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Kritik der ethischen Gewalt

Adorno-Vorlesungen 2002

AutorJudith Butler
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783518732182
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR

Im November 2002 hat Judith Butler mit überwältigendem Erfolg die Adorno-Vorlesungen an der Universität Frankfurt gehalten, die nun in einer deutlich erweiterten Fassung als Taschenbuch erscheinen. In ihrer Kritik der ethischen Gewalt geht sie der Frage nach, wie man angesichts einer Theorie des Subjekts, dessen Entstehungsbedingungen sich nie restlos klären lassen, dennoch die Möglichkeit von Verantwortung und Rechenschaft bewahren kann. In Auseinandersetzung mit Adorno, Cavarrero, Foucault, Lévinas und der Psychoanalyse zeigt Butler, daß jede dieser Theorien etwas ethisch Bedeutsames enthält, das sich aus den Grenzen ergibt, die jedem Versuch gezogen sind, Rechenschaft von sich selbst abzulegen: Noch in demjenigen, das wir »ethisches Scheitern« nennen, steckt eine ethische Wertigkeit und Bedeutsamkeit, und die Frage der Ethik erscheint genau an den Grenzen unserer Systeme der Verständlichkeit.
»Mit dem Begriff der ?ethischen Gewalt? legt Butler den moralphilosophischen Kern von Adornos Denken frei.« Die literarische Welt



<p>Judith Butler, geboren 1956, ist Maxine Elliot Professor f&uuml;r Komparatistik, Gender Studies und kritische Theorie an der University of California, Berkeley. 2012 erhielt sie den Adorno- Preis der Stadt Frankfurt am Main.</p>

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Leseprobe

Anredeszenen


Wir beginnen mit einer Erwiderung, einer Frage, die auf ein Geräusch antwortet, und wir tun es im Dunkeln – tun es, ohne genau Bescheid zu wissen begnügen uns mit Sprechen. Wer ist da, wer ist hier, und wer ist weggegangen?

Thomas Keenan, Fables of Responsibility

Ich möchte diese Fragen an Adorno für den Moment beiseite lassen und später auf sie zurückkommen, um mich hier nicht der Beziehung des Subjekts zur Moral, sondern einer früheren 18Beziehung zuzuwenden: der Rolle der Moral bei der Hervorbringung des Subjekts. Die erste Frage ist entscheidend, und sie erübrigt sich durch die folgenden Überlegungen keineswegs. Denn ein von der Moral hervorgebrachtes Subjekt muss sich immer noch mit der Moral ins Benehmen setzen, und kein Weg führt um diese paradoxe Bedingung der moralischen Überlegung und der Aufgabe herum, Rechenschaft von sich selbst zu geben. Auch wenn die Moral ein Bündel an Normen zur Verfügung stellt, die ein sich selbst verständliches Subjekt hervorbringen, bleibt es doch ein Bündel von Normen und Regeln, zu denen das Subjekt ein lebendiges und reflektierendes Verhältnis gewinnen muss.

In der Genealogie der Moral bietet Nietzsche eine umstrittene Darstellung des Prozesses, durch den wir überhaupt zum Nachdenken über unsere eigenen Handlungen kommen und in die Lage versetzt werden, Rechenschaft von dem abzulegen, was wir getan haben. Für Nietzsche gehen dem Bewusstsein unserer selbst bestimmte Verletzungen voraus. Jemand leidet infolge einer solchen Verletzung, und die leidende Person oder vielmehr ihr Vertreter in einem Rechtssystem versucht, die Ursache dieses Leids ausfindig zu machen – und fragt uns, ob nicht wir diese Ursache sein könnten. Dem für eine schädigende Handlung Verantwortlichen eine gerechte Strafe zu erteilen, ist genau der Grund, aus dem die Frage gestellt wird und das fragliche Subjekt sich selbst zu befragen beginnt. Strafe, sagt Nietzsche, ist »ein Gedächtnissmachen«.[11] Die Frage setzt das Selbst als kausale Macht, und sie impliziert eine bestimmte Form von Verantwortung. Wenn wir danach gefragt werden, ob wir jenes Leid verursacht haben, dann sinnt uns eine bestehende Amtsgewalt nicht nur an, eine kausale Verbindung zwischen unseren Handlungen und dem sich anschließenden Leid herzustellen, sondern auch, Verantwortung für diese Handlungen und ihre Folgen zu übernehmen. Dies 19ist der Hintergrund, vor dem man von uns verlangt, Rechenschaft von uns abzulegen.

