67Einleitung
Dieses Buch geht auf Vorlesungen zurück, die einer der beiden Autoren (Hans Joas) ursprünglich für eine Gastprofessur an der University of Chicago 1985 konzipiert und seither regelmäßig gehalten hat. Zuerst waren Ende der 1980er Jahre Studierende der Universität Erlangen-Nürnberg die Zuhörer, dann mehr als ein Jahrzehnt lang Studierende der Freien Universität Berlin, außerdem in einzelnen Semestern Studierende verschiedener amerikanischer und europäischer Universitäten. Der jüngere Autor (Wolfgang Knöbl) war in verschiedenen Stufen seiner akademischen Karriere an der Durchführung und ständigen Verbesserung beteiligt: als Student in Erlangen, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent in Berlin und New York, nun als Kollege an der Universität Göttingen.
Es bedarf keiner Erwähnung, daß sich die Konzeption dieser Vorlesungen im Laufe der Zeit beträchtlich veränderte – und dies nicht nur wegen der selbstverständlichen Notwendigkeit ständiger Aktualisierung, sondern auch in Reaktion auf die Bedürfnisse und Verständnisprobleme der Zuhörer sowie die sich fortentwickelnden eigenen Theorieprojekte der Autoren. Es scheint uns jetzt aber ein Punkt erreicht, an dem wir uns unserer Konzeption und unseres Überblicks so sicher sind, daß wir es wagen dürfen, die Grenzen des Hörsaals zu überschreiten und an ein Lesepublikum heranzutreten. Wir hoffen, mit diesem Überblick den Bedürfnissen der Studierenden sozialwissenschaftlicher Fächer ebenso zu genügen wie denen fachfremder Leser, die gerne verstehen möchten, was sich seit etwa dem Ende des Zweiten Weltkriegs international auf dem Gebiet einer Theorie des Sozialen getan hat und tut.
Wir haben zum Zwecke der Verständlichkeit den Duktus mündlicher Vorlesungen in der Schriftform weitgehend beibehalten. Unser Vorbild waren dabei so ausgezeichnete philosophische Werke wie Ernst Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie und Manfred Franks Vorlesungen Was ist Neostrukturalismus?. Auch auf einem Themengebiet, das dem unseren näher liegt, gibt es ein vergleichbares Werk: Jeffrey Alexanders Twenty Lectures: Sociological Theory since World War II. Wir folgen Alexanders Vorbild nicht nur in der Zahl der Vorlesungen, sondern auch in der Vorschaltung eines wissenschaftstheoretischen ersten Kapitels. Wir 8stimmen mit Alexander zudem darin überein, daß sich die Theorie-Entwicklung nach 1945 in drei große Phasen einteilen läßt: zunächst die Zeit einer Dominanz des Werks von Talcott Parsons und einer heute als konventionell empfundenen Modernisierungstheorie, dann die Phase eines Verlusts dieser Dominanz und des Zerfalls in konkurrierende, sich teilweise sogar heftig befehdende und dabei auch politisch-moralisch argumentierende »Ansätze«, vornehmlich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, und seither die Entstehung eines – wie Alexander sagt – »new theoretical movement«, d. h. das Aufsprießen ehrgeiziger Theoriesynthesen, teils auf dem Boden der konkurrierenden Ansätze, teils aus neuartigen Motiven.
Hier endet aber unsere Übereinstimmung mit Alexander. Es ist deshalb auch nur in den ersten acht Vorlesungen eine thematische Überlappung mit seinem Buch vorhanden. Alexanders Werk ist nämlich völlig amerika-zentrisch und auf eine quasi-historische Rechtfertigung seines eigenen neo-parsonianischen Syntheseversuchs ausgerichtet (zur Kritik vgl. Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, S. 223-249, v. a. S. 246-248). Da sich gerade auf theoretischem Gebiet aber seit 1970 die Gewichte sehr stark in Richtung Europa verlagert haben und die ehrgeizigsten und fruchtbarsten Versuche aus Deutschland (Habermas, Luhmann), Frankreich (Touraine, Bourdieu) und England (Giddens, Mann) kamen, war Alexanders Darstellung schon in ihrem Erscheinungsjahr (1987) ungenügend und ist es jetzt erst recht. Wir haben uns allerdings darum bemüht, in unserem Buch die umgekehrte Einseitigkeit zu vermeiden. Deshalb finden sich hier die Selbstrevisionen und Weiterentwicklungen der Modernisierungstheorie und des Parsonianismus ebenso behandelt wie die Renaissance des Pragmatismus und die Entstehung des Kommunitarismus – alles zu beträchtlichen Teilen intellektuelle Produkte Nordamerikas.
