9Einleitung
Das Verfügenkönnen über die Räume hat es uns angetan.
(Siegfried Kracauer)
Der Titel Räume, Orte, Grenzen umschreibt das Thema, das auf den nächsten Seiten behandelt werden soll. Der Untertitel Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie des Raums gibt die folgenden Überlegungen als Teil einer Suchbewegung aus, denn noch immer tut sich die Soziologie schwer mit dem Raum. Ein ähnlich schwieriges Verhältnis scheint die Soziologie zum Thema Zeit zu unterhalten. Sowohl die Zeit (Waldmann 1971, Lüscher 1974) als auch der Raum (Konau 1973) sind Aspekte, die von der soziologischen Theoriebildung in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts vernachlässigt worden sind. Inzwischen gibt es eine große Zahl von Arbeiten zum Zeitthema, doch die Soziologie hat erst in den letzten Jahren begonnen, die Lücke zu schließen, die durch die Nichtbehandlung des Raumthemas entstanden ist. Nachdem Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts noch einmal auf die »Raumblindheit« (Läpple 1991: 163; Dangschat 1994: 336) und »Raumvergessenheit« (Schäfers/Bauer 1994) der Sozialwissenschaften hingewiesen wurde, ist inzwischen durchaus von einer regen Aufmerksamkeit dem Thema gegenüber zu sprechen, wie allein schon die Anzahl der Monografien (Sturm 2000, Ahrens 2001, Löw 2001) und Sammelbände (vgl. Ecarius/Löw 1997, Fecht/Kamper 2000, Feiner/Kick/Krauß 2001, Henckel/Eberling 2002, Maresch/Werber 2002, Krämer-Badoni/Kuhm 2003, Funken/Löw 2003) aus den letzten Jahren zu diesem Thema zeigt. In all diesen Publikationen wird die Zentralität des Raumbegriffs für die Sozialwissenschaften diskutiert, wobei unterschiedliche Raumvorstellungen vorgestellt und verschiedene Raumbegriffe entwickelt werden.
Mit welchen Raumbegriffen wir es aber auch immer zu tun haben, stets gilt, dass wir in Schwierigkeiten geraten würden, wenn wir die ontologische Frage stellten, was der Raum nun tatsächlich ist oder nicht ist – eine Frage, die sich die klassische Physik und die Philosophie seit Jahrtausenden stellt. Vielmehr wird man auch in diesem Falle die »Was«- in eine »Wie«-Frage überführen müssen. 10Insofern wird es im Folgenden nicht um die Beantwortung der Frage gehen, was Raum letztendlich ist, sondern darum, wie Raum bisher gedacht worden ist und welche Auswirkungen und Folgen dies für die soziologische Theoriebildung hatte und hat. Es geht – im Sinne eines wissenssoziologischen Zugangs – weniger um »den« Raum als vielmehr um verschiedene Möglichkeiten, den Raum zu denken, also um Raumkonzepte und Raumvorstellungen.
Wenn man aber anfängt über den Raum nachzudenken, stößt man schnell auf ein Paradoxon: Auf der einen Seite ist der Raum sehr konkret, da er uns ständig zu umgeben scheint, wir uns ständig »in« ihm aufhalten. Wir können Raum erfahren, können Räume begehen, betreten und wieder verlassen. Auf der anderen Seite ist der Raum äußerst abstrakt. Können wir uns unter »Lebensraum« noch etwas Konkretes vorstellen, scheint schon der »Weltraum« nicht mehr recht fassbar, weil er sich in seinen unendlichen Weiten und seinen immer noch expandierenden Ausmaßen unserer Erfahrung entzieht. Schon Pascal notiert angesichts dieser Unermesslichkeit des Raumes: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich« (Pascal 1997: 141).
