditionell herrscht in unseren Geschichtsbüchern und großen historischen Darstellungen die Vorstellung vor, es habe so etwas wie eine allumfassende Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich gegeben. Die Deutschen seien demnach im August 1914 in übergroßer Mehrheit begeistert in den Krieg gezogen, viele von ihnen hätten ihn gewollt. Der Krieg, der Kampf, die Gefahren – all das sei regelrecht herbeigesehnt worden.
Mit guten Gründen haben Historiker in den vergangenen Jahren immer stärker moniert, dass diese Vorstellung im Laufe der Zeit zu einem Klischee, ja zu einem Mythos erstarrt ist; längst schon hat die historische Forschung die vermeintliche Kriegsbegeisterung infrage gestellt. So zeigt sich inzwischen, dass es das alle Bevölkerungsschichten umfassende sogenannte »August-Erlebnis« tatsächlich so nicht gegeben hat – in der historischen Wirklichkeit waren die Reaktionen auf die Kriegsgefahr und den Beginn des Krieges sehr viel komplexer und widersprüchlicher.2 Sicher, eine allgemeine emotionale Erregung trieb große Teile der städtischen Bevölkerung im Deutschen Reich im August 1914 auf die Straße, aber die Gefühlslage dieser Menschen war vielfältig: Nicht nur Begeisterung oder Ausgelassenheit ist im Nachhinein zu erkennen, sondern auch Neugier oder zuweilen sogar Angst. Zu patriotischen Aufmärschen kam es ebenso wie zu stillen Versammlungen an öffentlichen Plätzen oder eben auch zu Protestmärschen.3
Um diesen vielfältigen Reaktionen im Sommer 1914 auf die Spur zu kommen, wollen wir unseren Blick zurückwenden, zurück auf die Menschen, die in jenen Monaten zunächst eine Krise und dann den Ausbruch eines Krieges erlebten. In diesem Buch werden deshalb fünf ausgewählte Personen vorgestellt und zu Wort kommen.4 Wir wollen mit ihrer Hilfe verstehen, wie sie – und mit ihnen andere – den Sommer 1914 wahrnahmen. Diese fünf Menschen sind bis zu einem gewissen Grad stellvertretend für die unterschiedlichen Gruppen der deutschen Bevölkerung, für die Land- ebenso wie für die Stadtbevölkerung, für die Intellektuellen ebenso wie für die Arbeiter, für Frauen wie für Männer, für Zivilisten wie für Soldaten. Auf sie fällt unser Blick zurück, mit dem wir zugleich unser Interesse an ihrem Blick nach vorn bekunden: Was erwarteten sie in diesen Wochen und Monaten, wie blickten sie in die Zukunft? Wie nahmen sie die zunehmenden internationalen Spannungen wahr? Fühlten sie sich bedroht? Hatten sie Angst vor einem Krieg, oder sehnten sie ihn herbei? Und dann, als Millionen Männer zu den Waffen greifen mussten – wie schnell verflog der vorhandene Optimismus? Wann und wie setzte die Trauer um Angehörige und Freunde, die Wut über einen verlorenen Frieden ein? Wenn wir ihre Perspektive auf das Geschehen besser verstehen, dann wird unsere Retrospektive ein adäquates Verständnis ihrer Geschichte hervorbringen.5
Die Auswahl der fünf Protagonisten geschah in gewisser Hinsicht zufällig. Schließlich sollten sie die deutsche Bevölkerung möglichst breit vertreten, ohne dass zugleich ein Anspruch auf repräsentative Aussagen im Sinn empirischer Forschung erhoben werden muss. Diese Biografien stellen vielmehr fünf Möglichkeiten dar, wie die Menschen einst reagierten. Es gab sicherlich auch andere Möglichkeiten, aber wir wollen uns im Wesentlichen auf diese fünf beschränken und sie näher betrachten. Wir begleiten unsere Protagonisten durch den Sommer 1914 – wenngleich nicht kalendarisch ganz streng –, durch die Monate Juni, Juli, August, September und Oktober. In dieser Zeit verwandelte sich das Leben in Europa: Einem nicht ganz gewöhnlichen Juni, in dem der Mord am österreichischen Thronfolger in Sarajevo den Kontinent zu erschüttern scheint, folgten im Juli erst die Krisen, dann im August der Krieg. Und schon im Oktober 1914 fürchteten die meisten Deutschen, dass dieser Krieg wohl entgegen ihrer ursprünglichen Hoffnungen lang und verlustreich sein wird.
