Als ich im Jahr 2000 zu Studienzwecken nach Görlitz zog, fiel mir sofort auf, wie wenig Ausländer es hier gibt. Ich wohnte vorher in der Innenstadt von Mannheim, einer westdeutschen Großstadt mit einem hohen Ausländeranteil. Gerade in der Mannheimer Innenstadt lebt man mit Menschen verschiedenster Nationalität Tür an Tür. In Görlitz vermisste ich dann die Vielfalt der ausländischen Spezialitätenrestaurants, das Gewirr unterschiedlicher Sprachen in der Straßenbahn, die indischen, türkischen und chinesischen Lebensmittelhändler, die immer frisches Koriandergrün und die exotischsten Gewürze anboten, das bunte Treiben von Menschen mit Kopftüchern, Turbanen oder Saris auf der Straße und die Klänge türkischer Musik aus der Nachbarwohnung. Im Laufe der Zeit gewann ich auch den Eindruck, dass die Görlitzer Ausländern eher skeptisch gegenüberstehen. So warnten mich meine neuen Nachbarn vor den „stehlenden Polen“ und oftmals hörte ich, es gäbe „zu viele Ausländer“ in der Stadt. Irgendwann fragte ich mich: Fühlen sich die Ausländer hier eigentlich wohl? Intensiviert wurde diese Überlegung durch Gespräche mit meinem marokkanischen Lebenspartner, der bereits seit vielen Jahren in Görlitz wohnt.
Deshalb war ich sofort begeistert, als mich eine Studienkollegin auf den Themenvorschlag von Frau Prof. Blin „Wohlbefinden ausländischer Mitbürger in Görlitz“ aufmerksam machte. Dass Wohlbefinden ganz wesentlich von der Integration abhängt, wurde mir bei einem Gespräch mit dem Erstbetreuer dieser Arbeit, Herrn Prof. Waldow, klar. So wurde das Thema erweitert um die Frage: Wie gut sind Migranten in Görlitz integriert?
Das Thema „Integration“ ist heute in aller Munde. Kaum schaltet man den Fernseher an oder schlägt eine Zeitung auf, wird man informiert über Fragebögen für Einbürgerungswillige, die Gewaltbereitschaft ausländischer Schüler in Schulen mit hohem Ausländeranteil, die Proteste der Einwohner von Berlin-Pankow, die sich von dem geplanten Bau einer Moschee im Stadtteil bedroht fühlen oder über die residentielle Segregation ausländischer Mitbürger in den Großstädten. Fast scheint es, als sei die Eingliederung von Migranten in unsere Gesellschaft das derzeit größte Problem in Deutschland. Berichte darüber, wie sich die Migranten hier fühlen, sind dagegen eher selten. Eine Verknüpfung dieser beiden Aspekte erscheint mir auch deshalb besonders interessant.
In dem „Handbuch für Integration für Entscheidungsträger und Praktiker“ der Europäischen Kommission schreibt der Generaldirektor Jonathan Faull
„Angesichts von Rückgang und Überalterung der Bevölkerung ist eine Zuwanderung nach Europa in den kommenden Jahren sowohl wahrscheinlich als auch notwendig. Die Integration von Zuwanderern ist für den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Entwicklung zwingend erforderlich. Damit sich Zuwanderer als Mitglieder unserer Gesellschaft fühlen können, müssen wir sie fair behandeln und ihnen die richtigen Instrumente zur uneingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe zur Verfügung stellen.“ [1]
Diese Erklärung verdeutlicht zwei Dinge: Die Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern ist von Vorteil, und Integration ist nicht nur die Aufgabe der Migranten. Hierdurch erschloss sich mir ein weiterer Aspekt dieser Arbeit: Wie steht die Stadt Görlitz zu ihren ausländischen Mitbürgern, wie beurteilt sie die aktuelle Integrationssituation, und welche „Instrumente“ stellt sie den Migranten zur Verfügung, damit sie sich hier gut einleben können?
Diese Fragestellungen bilden also den Kernpunkt der vorliegenden Untersuchung. Als nächstes überlegte ich, um welche Migrantengruppe es hier eigentlich gehen soll. Die meisten vorliegenden Untersuchungen und Analysen konzentrieren sich auf die zahlenmäßig stärksten ethnischen bzw. nationalen Gruppen. Besonders den Türken gilt großes Interesse. Jedoch wollte ich die Hervorhebung einer einzelnen Migrantengruppe vermeiden. Gerade die intensive Beschäftigung mit den türkischen Migranten verursachte bzw. verstärkte die Stigmatisierung dieser Menschen.[2] Zudem werden durch eine solche Vorgehensweise die Belange anderer Migrantengruppen vernachlässigt. Aus diesem Grund beschloss ich, mich nicht auf eine einzelne Nationalität zu konzentrieren sowie auch speziell Nationalitäten zu befragen, die in Görlitz nicht häufig vertreten sind.
Zusammengefasst lauten also die Fragestellungen dieser Arbeit:
Wie gut sind Migranten im allgemeinen und insbesondere Migranten, deren Nationalität in Görlitz nicht häufig vertreten ist, in die hiesige Gesellschaft integriert?
