|30|2 Modelle der Entstehung und Förderung sozial kompetenten Verhaltens
Die sozialen Kompetenzen bilden im Sinne eines Potentials (Ford, 1985) die Grundlage sozial kompetenten Verhaltens. Wer über hinreichend Kompetenzen verfügt, wird bestimmte soziale Situationen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit erfolgreich meistern als jemand, dessen Kompetenzen defizitär ausgeprägt sind. Eine Garantie für exzellentes Sozialverhalten in jedweder Situation bieten soziale Kompetenzen jedoch nicht. Fast jeder Personaltrainer hat es schon einmal erlebt, dass ein bislang reibungslos ablaufendes Verhaltenstraining wie aus heiterem Himmel plötzlich nicht funktionieren will. Obwohl der Trainer im Allgemeinen gut mit Menschen umgehen kann und glaubt, nach dem 20. Trainingsdurchlauf auf alle Situationen richtig reagieren zu können, tritt eine Situation auf, die er nicht sogleich in den Griff bekommt. Zum Beispiel kann er der Abwehr einzelner Teilnehmer nicht adäquat begegnen, woraufhin die ganze Veranstaltung aus dem Ruder zu laufen droht. Gewiss verfügt der Trainer über hinreichende Kompetenzen, die er bereits in vielen ähnlich gelagerten Situationen unter Beweis stellen konnte. Möglicherweise hat er die Situation diesmal nicht gleich zu Beginn richtig eingeschätzt und daher auf falsche Verhaltensstrategien zurückgegriffen. Vielleicht war er mit seinen Gedanken ganz woanders und hat sich nicht sorgfältig genug mit seinen Gesprächspartnern auseinandergesetzt. Die Ursachen sind nicht offensichtlich. Wir sehen jedoch an diesem Beispiel und an vielen weiteren, die jeder Leser sicherlich aus seinem eigenen Leben kennt, dass die vorhandenen Kompetenzen nicht automatisch auch in jeder Situation zu kompetentem Verhalten führen. Will man die Ursachen ergründen, so muss man zunächst der Frage nachgehen, auf welchen Wegen vorhandene Potenziale in situatives Verhalten umgesetzt werden. Genau dies ist die Aufgabe des vorliegenden Kapitels.
2.1 Elaborierte Steuerung des Sozialverhaltens
Bislang existiert keine etablierte Theorie sozial kompetenten Verhaltens, die – wie man es sich wünschen würde – über viele Jahre hinweg einer intensiven empirischen Überprüfung zugeführt worden wäre. Stattdessen stoßen wir auf eine bunte Vielfalt oft nur wenig beachteter Modelle. Die Zielrichtungen und auch der Nutzen der verschiedenen Theorien für das Personalmanagement sind sehr unterschiedlich. Der Ansatz von DuBois und Felner (1996) hebt z. B. die Bedeutung der Interaktion zwischen den Eigenschaften des Menschen und seiner Umwelt für die Ausbildung kompetenten Verhaltens hervor. Auf der Ebene der Eigenschaften werden kognitive, behaviorale, emotionale und motivationale Kompetenzen unterschieden. Konkrete |31|Aussagen für die Entstehung oder Verhinderung sozial kompetenten Verhaltens am Arbeitsplatz sind allein schon aufgrund des sehr abstrakten Analyseniveaus kaum vorzunehmen. Betrachten wir die Modelle im Überblick, so lassen sich grob drei Traditionen unterscheiden.
Modelle der ersten Gruppe stehen in der Tradition der Kommunikationsforschung. So beschreibt z. B. Riggio (1986) sozial kompetentes Verhalten als Kommunikationsprozess, bei dem eine Botschaft gesendet, die Botschaften anderer Menschen empfangen und das eigene Verhalten kontrolliert werden muss. Dies gilt sowohl für sozial-verbale als auch für emotional-nonverbale Botschaften. Ähnliche Überlegungen stellen Halberstadt, Denham und Dunsmore (2001) an.
Modelle der zweiten Art stehen in der Tradition der Kognitionsforschung. Sie beschäftigen sich mit Enkodierung und Speicherung von Informationen sowie den Entscheidungsprozessen, die letztlich zur Auswahl eines bestimmten Sozialverhaltens führen. Hierzu zählen u. a. die Modelle von McFall (1982) sowie Crick und Dodge (1994).
Die dritte recht umfangreiche Modellgruppe basiert auf der Tradition der Handlungstheorie (z. B. Argyle, 1967; Greif, 1987, Hinsch & Pfingsten, 2007; Hinsch & Wittmann, 2010). Sie gehen davon aus, dass sozial kompetentes Verhalten das Ergebnis der zielgerichteten Analyse einer aktuellen Situation darstellt. Mit dieser Modellgruppe wollen wir uns intensiver auseinandersetzen, da die Handlungstheorie eine sehr lebensnahe und damit auch praxisrelevante Analysemöglichkeit darstellt. Überdies lassen sich die beiden übrigen Ansätze ohne größere Schwierigkeiten in ein handlungstheoretisches Modell einfügen.
