1668 bis 1676
Sie war ein erwünschtes Kind, endlich eine Tochter. Die Mutter schrieb ein Dutzend Jahre später in ihren Memoiren: »Ich freute mich darüber; denn ich hatte schon drei Söhne zu jener Zeit.« Und es war ein ganz besonderes Kind. Der Vater schrieb seinem Bruder, dass »der Allerhöchste … Unsere freundliche liebe Gemahlin in Gnaden entbunden und Uns … morgens um 7 Uhr mit einer jungen wohlgestalteten Tochter mildväterlich erfreut hat«. Er danke der »göttlichen Allmacht herzinniglich«, dass Mutter und Kind sich in einem »erträglichen Zustand« befänden. Absender dieser frohen väterlichen Geburtsanzeige: Ernst August, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, Fürstbischof von Osnabrück.
Das ist allerdings eine Überraschung: Sophie Charlotte, die am 12. Oktober 1668 auf Schloss Iburg geboren und in der Schlosskapelle lutherisch getauft wurde, war die erste – und einzige – Tochter des Lutheraners Ernst August, allseits anerkannter Bischof im katholischen Bistum Osnabrück. Und ihre Mutter Sophie von der Pfalz, seit ihrer Heirat Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, nannte sich in manchem Brief mit leichtem Augenzwinkern »Frau Bischöfin«.
Zwei Jahrzehnte zuvor, 1648, hatten die Glocken das Ende des Dreißigjährigen Krieges verkündet. Mit ausgeklügelten Verträgen gaben Europas Staaten dem Kontinent neue politische Strukturen und gelobten, in Zukunft keine Kriege mehr um der Religion willen zu führen. Für das uralte katholische Bistum Osnabrück, das Karl der Große gegründet hatte, fanden sie einen erstaunlichen Kompromiss, dem schließlich die damaligen protestantischen schwedischen Besatzer und die katholische Kirche zustimmten – die »alternierende Sukzession«, eine einmalige Konstruktion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
Auf dem Bischofsthron sollten sich ab sofort ein katholischer und ein protestantischer Vertreter ablösen, und der Protestant sollte immer ein Abkömmling aus dem fürstlichen Hause Braunschweig-Lüneburg sein. Der Kompromiss war mehr als ein dekorativer Schachzug. Wie in den allermeisten deutschen Bistümern war das religiöse Oberhaupt des Bistums Osnabrück – auch auf katholischer Seite stets ein Adliger – seit Jahrhunderten zugleich der weltliche Landesherr. Der Fürstbischof hatte Zugriff auf alle Einnahmen des Landes, konnte Steuern und Abgaben erheben, Soldaten aufstellen.
Was Diplomaten am Konferenztisch ausgetüftelt hatten, funktionierte tatsächlich in der Praxis. Der von den Schweden im Dreißigjährigen Krieg vertriebene katholische Bischof durfte nach dem Frieden sein Osnabrücker Bistum wieder in Besitz nehmen. Als er im Dezember 1661 starb, wählte das katholische Domkapitel von Osnabrück gemäß der Absprache Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg, verheiratet und Vater von zwei Söhnen, zum neuen Fürstbischof und Osnabrücker Landesherrn. Anfang September 1662 verließ der Herzog seinen bisherigen Wohnsitz im Schloss von Hannover, ihm wurden als Zeichen seiner neuen Würde im Dom zu Osnabrück Mitra und Bischofsstab zu Füßen gelegt, und mit Frau und Söhnen zog er ins Schloss Iburg ein.
An Selbstbewusstsein fehlte es ihm nicht. In der Iburg, romantisch auf einem Bergrücken gelegen, hängt bis heute im Rittersaal zwischen den Porträts der katholischen Bischöfe des Bistums Osnabrück ein Doppelporträt, das Herzog Ernst August in Auftrag gegeben hat. Es zeigt ihn als ersten protestantischen Bischof – Bischofsstab und Mitra im Hintergrund – mit seiner Frau und beide schauen freundlich-selbstbewusst in die Welt. Das Mieder der Frau Bischöfin zeigt einen großzügigen Ausschnitt unbedeckter Haut.