Wie ist das Wohlbefinden dieser Migranten?
Wie ist die Stadt Görlitz gegenüber ihren ausländischen Mitbürgern eingestellt?
Wie ist die aktuelle Integrationssituation in Görlitz?
Mit welchen Integrationsmaßnahmen unterstützt die Stadt die Migranten in ihren Integrationsbemühungen?
Gliederung dieser Arbeit
Teil A ermöglicht dem Leser den theoretischen Zugang zu den Themenbereichen Migration, soziale Integration und Wohlbefinden sowie zu den Zusammenhängen zwischen Integration und Wohlbefinden. Beschrieben werden auch strukturelle Rahmenbedingungen in Görlitz.
In Kapitel 1 gehe ich auf das Thema Migration ein. Da die Bezeichnungen für Menschen mit Migrationshintergrund nicht eindeutig sind, mache ich den Leser mit den unterschiedlichen Begrifflichkeiten vertraut (Kapitel 1.1). Danach schildere ich die rechtliche Stellung der Migranten in Deutschland, die durch das Zuwandergesetz geregelt wird (Kapitel 1.2). Die rechtliche Stellung bestimmt, welche Möglichkeiten den Migranten für ihre strukturelle Integration offen stehen. In Kapitel 1.3 geht es um die psychischen Aspekte der Migration, denen ich wegen der engen Verknüpfung zum Wohlbefinden besondere Aufmerksamkeit widme.
In Kapitel 2 stelle ich nach einer kurzen Definition der Begrifflichkeiten (Kapitel 2.1) das Integrationsmodell von Hartmut Esser vor (Kapitel 2.2); Kapitel 2.3 behandelt dann im speziellen die Sozialintegration von Migranten. Im Exkurs (Kapitel 2.4) gebe ich einen kurzen Überblick über die Integrationssituation in der Bundesrepublik. Die diagnostischen Zugänge zur Erhebung der sozialen Integration beschreibe ich in Kapitel 2.5.
In Kapitel 3 grenze ich zunächst den Begriff Wohlbefinden von artverwandten Konzepten ab und lege fest, welcher Teilaspekt von Wohlbefinden im Weiteren untersucht werden soll (Kapitel 3.1). Danach beschreibe ich die theoretischen Zugänge zum habituellen Wohlbefinden. Dabei gehe ich auf personenzentrierte, umweltzentrierte und passungstheoretische Ansätze ein (Kapitel 3.2). Im folgenden Kapitel 3.3 stelle ich eine Verbindung zwischen Wohlbefinden und Migration her, indem ich die theoretischen Ansätze auf die spezielle Situation von Migranten übertrage. Schließlich gebe ich in Kapitel 3.4 einen Überblick über die diagnostischen Zugänge zur Erhebung von Wohlbefinden.
Den Zusammenhang zwischen sozialer Integration und subjektivem Wohlbefinden stelle ich in Kapitel 4 dar. Dabei gehe ich auf die einzelnen Integrationsdimensionen nach Esser, die Kulturation (Kapitel 4.1), die Platzierung (Kapitel 4.2), die Interaktion (Kapitel 4.3) und die Identifikation (Kapitel 4.4) jeweils separat ein.
Kapitel 5 enthält schließlich eine Beschreibung der Rahmenbedingungen in Görlitz. Die Darlegung umfasst bereits hier einige statistische Daten.
In Teil B beschreibe ich das methodische Vorgehen, den Auswertungsprozess und die Untersuchungsergebnisse.
In Kapitel 6 schildere ich zunächst welche Überlegungen zur Auswahl der Untersuchungsverfahren führten (Kapitel 6.1). Danach gehe ich auf ausgewählten Erhebungsmethoden Experten- und problemzentriertes Interview sowie Sekundäranalyse statistischer Daten ein. Die jeweiligen Unterkapitel enthalten eine Beschreibung der Themenbereiche der einzelnen Erhebungen sowie den Aufbau der Interviewleitfäden (Kapitel 6.2). Danach beschreibe ich die Aufbereitungsverfahren (Kapitel 6.3) und Auswertungsmethoden (Kapitel 6.4). Um die Erhebung transparent und nachvollziehbar zu machen werden sowohl Auswahl und Finden der Interviewpartner, das Probeinterview und die Durchführung des Experten- und der Migranteninterviews ausführlich dargestellt (Kapitel 6.5).
Kapitel 7 umfasst die Auswertung und Darstellung der Ergebnisse. Auch hier werden aus Gründen der Transparenz die einzelnen Auswertungsschritte ausführlich beschrieben. Kapitel 7.1 enthält die Auswertung des Experteninterviews, Kapitel 7.2 die Sekundärauswertung statistischer Daten, Kapitel 7.3 die Auswertung der Einzelinterviews und Kapitel 7.4 die vergleichende Auswertung der Migranteninterviews.
In Teil C diskutiere ich die Ergebnisse der Erhebung, weise auf weitere Forschungsfragen hin, die sich aus dieser Studie ergeben, und schlage eine Integrationsmaßnahme vor.
Kapitel 8 enthält eine Gegenüberstellung und Diskussion der Ergebnisse der...