Die Bezeichnung „Handlungstheorie“ ist leicht irreführend, da sie die Assoziation nahe legt, es handele sich um eine einzelne Theorie. De facto existieren viele unterschiedliche Handlungstheorien, die jedoch alle den gleichen Prinzipien verpflichtet sind (vgl. Kanning, 2001). Der Ansatz findet in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Dominanz des Behaviorismus Verbreitung (Miller, Galanter & Pribram, 1960). Im Gegensatz zum Behaviorismus betrachtet man den Menschen nicht primär als ein durch seine Umwelt gesteuertes Wesen, sondern hebt die Fähigkeit zur Selbststeuerung hervor. In der Folge beschäftigen sich Handlungstheorien nur mit einem bestimmten Ausschnitt menschlichen Verhaltens, eben gerade dem zielgerichteten Verhalten. Die Steuerung des zielgerichteten Verhaltens folgt einem fünfstufigen Regelkreismodell, das in Abbildung 10 dargestellt ist.
Am Anfang steht die Situationsanalyse. Der Handelnde orientiert sich im Hinblick auf Zeit und Raum, etwaige Interaktionspartner, gesellschaftliche Konventionen und ähnliche Informationen, die für ihn und sein Verhalten wichtig sind. In einem zweiten Schritt definiert er ein Ziel seiner Handlung. |32|Während die Situationsanalyse einen Ist-Zustand beschreibt, formuliert der Handelnde nun einen Soll-Zustand. Dabei setzt er die Realität in eine Beziehung zu seinen eigenen Bedürfnissen. In Phase 3 generiert er ein Verhalten, das seiner Meinung nach in der Lage ist, den Ist-Zustand in den anvisierten Soll-Zustand zu überführen. Anschließend erfolgt in Phase 4 die eigentliche Handlung, die der Zielerreichung dienen soll. Während alle bisherigen Phasen allein im Kopf des Handelnden abgelaufen sind, haben wir es nun zum ersten Mal mit einem sichtbaren Verhalten zu tun. Den Abschluss des Handlungszyklus bildet in Phase 5 die Evaluation. Der Handelnde vergleicht nun Ist- und Soll-Zustand dahingehend, ob der Ist-Zustand erfolgreich in den Soll-Zustand überführt werden konnte. Ist dies der Fall, so ist der Prozess der Handlungssteuerung an dieser Stelle beendet. Weichen Ist- und Sollzustand hingegen in bedeutsamer Weise voneinander ab, so setzt sich der Prozess kreislaufförmig fort. Erneut werden die Spezifika der nunmehr veränderten Situation analysiert, ein Ziel definiert und so fort, bis hin zur nächsten Evaluation.
Abbildung 10: Der Regelkreis der Handlungstheorie
Der handlungstheoretische Ansatz ist so abstrakt gehalten, dass man mit seiner Hilfe jedwedes zielgerichtete Verhalten beschreiben und in groben Zügen auch erklären kann. Die ursprünglichen Modelle beziehen sich denn auch gar nicht auf das Sozialverhalten des Menschen. Handlungstheoretische Modelle sozial kompetenten Verhaltens (z. B. Argyle, 1967; Borgart, 1985; Greif, 1987; Hinsch & Pfingsten, 2007) übertragen die allgemeinen Prinzipien des Regelkreises auf das Verhalten in sozialen Situationen. Auch sie bleiben jedoch sehr allgemein. Zwar beschreiben sie die Entstehung von |33|Sozialverhalten, vernachlässigen dabei aber die Unterscheidung zwischen kompetentem und inkompetentem Verhalten. Sie schildern lediglich, wie die Verhaltenssteuerung ablaufen kann. Diesem Defizit wollen wir im Folgenden begegnen, indem wir ein handlungstheoretisches Modell vorstellen, das sich explizit auf die Genese sozial kompetenten Verhaltens bezieht (Kanning, 2002a). Da die Handlungstheorie immer von einem rational denkenden Menschen ausgeht, der seine Umwelt und das eigene Handeln sorgfältig analysiert, nennen wir es ein Modell der elaborierten Steuerung des Sozialverhaltens. Wie später noch zu sehen sein wird, ist das sorgfältig analysierende Vorgehen jedoch nicht die einzige Möglichkeit, um zu einem sozial kompetenten Verhalten gelangen zu können. Abbildung 11 gibt einen Überblick über das Modell.
Abbildung 11: Modell der elaborierten Steuerung des Sozialverhaltens
Am Anfang steht erneut die Situationsanalyse. Im Sinne unserer Definition sozial kompetenten Verhaltens (Kapitel 1.1.3) muss sich der Handelnde über zwei Dinge im Klaren sein. Zum einen muss er eigene Ziele definieren, die er in der aktuell vorliegenden Situation...