In ein Heim kommen Mädchen und Jungen, die zuvor die verschiedensten Belastungen erlebt haben. Die Klientel kann ursprünglich in einer Familie gelebt haben, in einem anderen Heim oder auf der Straße. Häufig sind die Kinder und Jugendlichen den Jugendämtern bereits bekannt, etwa wenn ihre Familien schon andere Hilfemaßnahmen im Rahmen der Jugendhilfe (beispielsweise die der Erziehungsbeistandschaft) in Anspruch genommen haben. Mit der Heimaufnahme kommen neue Belastungen hinzu. Neben der Ungewißheit über die Zukunft in einer neuen Umgebung mit fremden Personen und deren Erwartungen kommt die Trennung von Eltern, evtl. Geschwistern, anderen Bezugspersonen, Freunden und Freundinnen und dem be- kannten vertrauten Umfeld, wie der Schule, der Nachbarschaft hinzu. Nicht selten wird die Einweisung als Strafe empfunden[65]. Ob das Leiden vermindert werden kann oder aber verstärkt wird, hängt mitunter von weiteren Verfahrenswegen, der Gestaltung der neuen Umgebung und der Annahme des Jungen oder Mädchen in dem neuen Umfeld ab.
Im weiteren Verlauf werde ich Ursachen darstellen, die zu einer Heimeinweisung führen können, daraufhin werde ich Verfahrenswege vor dem Umzug in das neue Heim benennen und anschließend auf den Einzug selbst eingehen.
Die Ursachen, die die Heimunterbringung von Kindern und Jugendlichen auslösen, sind vielschichtig und müssen auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden.
Als Konsens kann lediglich gelten, daß das Eintreten institutioneller Erziehung immer von Definitionen abhängig ist. Neben der Beurteilung (z. B. von Seiten des Jugendamtes), daß von einer Gefährdung des Kindeswohles auszugehen sei (womit eine Inobhutnahme von Kindern oder Jugendlichen legitimiert sein würde) spielen - im Sinne des Perspektivenwechsels der Jugendhilfe - Definitionen eine Rolle, die Aussagen über die Tauglichkeit einer Erziehung und der Auswirkung dieser auf die Entwicklung des jungen Menschen machen. An solchen Definitionen sind unterschiedliche Instanzen beteiligt, wie nun u. a. auch die Familie selbst.
Personen, die als Erziehungsberechtigte die "Hilfe zur Erziehung" in Betracht ziehen, müssen die von ihnen ausgeübte Erziehung als mangelhaft erleben und die Entwicklung ihrer Kinder als gefährdet, was das Eingeständnis des eigenen Versagens bedeuten würde. In Anbetracht der Tatsache, daß die Erziehung im Heim nachrangig in Frage kommen soll, bedeutet das, daß die betroffenen Kinder oder Jugendlichen mit ihren Familien häufig schon zuvor andere Jugendhilfemaßnahmen in Anspruch genommen haben. Das Versagen dieser Hilfen kann wiederum als eigenes Verschulden (der Personensorgeberechtigten oder ihrer Kinder) interpretiert werden.
Hatte in vergangener Zeit (vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes) die sog. "Verwahrlosung" von Kindern und Jugendlichen ein zentrales Kriterium für die Heimeinweisung geboten, treten gegenwärtig die Schwierigkeiten und Probleme der Personensorgeberechtigten in den Vordergrund und führen zu der Unterbringung in den Heimen[66].
Erziehungsprobleme resultieren häufig aus psychischer Überforderung von Eltern (z. B. durch soziale Isolation, Ehekonflikte, soziale Randständigkeit durch Kinderreichtum) und materieller Not (etwa her- vorgerufen durch Arbeitslosigkeit). Weitere Belastungsfaktoren können beispielsweise Suchtmittelabhängigkeit, Überschuldung und unzureichender Wohnraum bilden[67].
Gesellschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik werden zu- nehmend mit den Begriffen der "Zwei - Drittel - Gesellschaft" und der "Neuen Armut" beschrieben. Nach einer Studie des Deutschen Caritasverbandes (2000) verfügt das "untere Drittel" über 0, 5 % des Vermögens in der BRD (dieses sind durchschnittlich 1100 DM pro Person). Als besonders armutsgefährdet gelten Alleinerziehende und Familien mit Kindern. Faktoren wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit können schon dazu führen, daß die betroffenen Personen unter die Armutsgrenze (die bezogen auf einen Ein - Personen - Haushalt 1997 bei 924 DM lag) rutschen[68]. Die Kinder und Jugendlichen, die in den Heimen leben, kommen überproportional aus Haushalten, die am Existenzminimum leben, überschuldet sind[69] und aus Ein - Eltern - Familien[70]. Damit ist es die "harte gesellschaftliche Realität, die den Bedarf an stationären Erziehungshilfen stark definiert"[71].
