Einführung
Tina Malti und Sonja Perren
Die Entwicklung und Förderung sozialer Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen ist ein aktuelles Thema. Zum einen, weil mit den im Zuge der Globalisierung stattfindenden sozialen und ökonomischen Veränderungen zunehmend mehr Erwartungen an die individuellen Ressourcen und Leistungen von Heranwachsenden gestellt werden (vgl. Edelstein, 2005; Heitmeyer, 1997). Diese sind notwendig, um typische Entwicklungsaufgaben wie den Übergang von der Schule in den Beruf bewältigen zu können und gewährleisten damit die soziale Integration des Heranwachsenden in die Gesellschaft. Zum anderen, weil der Anteil an psychischen und gesundheitlichen Problemen bei Kindern und Jugendlichen nach wie vor hoch ist (Ravens-Sieberer, Nickel, Erhart, Wille & European Kid-screen Group, 2006; Steinhausen, Metzke, Meier & Kannenberg, 1998). So zeigen Studien beispielsweise, dass Mobbing, Aggression und Opfererfahrungen unter Heranwachsenden weit verbreitet sind (Schäfer & Frey, 1998). Die 15. Shell-Jugendstudie (2006) berichtet für Deutschland, dass insbesondere Jugendliche aus unteren sozialen Schichten gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen wie beispielsweise Rauchen zeigen. Die Autoren der Studie vermuten, dass psychische Anpassungsschwierigkeiten wie Depressionen und Gesundheitsprobleme bei Heranwachsenden zukünftig eher noch ansteigen werden. Dies, weil der Anteil an relativer Armut und restriktiven Zugängen zu Bildung steigt und zugleich die Anforderungen an individuelle Fertigkeiten und Qualifikationen zunehmen (Hurrelmann, Albert & Arbeitsgemeinschaft Infratest, 2006).
Welche Rolle spielen soziale Fertigkeiten in diesem Zusammenhang? Einerseits können soziale Kompetenzen als Entwicklungsressourcen bzw. Resilienzfaktoren die psychische und soziale Adaptivität unterstützen (Masten & Coatsworth, 1998; Silbereisen & Lerner, 2007). Andererseits zeigen Studien, dass soziale Kompetenzen auch für akademische Leistungen relevant sind (Caprara, Barbaranelli, Pastorelli, Bandura & Zimbardo, 2000).
Die Hauptaufgabe der Beiträge in diesem Band ist es einerseits, Entwicklungsprozesse und -bedingungen sozialer Kompetenzen in der Kindheit und Adoleszenz zu analysieren. Dies ist Gegenstand des ersten Teils. Andererseits zielt der Sammelband darauf ab, evaluierte Interventionsansätze zur Förderung sozialer Kompetenzen zu analysieren, um wirksame Strategien zur Förderung spezifischer Teilkomponenten sozialer Kompetenz auf verschiedenen Entwicklungsstufen herauszuarbeiten. Der zweite Teil des Buches stellt deshalb Interventionsansätze zur Förderung sozialer Kompetenzen vor, die im Schlusskapitel auf der Basis einer integrativen entwicklungspsychologischen Perspektive zusammenfassend diskutiert werden.
Aufbauend auf diesen Zielsetzungen beschäftigen sich die Beiträge in diesem Band mit zwei übergeordneten Fragen:
1. Wie entwickeln sich soziale Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen?
2. Wie können soziale Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen entwicklungsgerecht gefördert werden?
Im ersten Teil des Bandes werden aktuelle Forschungsarbeiten zur ersten Forschungsfrage vorgestellt. Simoni, Herren, Kappeler und Licht untersuchen, wie sich soziales Interesse und Spiel, prosoziales Verhalten und Konfliktmotive als Teilkomponenten sozialer Kompetenz bei Kindern im ersten und zweiten Lebensjahr entwickeln. Die Entwicklung früher sozialer Kompetenzen ist ein Themenbereich, der in bisherigen empirischen Untersuchungen nur selten im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und deshalb interessante Informationen zu frühen Entwicklungsprozessen sozialer Fertigkeiten liefert. Der darauf folgende Beitrag von Kienbaum widmet sich der Frage nach den Entwicklungsbedingungen von Mitgefühl bei Kindern im Kindergartenalter. Das Erziehungsverhalten der Mütter und Erzieherinnen wird in Beziehung gesetzt zum Entwicklungsstand des kindlichen Mitgefühls, um kompetenzförderliche Sozialisationsbedingungen in der Erwachsenen-Kind-Dyade zu erarbeiten. Auch das darauf folgende Kapitel von Malti, Bayard und Buchmann thematisiert die Entwicklung des kindlichen Mitgefühls. Im Zentrum steht die Frage, wie soziales Verstehen, Mitgefühl und prosoziales Verhalten als Teilkomponenten sozialer Kompetenz in der mittleren Kindheit zueinander in Beziehung stehen. Analysen zu den Beziehungen verschiedener Teilkomponenten sozialer Kompetenz