2 Leitgedanken der Sozialen Psychiatrie
Im folgenden Kapitel werden wir Begriffe und Themenbereiche vorstellen, die in den Überlegungen zur Weiterentwicklung der Sozialen Psychiatrie heute bedeutsam sind. Nicht jeder dieser ausgewählten Begriffe ist speziell für die Soziale Psychiatrie bzw. aus ihr heraus entwickelt worden. Konzepte der Sozialen Arbeit überschneiden sich mit Erkenntnissen aus den Gesundheitswissenschaften und der Behindertenhilfe, internationale Einflüsse spielen ebenso eine Rolle wie aktuelle Tendenzen der Sozialgesetzgebung. Die hier dargestellten Leitgedanken der Sozialen Psychiatrie bilden kein fertiges Gerüst. Sie verdeutlichen aber, wie intensiv heute nach Formen und Konzepten einer angemessenen Unterstützung psychisch erkrankter Menschen gesucht wird. Dass dabei wissenschaftliche Erkenntnisse und aktuelle Diskurse der Nachbardisziplinen einbezogen werden, ist nur folgerichtig. Schließlich befindet sich jeder, der in der Sozialen Psychiatrie tätig ist, in einem Spannungsfeld zwischen psychiatrischen Grundlagen, sozialpolitischen Aufträgen und diversen fachlichen Positionen sowie ethischen Überzeugungen. Dafür einige Orientierungspunkte zu setzen, soll Aufgabe dieses Kapitels sein.
2.1 Bedürfnisangepasste Behandlung – Need-adapted treatment
Dem Konzept der bedürfnisangepassten Behandlung (need-adapted treatment) liegt der Gedanke zu Grunde, dass es sich bei Psychosen um den Versuch des Individuums handelt, kritische Lebensereignisse zu bewältigen. Die Probleme und Konflikte ereignen sich häufig innerhalb der Familie oder des sozialen Netzwerks; zur Klärung und Offenlegung der Konflikte muss also dieses soziale Netzwerk einbezogen werden. In der Begleitung und Behandlung stehen systemische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden im Vordergrund; alle Mitarbeiter der Teams, also auch Sozialarbeiterinnen, Pädagogen und Pflegekräfte, verfügen über eine psychotherapeutische Ausbildung. Jede psychische Krise bzw. Erkrankung kann und soll im Sinne des need-adapted treatments behandelt werden, das Konzept gilt also nicht nur für Ersterkrankte.
Das Need-Adapted-Treatment-Konzept geht auf Erfahrungen in Skandinavien zurück, wo vor einigen Jahren Behandlungsmodelle für Psychosen systematisch entwickelt und evaluiert wurden, z. B. das sogenannte Fallschirm-Projekt in Schweden (Cullberg 2008). Es zeigte, wie eine Intervention bei Menschen, die erstmals an einer Psychose erkrankt sind, ohne die übliche Neuroleptika-Medikation gelingen kann. Dabei wurde deutlich, dass es nicht ausreicht, lediglich für einige Wochen oder Monate zu behandeln; mindestens über fünf Jahre hinweg ist eine kontinuierliche therapeutische Unterstützung und Begleitung erforderlich. Schrittweise entstand über diese Projekte und ihre Auswertung die Idee der »bedürfnisangepassten Behandlung«. Die Evaluation ergab starke Hinweise auf eine Überlegenheit des Ansatzes gegenüber traditionellen Behandlungsmethoden, z. B. insgesamt geringere psychotische Symptome, seltenere psychotische Restsymptomatik, d. h. mehr vollständige Remissionen, deutlich kürzere stationäre Behandlungen, bessere psychosoziale Funktionsfähigkeit, ein höherer Anteil voller Erwerbsfähigkeit, seltenere Therapieabbrüche (Absenkung bis zu 5 % über 5 Jahre), Neuroleptika-Freiheit bei 40–70 % der Patienten während der gesamten Behandlung, in den übrigen Fällen erheblich reduzierte Dosierungen, Symptomfreiheit beim überwiegenden Teil der Patienten fünf Jahre nach Behandlungsbeginn (Aderhold u. Greve 2007).
Therapieversammlung
Das entscheidende Element im Konzept der bedürfnisangepassten Behandlung ist die Einberufung einer Versammlung zum frühestmöglichen Zeitpunkt, am besten innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden der psychotischen Krise des Klienten, also bevor sich die psychotischen Symptome und Denkweisen verfestigt haben. Die Therapieversammlung findet in der vertrauten Umgebung statt, meist in der Wohnung des Klienten, auf jeden Fall an einem Ort seiner Wahl. Befindet sich der Klient bereits in stationärer Behandlung, wird die Versammlung auf der Station einberufen. Zur Teilnahme an diesem Gespräch werden alle Menschen gebeten, die an der Krise beteiligt bzw. von ihr betroffen sind. Meist ist dies die Familie, manchmal kommen auch Freunde, Kollegen, Mitschüler oder Nachbarn hinzu. Diese Therapieversammlungen werden in den ersten 10–12 Tagen täglich einberufen, später seltener und nur noch dann, wenn Veränderungen anstehen. Zwei Mitarbeiter des Teams sind bei der Versammlung anwesend. Beide stehen über einen sehr langen Zeitraum hinweg als Ansprechpartner zur Verfügung und sorgen für Kontinuität.