Der Anspruch auf Vollständigkeit, Proportionalität und Fairneß, der in diesen Bemerkungen zum Ausdruck kommt, weist schon darauf hin, daß wir sehr wohl den Einsatz dieses Buches in der akademischen Lehre mit im Auge haben. Dennoch ist dieses Buch kein Lehrbuch im strengen Sinn. Es präsentiert nicht gesichertes Wissen in neutraler Form. Wie in der Philosophie gibt es in der Theorie der Sozialwissenschaften, insbesondere wenn sie über das Empirisch-Explanatorische hinausgeht, in dem ja auch Gewißheitsansprüche oft frustriert werden, keine Gewißheit. Und hinsichtlich der Neu9tralität kann auf diesem Gebiet nur gelten, daß fair und umfassend argumentiert wird, nicht aber, daß auf eine eigene theoretische Perspektive verzichtet würde. Wir scheuen deshalb Kritik und Wertung keineswegs. Im Gegenteil verstehen wir dieses Buch durchaus als Teil unserer Arbeit an einer gegenwartsadäquaten umfassenden Sozialtheorie – aber eben als umfassende Verständigung über die vorhandenen Leistungen, Probleme und Aufgaben in diesem Zusammenhang.
Wir haben dieses Buch nicht so benannt wie die zugrundeliegenden Vorlesungen meist hießen, nämlich »Moderne soziologische Theorie«. Dieser Titel paßte zwar ins Curriculum soziologischer Studiengänge, traf aber von jeher nicht die Einbeziehung von Gedankengängen und Wissensbeständen (wie Strukturalismus und Pragmatismus), die im wesentlichen außerhalb der Soziologie beheimatet sind. Das Kriterium für die Berücksichtigung war immer schon ein anderes als das der disziplinären Zugehörigkeit, nämlich das eines Beitrags zu einer Theorie des Sozialen. Da im Deutschen – im Unterschied zum Englischen – der Begriff der »Sozialtheorie« aber ein Neologismus ist, bedarf unsere Entscheidung der Begründung.
Eine Begriffsgeschichte der Verwendung von »social theory« im Englischen liegt uns nicht vor. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts scheint der Begriff schon ohne weitere Rechtfertigung gebraucht worden zu sein. Er ist dabei einerseits, ähnlich wie der Begriff »social thought«, ohne genauere Bestimmung für ein Gebiet des Denkens verwendet worden, das später die Soziologie für sich reklamierte. Somit bezeichnete er verallgemeinerte Aussagen über soziale Zusammenhänge bzw. über Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens. Er hat andererseits aber als Selbst- und Fremdbezeichnung eine Art des Denkens benannt, das den »Individualismus« attackierte oder doch über diesen hinausgehen wollte. Damit war »social theory« gegen zentrale Prämissen ökonomischen, politischen und psychologischen Denkens in der angelsächsischen Welt gerichtet; impliziert war hier eine spezifische theoretische Sichtweise auf kulturelle und soziale Prozesse, die freilich nicht ein für allemal geklärt war, sondern über die es immer auch theoretische Auseinandersetzungen gab. Da ein solcher individualismuskritischer Impuls, mithin eine je spezifische Herangehensweise an soziale Sachverhalte, auch die Disziplin Soziologie im Prozeß ihrer Institutionalisierung wesentlich prägte, 10scheint man zunächst die Spannung zwischen den beiden Verwendungsweisen – auf der einen Seite ein Theoriebegriff, der auf empirische Gegenstände abzielte, auf der anderen Seite einer, der die adäquate Zugangsform zum Phänomen des Sozialen zum Thema hatte – nicht stark empfunden zu haben.
Mit der Etablierung des Fachs und vor allem mit seiner stärkeren Professionalisierung mußte diese Spannung aber immer klarer erkennbar werden. Von der professionell betriebenen und empirisch ausgerichteten Soziologie aus gesehen meinte Theorie vornehmlich »empirische Theorie«, d. h. eine hohe Generalisierungsebene explanatorischer Aussagen (vgl. die Erste Vorlesung zur näheren Erläuterung). Normative Stellungnahmen und orientierende Sinndeutungen sollten aus einem solchen als eng zu bezeichnenden Theorieverständnis eher herausgedrängt werden. Das Unternehmen Theorie, nun in einem weiteren Sinn begriffen, kam aber sogar zur Zeit der Dominanz solcher Auffassungen nie zum Stillstand. Zumindest im Sinne einer Hypothesenquelle und zum Zweck einer historischen Selbstvergewisserung der Identität des Faches wurde eine solcherart verstandene Theorie stets als nützlich erachtet. Und genau einem solchen Theorieverständnis werden sich unsere Vorlesungen dann auch widmen. Dafür gibt es gute Gründe.
Denn nicht nur hat sich das Verständnis der Rolle von Theorie in den Wissenschaften generell in den letzten Jahrzehnten beträchtlich verändert (auch dazu näher die folgende Erste Vorlesung). Es entstanden auch in benachbarten Feldern neue Konkurrenten. So hat sich der Bereich »politische Theorie«, in dem...