Anhand dieser fünf Biografien soll erzählt werden, was in diesen dramatischen Monaten passierte. Die Protagonisten sind:
Wilhelm II., geboren 1859. Er ist seit 1888 deutscher Kaiser und König von Preußen. Nicht zuletzt aufgrund seiner langen Regentschaft verleiht er den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende ihren Namen »Wilhelminische Epoche«. In dieser Zeit versucht Kaiser Wilhelm Deutschland zu einer gleichberechtigten Größe unter den Weltmächten zu machen; wirtschaftlich wie militärisch strebt das Deutsche Reich nach dem sprichwörtlichen »Platz an der Sonne«. Wilhelms Vorliebe fürs Militärische ist bekannt, für die Marine schwärmt er geradezu. Andererseits erfüllt es den Kaiser mit einem gewissen Stolz, dass das Reich unter ihm schon ein Vierteljahrhundert Frieden erlebt hat. Am 27. Januar 1914 feiert Wilhelm seinen 55. Geburtstag.
Alexander Cartellieri, geboren 1867. Er ist Professor an der Universität in Jena und als Historiker einer der zu diesem Zeitpunkt wenigen, aber ausgewiesenen Kenner der französischen Geschichte. Unter Fachkollegen wird Cartellieri bis heute eher nicht beachtet und zählt deshalb auch nicht zu den herausragenden Figuren des deutschen Kultur- und Gelehrtenlebens dieser Epoche. Gleichwohl legt er ein durchaus beachtliches Werk vor: Neben der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen widmet er sich unter anderem der westeuropäischen Geschichte des Mittelalters und schreibt schließlich sogar eine fünfbändige Weltgeschichte. Alexander Cartellieri wird am 19. Juni 1914 47 Jahre alt, ist also nur wenige Jahre jünger als der Kaiser.6
Wilhelm Eildermann, geboren 1897, ist der jüngste im Kreis unserer Protagonisten: Er feiert am 24. Juli 1914 seinen 17. Geburtstag. Eildermann ist Volontär bei der Bremer Bürger-Zeitung, die als Parteiblatt der SPD den linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie vertritt. Eildermann stammt aus einem Bremer Arbeiterhaushalt mit traditioneller Hinwendung zur Sozialdemokratie – sein älterer Bruder Heinrich hat sich dort schon lange engagiert. Zwei seiner Brüder werden im August 1914 in den Krieg ziehen, Wilhelm jedoch bleibt daheim in Bremen und erlebt intensiv mit, wie die deutsche Sozialdemokratie sich um die »richtige« Haltung zum Krieg bemüht.
Gertrud Schädla, geboren 1887. Sie ist Lehrerin an der Nicolai-Schule in Verden an der Aller, nicht weit entfernt von Bremen.7 Schädla ist ledig und lebt bei ihrer Mutter, einer verwitweten Pfarrersfrau. In ihrer Freizeit nutzt die junge Lehrerin die kulturellen Angebote der Stadt und der Region, besucht das Theater und beschäftigt sich mit zeitgenössischer Literatur. Als fromme Protestantin besucht sie regelmäßig den Gottesdienst und religiöse Vorträge. Gertrud Schädla feiert am 25. Januar 1914 ihren 27. Geburtstag.
Ernst Stadler, geboren 1883. Er arbeitet als Dozent für Philologie an der Universität in Brüssel – aber eigentlich ist er Lyriker. Stadler stammt aus dem Elsass, hat in Straßburg studiert und sich zunächst als Herausgeber von Literaturzeitschriften einen Namen gemacht. 1914 legt er einen durchaus beachteten Gedichtband mit dem Titel Der Aufbruch vor, der ihn – so urteilt später die Nachwelt – zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des deutschen Expressionismus macht. Ernst Stadler wird am 31. Juli 1914 als Reserveoffizier eingezogen. Er ist 30 Jahre alt.
Diese fünf Menschen stehen – um das Eingangszitat aus dem Schöneberger Tageblatt aufzugreifen – im Juni 1914 »vor der noch verschlossenen Pforte der Zukunft«. Wir wollen uns zu ihnen gesellen und sie durch den Sommer 1914 begleiten.
1 Zit. n. Berliner Geschichtswerkstatt, August 1914, S. 7.
2 Ullrich, Kriegsbegeisterung, S. 630.