Die Unterscheidung zwischen einem erlebbaren und einem nur vorstellbaren Raum hat erhebliche Auswirkungen auch für die soziologischen Vorstellungen vom Raum. Die Entwicklung der Moderne, mit der die Soziologie seit jeher befasst ist, beschreibt nicht zuletzt eine Entwicklung, die von den uns unmittelbar umgebenden Räumen zu den unbegrenzt fernen Räumen führt. Während wir in frühen Stammesgesellschaften eine starke Bindung an den Nahraum beobachten können, führt uns die Moderne gerade über die alternativlos gegebenen Räume hinaus und eröffnet neue Horizonte. Der Moderne ist die Befreiung aus dem Nahraum und die Eroberung der Ferne gleichsam eingeschrieben. Sie führt aber zugleich dazu, dass die Ferne immer mehr in Nähe verwandelt wird und die »eigentliche«, »ursprüngliche« Nähe als »bedroht« erscheint. Die Klage über den Verlust der Gemeinschaft, des Lokalen und der Tradition findet hier ihren Ausgangspunkt. Auf die Eroberung der Ferne, die unweigerlich zur Konfrontation mit alternativen Lebensvorstellungen, Sitten und Gebräuchen führt, folgt die Vorstellung, dass das Eigene gegenüber dem Fremden verteidigt werden müsse. Es ist diese Konstellation, die deutliche Spuren in den klassischen Theorien der Soziologie hinterlassen hat. In ihrer 11Mehrheit zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie Nähe gegenüber Ferne privilegieren. Zwar wird die Entwicklung der Moderne mit dem Aufbruch in fremde Welten und der Befreiung des Individuums aus traditionalen Sozialbeziehungen gleichgesetzt. Doch obwohl dieser Vorgang in großen Teilen der Modernisierungstheorie durchaus begrüßt wird, wird das Soziale doch immer wieder an Nahverhältnisse gebunden, während die fernen Einflüsse als Bedrohung wahrgenommen werden. Diese in die Geschichte der Soziologie tief eingesenkte Überzeugung ist es, so meine These, die eine systematische Behandlung des Raums verhindert hat. Raum wird letztlich mit dem Ort gleichgesetzt, und die zunehmende Ablösung des Sozialen von örtlichen Gegebenheiten wird als Verfallsgeschichte erzählt. Zugleich wird immer wieder die Notwendigkeit überschaubarer Verhältnisse, sozialer Beziehungen und Gemeinschaften auf lokaler Basis und die Unverzichtbarkeit von Face-to-face-Kontakten eingeklagt.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht deshalb die Frage, welche Folgen ein solches Raumverständnis hat und was sich ändert, wenn man die Privilegierung der Nähe und des Ortes aufgibt. Um diese Frage zu beantworten, gehe ich wie folgt vor:
In einem ersten Schritt werde ich mich den Gründen widmen, die zu einer Nichtthematisierung des Raums im sozialwissenschaftlichen Kontext geführt haben. Anschließend werde ich die philosophisch-physikalischen Raumkonzepte diskutieren, die einen erheblichen Einfluss auf die Auffassung von Raum im soziologischen Kontext ausgeübt haben. In der Geschichte der Naturwissenschaften und der Philosophie ist die derzeit in den Sozialwissenschaften geführte Debatte über die Kategorie des Raums bereits vorgezeichnet. Auch in der Soziologie geht es um den Streit zwischen absolutistisch-substanziellen auf der einen und relativistisch-relationalen Raumtheorien auf der anderen Seite. Daneben jedoch spielt für die Sozialwissenschaften insbesondere das Verhältnis von physischem und sozialem Raum eine große Rolle. Bei Emile Durkheim, Georg Simmel, Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Niklas Luhmann findet man sowohl eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Raumbegriffen als auch eine stillschweigende Übernahme des einen oder anderen physikalisch-philosophischen Raumbegriffs, wie ich im Einzelnen herausarbeiten werde. Dabei lasse ich mich von der Vorstellung leiten, dass es im soziologischen 12Zusammenhang nicht um eine Fortsetzung des scheinbar endlosen Streits um den einen, einzig richtigen Begriff des Raums in Philosophie und Physik gehen kann. Die Soziologie hat sich beim Thema Raum vielmehr dafür zu interessieren, wie Raum tatsächlich konstituiert wird, wann Raum als Problem überhaupt virulent wird und was die Berücksichtigung des Raums in soziologischen Theorien für Folgen zeitigt. Auf der Grundlage der theoretischen Diskussion um ein angemessenes Raumverständnis werden in den darauf folgenden Kapiteln die Konsequenzen aufgezeigt, die sich ergeben, wenn die Soziologie nicht mehr mit einem banalen, letztlich erd-räumlichen, physisch-materiellen Raumbegriff arbeitet, sondern mit einem konstruktivistischen Raumbegriff, der die Entstehung des Raums auf soziale Operationen zurückführt. Statt einer zunehmenden Irrelevanz des Raums ist dabei der vermehrte Aufbau von Räumen zu beobachten. Um diese Perspektive zu verfolgen, wird anhand der exemplarischen Analysen zu politischen Räumen, urbanen Räumen, virtuellen Räumen und Körperräumen danach gefragt, welche Raumauffassungen in diesen Themenfeldern zur Sprache kommen. Dabei gehe ich einerseits davon aus, dass der Vorstellung relationaler Räume eine immer größere Bedeutung für die Erklärung von Globalisierungsprozessen, mediatisierter Kommunikation und Körperkonzepten zuwächst. Auf der anderen Seite werde ich den Nachweis führen, dass dem Behälter-Raumkonzept nach wie vor eine hohe Attraktivität zukommt, weil mit seiner Hilfe klare Trennlinien gezogen und Zuordnungen vorgenommen werden können.
Zeitdiagnostisch gesehen erleben wir derzeit – und auch darauf wird einzugehen sein –, dass eine weit zurückreichende Vorstellung über den Raum immer weniger zu gelten scheint, die der französische Schriftsteller George Perec wie folgt zu charakterisieren versucht hat: »Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muß immer die Zeit wissen […], aber man fragt sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: man ist zu Hause, man ist im Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße« (Perec 1990: 103). Es ist diese Selbstverständlichkeit in Bezug auf den Raum, auf die lokale Verortung und die Ortsgebundenheit, die im Zeitalter von Computern, Handys und GPS-Systemen nicht mehr länger zutrifft. Die einstmalige 13Selbstverständlichkeit räumlicher Bezüge machte den Raum zu einer Art Kontingenzbewältiger. Die derzeitige Unruhe rührt genau daher, dass räumliche Bezüge nun selbst flexibel, kontingent und fragil geworden...