Weiterhin sind in der BRD zunehmend Entwicklungen zu beobachten, die auf eine Veränderung der Familienstrukturen bzw. der Beziehungsgefüge hinweisen. Es gibt vermehrt Kinder und Jugendliche, die als Einzelkinder aufwachsen, hohe Trennungs- und Scheidungs- raten und folglich mehr Jungen und Mädchen, die nur bei einem El- ternteil aufwachsen[72].
Aus den wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen der Eltern können sich Faktoren bedingen, die zur Heimeinweisung führen können. Neben direkten Bedingungen[73], wie z. B. bei einem Kind (was dann als auffällig, "erziehungsschwierig" gilt, weil es etwa fortwährend seine MitschülerInnen bestiehlt), das Diebstähle begeht, um mit diesen einen Bedarf zu decken, welchen es ansonsten nicht decken kann (z. B. bei Hunger oder dem Wunsch nach Anerkennung bei den KlassenkameradInnen durch Statussymbole, wie etwa Markenkleidung), können die eingangs erwähnten Benachteiligungen zur Gewaltausübung gegenüber Kindern und Jugendlichen führen. Sie müssen somit als ein Faktor der Konflikt- und Gewaltentstehung in Familien gesehen werden[74]. Zu denken wäre hier beispielsweise an eine sechsköpfige Familie, die in den beengten Wohnverhältnissen einer Drei - Zimmer - Wohnung leben muß. Konflikte sind hier vorprogrammiert. Strukturelle Bedingungen, wie unzureichend kindgerechte Wohnanlagen, ein unbefriedigendes Angebot an Kindergartenplätzen und Arbeitslosigkeit der Eltern, lassen kaum Möglichkeiten erkennen, persönliche Entfaltungsmöglichkeiten der einzelnen Individuen zuzulassen.
Kinder und Jugendliche, die in die Heime kommen, haben oftmals Gewalt erlebt, die auch außerhalb der o. g. Bedingungen zu betrachten ist. Insbesondere bei Kindesmißhandlungen und sexuellem Mißbrauch von Mädchen und Jungen sind andere Faktoren, wie z. B. die eigene Biographie der Eltern, einzubeziehen und individuell zu hinter- fragen. Nach Hochrechnungen werden in den westdeutschen Bundesländern pro Jahr ca. 150 000 Kinder[75] körperlich mißhandelt und 80 000 sexuell mißbraucht[76].
Diese und andere Faktoren (der Gefängnisaufenthalt eines Eltern- teils, der Tod von Angehörigen, besondere Unglücksfälle[77] u. a.) können zu einem Heimaufenthalt führen (wie z. B. durch eine Inobhutnahme bei einer Gefährdung des Kindeswohles mit anschließendem Sorgerechtsentzug), müssen jedoch nicht, sind andere soziale Sy- steme oder Möglichkeiten vorhanden.
Nicht nur Personensorgeberechtigte, Kinder und Jugendliche werden auf Leistungen der Jugendhilfe aufmerksam[78], sondern auch die Jugendämter werden auf die Familien, Kinder und Jugendlichen aufmerksam (gemacht). Außerhalb der Familien definieren Instanzen, beispielsweise die Nachbarschaft oder die Polizei, Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen und teilweise ihrer Eltern, die einen Ein- griff des Jugendamtes von Amts wegen erfordern. SozialpädagogInnen der Jugendämter bekommen beispielsweise anonyme Hinweise über eine Kindesmißhandlung, Anrufe von LehrerInnen, die über un- zureichende Versorgung der SchülerInnen berichten oder aber von AnruferInnen, die von problematischen Verhaltensweisen von Mäd- chen und Jungen erzählen. So definieren Schulen das Verhalten eines Kindes als auffällig[79] (etwa mit dem Begriff der "erhöhten Aggressionsbereitschaft") wenn die Person stets den Unterricht stört. In diesem Zusammenhang muß das Jugendamt auf die bekannt gewordenen Familien[80] zugehen und ihnen ggf. ein Hilfeangebot machen. Die Personensorgeberechtigten, Kinder und Jugendlichen können die Angebote ablehnen. Sehen die MitarbeiterInnen der Jugendämter jedoch das Wohl der jungen Menschen als gefährdet an, setzt neben dem helfenden der kontrollierende Aspekt Akzente. Demnach kann die Familie weiter "beobachtet" (etwa durch Hausbesuche) werden und ggf. ist, wie bereits erwähnt, das Vormundschaftsgericht anzurufen.
Immer wieder kommt es vor, daß Kinder und Jugendliche von einem Heim in ein anderes verlegt werden, mitunter unterbrochen von Aufenthalten bei den Eltern[81] und in Psychiatrien[82]. In dem Fall der Abschiebungen[83] in ein anderes Heim ist häufig zu beobachten, daß die Klientel in keiner Weise an den Entscheidungen beteiligt wird[84]. Bei solchen Prozessen werden alle bisherigen sozialen Bezüge weitgehend zerstört, was zu einer problematischen Entwicklung führen kann, die der Klientel letztendlich selbst zugeschrieben wird. So wer- den Definitionen, wie z. B. "Beziehungslosigkeit", "Unfähigkeit, sich auf stabile Verhältnisse einzulassen" und "Aggressivität"...