Die Burg am Übergang zwischen Teutoburger Wald und Münsterland, gut fünfzehn Kilometer südlich von Osnabrück, war seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts die ständige Residenz der Osnabrücker Bischöfe. Um 1600 hatte ein Vorgänger von Ernst August sie zu einem kleinen Renaissanceschloss ausgebaut. Auf demselben Hügelkamm, fast Mauer an Mauer, befindet sich eine weithin sichtbare Klosteranlage, in der seit der Gründung der mittelalterlichen Burg bis heute Benediktinermönche zu Hause sind. Der Marktflecken Iburg zu Füßen von Schloss und Kloster erhielt 1254 Stadtrechte und wurde rundum von einer Mauer geschützt, von der sich Teile erhalten haben. Seit 1967 ist der lebendige kleine Ort, wo Fachwerkhäuser und moderne Häuserzeilen miteinander harmonieren, offizieller Kneipp-Kurort – Bad Iburg. Und das ehemalige fürstbischöfliche Schloss ein lohnendes Ausflugsziel.
Die bischöfliche Tochter Sophie Charlotte, auf Schloss Iburg geboren, erhält den ersten Namen nach der Mutter – Herzogin Sophie von Braunschweig-Lüneburg, eine geborene »von der Pfalz« – und den zweiten nach ihrer Patentante – Elisabeth Charlotte von der Pfalz. Die Sechzehnjährige lebt in Heidelberg bei ihrem Vater, dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz. Er ist der Bruder von Sophie Charlottes Mutter und Elisabeth Charlotte ist somit die Kusine des Neugeborenen. Als Elisabeth Charlotte Ende Oktober 1668 erfährt, dass sie von den Eltern als »Tauffzeugin« gewählt wurde, schreibt sie ihnen: »Ich bin von hertzen erfreut geweßen … das matante und oncle mir die ehr gethan und mich zu einer gevatterin erwehlt haben.« Sie würde gerne »mein patgen sehen undt mit ihr spillen«. Doch die junge fürstliche Patentante – »gevatterin« – mit angemessener Begleitung von Heidelberg ins westfälische Iburg reisen zu lassen, war zu aufwendig; die Taufe fand ohne sie statt.
Bevor Herkunft und Persönlichkeit der Eltern von Sophie Charlotte genauer in den Blick kommen, sollen einige Fakten die kleine Familie vorstellen. Das bischöfliche Paar war im Oktober 1668 auf den Monat genau zehn Jahre verheiratet, die Mutter 1630 geboren, der Vater 1629. Drei Söhne hatten sie jetzt, achteinhalb, sieben und zwei Jahre alt. Die Tochter kam in einem kleinen Zimmer, direkt über dem breiten Torbogen gelegen, der in den Innenhof von Schloss Iburg führt, zur Welt. Noch heute zieren die Initialen der Eltern den Schlussstein der Decke, ein Schrank mit kunstvollen Intarsien hat sich erhalten.
Die fürstliche Familie lebte beengt, denn die katholischen Bischöfe, die vor ihr im Schloss wohnten, brauchten keine Räume für Ehefrauen und Kinder. Wie unaufgeregt, geradezu bürgerlich, das Familienleben auf Schloss Iburg verlief, hat Herzogin Sophie, die Mutter, im Juni 1663 in einem Brief an ihren Bruder, den Kurfürsten von der Pfalz, beschrieben: »Wir kegeln, schießen Enten, besuchen das Bad, spielen Trictrac …« Und drei Jahre später: »Wir leben hier in der angenehmsten Einsamkeit der Welt.« Es sind auch die Briefe der Mutter, in denen die kleine Sophie Charlotte – mit dem Kosenamen Figelotte belegt, Figuelotte in den französischen Briefen – erste Erwähnung und Konturen erhält. Es sind sehr persönliche Bemerkungen, die heute, rund dreihundertfünfzig Jahre später, ein wenig Farbe und Licht in die frühen Kindheitsjahre bringen, eine Seltenheit für diese barocke Zeit.
Im März 1671 ist Herzogin Sophie ohne ihre Kinder bei ihrem Bruder in Heidelberg. Sie wartet dort auf ihren Ehemann, der wie zu seinen Junggesellenzeiten den Winter bis weit ins Frühjahr in Venedig verbringt, um sich dort an den besten Opernaufführungen des Kontinents zu ergötzen. Seine Heirat und sein bischöfliches Amt haben nichts daran geändert, dass er weiterhin die Dienste gewisser Damen, von denen es nirgendwo in Europa so viele gibt wie in Venedig, in Anspruch nimmt. Mitte des Monats greift Sophie zu Feder und Tinte: »Ich habe zwe früden nach einander gehabt: gestern kam unsser Herzug gans frisch undt gesundt, und heute schreibt ihr mir,...