Offener Dialog
Die psychotherapeutische Grundhaltung des need-adapted treatment lautet: Verstehen, was passiert ist. Die Therapieversammlung wird mit einer speziellen Gesprächsform – dem »Offenen Dialog« – von den Mitgliedern des Teams moderiert (Seikkula u. Arnkil 2007). Jeder Teilnehmer wird angeregt, laut zu denken und seine Sicht der Situation zu schildern. Es geht darum, jede Stimme laut werden zu lassen und zuzuhören. Die Halluzinationen des Klienten finden – als eine Stimme unter vielen – Gehör. Die Therapeuten lernen die Sprache der Familie bzw. des Netzwerks kennen und übernehmen sie. Mit der Form des Offenen Dialogs entsteht eine große Transparenz, sodass sowohl die Teilnehmer als auch die Mitglieder des Teams besser verstehen, wie ein Konflikt entstanden ist und weshalb der Klient in das psychotische Verhalten ausgewichen ist. Offenbar vermag bereits diese erste Therapieversammlung den Knoten oft zu lösen und die Situation zu entschärfen. Der Klient wird ermuntert, sich den Problemen zu stellen und nicht in seine Symptome zu flüchten. Die Versammlung dient dem Team auch dazu, eine diagnostische Einschätzung zu treffen und einen Behandlungsplan zu entwickeln. Dabei werden alle Beteiligten einbezogen; alle wichtigen Informationen werden einfach und verständlich vermittelt. Das weitere Vorgehen wird gemeinsam besprochen. Es werden keine psychiatrischen Diagnosen, sondern Problemdefinitionen angeboten.
An allen weiteren Phasen der Behandlung ist der Klient ebenfalls beteiligt, jeder Schritt wird an seine Bedürfnisse angepasst. Der Klient wird dabei unterstützt, weiterhin zur Schule zu gehen, zu arbeiten oder eine Ausbildung abzuschließen. Je nach Bedarf und Verlauf werden unterschiedliche therapeutische Verfahren angewandt, vor allem Familiengespräche im Sinne systemischer Netzwerkarbeit. Bei anhaltender Symptomatik wird verstärkt in Einzeltherapie mit kognitiv-verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt gearbeitet. In der ersten Woche erfolgt grundsätzlich keine medikamentöse Behandlung. Bei Bedarf (z. B. bei großer Angst) werden Benzodiazepine bevorzugt. Neuroleptika werden minimal und frühesten nach einer Woche und erst nach mindestens drei Therapieversammlungen eingesetzt. Als Alternative zum Home Treatment haben sich auch gute therapeutische Milieus auf kleinen Stationen oder in Krisenwohnungen bewährt.
Die Akutbehandlung der Psychosen erfolgt in Deutschland überwiegend in Kliniken; hier steht die psychopharmakologische Behandlung bisher ganz im Vordergrund. Doch zunehmend gerät diese Form der Behandlung, die sehr häufig ausschließlich und einseitig auf Neuroleptika setzt, in die Kritik. Gesucht wird nach Alternativen. Obwohl das Konzept der bedürfnisangepassten Behandlung in der deutschen Sozialpsychiatrie auf großes Interesse stößt, konnte es bisher wegen des gegliederten Versorgungssystems noch an keinem Ort wirklich umgesetzt werden (Aderhold u. Greve 2008). Viele Kliniken ( Kap. 8) haben damit begonnen, ihre Teams zu schulen und Elemente in die Behandlung aufzunehmen. Besonders aber im Rahmen der »Integrierten Versorgung« hat sich die Methode der bedürfnisangepassten Behandlung bewährt, so z. B. bei den Modellen des »Netzwerk psychische Gesundheit» oder beim »Hamburger Modell» der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf.
Zur Vertiefung
Cullberg J (2008) Therapie der Psychosen. Ein interdisziplinärer Ansatz. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Mackler, Daniel (2011) Open dialogue. Dokumentarfilm 74 Min. (auf Youtube eingestellt unter www.youtube.com/watch?v=aBjIvnRFja4)
2.2 Individualisierte Hilfen
Menschen mit Behinderung wollen selbst bestimmen, wie für sie ein gutes Leben aussieht. Im Rahmen der »Independent-Living-Bewegung« in den USA und der »Behinderten- und Krüppelbewegung« in Deutschland entstand bereits Ende der 1970er Jahre die Idee der Persönlichen Assistenz: Auch...