können zur Beantwortung der Frage beitragen, ob die Qualität sozialer Anpassungsfähigkeit rein additiver oder eher kompensatorischer Art ist. In den nächsten beiden Kapiteln werden soziale Kompetenzen und Zusammenhänge zur Qualität sozialer Beziehungen analysiert. Baumgartner und Alsaker interessiert die Frage, über welche sozialen Kompetenzen Kinder verfügen, die als Opfer und/oder Täter in Mobbingsituationen beteiligt sind. Perren, Argentino-Groeben, Stadelmann und von Klitzing analysieren zum einen die Zusammenhänge zwischen sozialen Kompetenzen und der Qualität der Gleichaltrigenbeziehungen. Zum anderen wird die Rolle sozialer Kompetenzen in Bezug auf das emotionale Wohlbefinden von Kindern untersucht. Die Analyse von Gleichaltrigenbeziehungen und psychischer Gesundheit im Zusammenhang zur sozialen Kompetenzentwicklung trägt dazu bei, Wissen über Auswirkungen des individuellen Kompetenzniveaus auf die individuelle und soziale Anpassung zu erhalten. Keller und Becker stellen in ihrem Beitrag einen theoretischen Ansatz vor, in dem sich verschiedene Teilkomponenten sozialer Kompetenz verorten lassen: der handlungstheoretische Ansatz, der kognitive, emotionale und Handlungsaspekte integriert. Dieser Ansatz wird anhand von längs- und querschnittlichen Daten in verschiedenen Kulturen sowie im Rahmen entscheidungstheoretischer Experimente und Diskussionen veranschaulicht. Ittel beschäftigt sich im letzten Beitrag dieses ersten Teils des Buches mit der Frage, über welche sozialen Kompetenzen Kinder und Jugendliche mit Mobilitäts- und Migrationserfahrungen im Umgang mit diesen Erfahrungen verfügen und wie sich ihre Identität entwickelt.
Zusammenfassend analysieren diese Beiträge die Entwicklung sozialer Kompetenzen in verschiedenen Entwicklungsphasen des Aufwachsens; dabei werden verschiedene Teilkomponenten sozialer Kompetenz zueinander in Beziehung gesetzt und Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und soziale Anpassungsfähigkeit diskutiert. Damit tragen die Studien zu einem differenzierteren Verständnis über interindividuelle Unterschiede in der sozialen Kompetenzentwicklung und Adaptivität bei.
Im zweiten Teil des Buches werden evaluierte Interventionen vorgestellt, die zum Ziel haben, soziale Kompetenzen bei Kindern oder Jugendlichen zu fördern. Die Beiträge präsentieren die theoretische Einbettung und Konzeptualisierung verschiedener Präventionsprogramme sowie Ergebnisse zu deren Wirksamkeit. Im Kapitel von Scheithauer, Bondü, Hess und Mayer wird die Wirksamkeit des Präventionsprogramms Papilio in Kindergartengruppen untersucht. Das Programm zielt darauf ab, durch die Stärkung emotionaler Kompetenzen (z. B. Emotionen ausdrücken, erkennen und regulieren) Verhaltensprobleme zu reduzieren und die Beziehungen der Kinder untereinander zu verbessern. Das von Beelmann und Jaursch präsentierte sozial-kognitive Problemlösetraining IKPL wird ebenfalls im Kindergartenalter eingesetzt. In diesem Programm steht die Förderung verschiedener Aspekte der sozialen Informationsverarbeitung (z. B. Probleme erkennen, Gefühle identifizieren, Handlungsalternativen generieren) im Vordergrund. Auch das von Schick vorgestellte Präventionsprogramm Faustlos fokussiert auf eine Verbesserung der sozialen Informationsverarbeitung. Das Programm ist für verschiedene Altersstufen (Kindergarten bis Jugendalter) adaptiert. Nass, Schiller und Kärtner stellen ein theoretisches Konzept zur entwicklungsfördernden Begleitung sozial-emotionaler Kompetenzen in Kindertagesstätten vor. Dabei wird ein individualisiertes Beratungsangebot von Kindern im Vorschulalter vorgestellt, das sich an pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten richtet und auf einem ontogenetischen Modell der Emotionsentwicklung aufbaut. Im darauf folgenden Kapitel von Strohmeier und Spiel wird ein weiteres Präventionsprogramm vorgestellt, das auf verschiedenen Systemebenen (Schule, Klasse, Individuen) ansetzt. Ein Fokus des Programms ist die wirksame Reduktion von Mobbing unter Kindern und Jugendlichen. Im Beitrag von Gutzwiller-Helfenfinger wird untersucht, ob Rollenspieltraining bei Jugendlichen deren soziale Perspektivenübernahmefähigkeit erhöht und antisoziales Verhalten reduziert. Im Gegensatz zu den anderen eher primärpräventiven Ansätzen untersuchen Bach und Kratzer, ob bei bereits delinquent gewordenen Jugendlichen eine Förderung sozialer Kompetenzen zu einer Reduktion von Aggression und Adaptivität...