Wir beginnen nur damit, Rechenschaft abzulegen, weil wir als Wesen befragt sind, die in einem Rechts- und Strafsystem Rede und Antwort stehen müssen. Dieses System ist nicht immer schon da, sondern wird im Lauf der Zeit und mit hohen Kosten für die menschlichen Instinkte etabliert. Nietzsche zufolge fühlten sich die Menschen unter diesen Umständen »zu den einfachsten Verrichtungen […] ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combinieren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr ›Bewusstsein‹, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ!«.[12]

Also fange ich Nietzsche zufolge an zu erklären, weil jemand mich gefragt hat und dieser Jemand im Rahmen eines bestehenden Rechtssystems mit Machtbefugnissen ausgestattet ist. Man hat sich an mich gewendet, mir ist vielleicht sogar eine Tat zugeschrieben worden, und eine gewisse Strafandrohung verleiht der Befragung Gewicht. Und so biete ich mich in ängstlicher Reaktion darauf als ein ›Ich‹ an und versuche, meine Taten zu rekonstruieren und zu zeigen, dass die mir zugeschriebene Tat darunter oder auch nicht darunter war. Entweder bekenne ich mich zu mir selbst als der Ursache einer solchen Handlung und erläutere meinen kausalen Beitrag, oder ich wehre mich gegen die Zuschreibung der Tat und mache deren Ursache vielleicht anderswo aus. Dies ist der Rahmen, innerhalb dessen ich Rechenschaft von mir gebe. Zurechenbarkeit setzt für Nietzsche immer schon eine Beschuldigung oder zumindest eine mutmaßende Behauptung voraus, und zwar von jemandem, der in der Position ist, eine Strafe zu verhängen, wenn der kausale Zusammenhang nach20gewiesen werden kann. Reflexiv werden wir also durch Angst und Schrecken. Ja, infolge von Angst und Schrecken werden wir moralisch.

Nun könnte es aber sein, dass neben Angst noch andere Wertigkeiten damit einhergehen, befragt zu werden. Es könnte sehr wohl einen Wunsch nach Wissen und Verständnis geben, der sich nicht aus dem Wunsch nach Bestrafung speist, und einen Wunsch, zu erklären und zu erzählen, der nicht durch die schrecklich drohende Strafe verursacht ist. Nietzsche hat ganz richtig gesehen, dass ich mit meiner Geschichte von mir erst angesichts eines ›Du‹ beginne, das mich auffordert, Rechenschaft abzulegen. Erst angesichts einer solchen Frage oder Zuschreibung durch einen Anderen – »Warst du es?« – erzählt sich überhaupt jemand selbst oder stellen wir fest, dass wir aus dringenden Gründen zu Wesen werden müssen, die sich selbst erzählen. Natürlich ist es immer möglich, angesichts einer solchen Frage zu schweigen, wobei das Schweigen dann einen Widerstand gegen die Frage ausdrückt: »Sie haben kein Recht, mir eine solche Frage zu stellen«, oder »Ich werde diese Mutmaßungen keiner Antwort würdigen«, oder auch »Selbst wenn ich es war, geht Sie das nichts an«. In diesen Fällen zieht das Schweigen entweder die Legitimität der durch die Frage und den Fragenden evozierten Autorität in Zweifel, oder es versucht einen autonomen Bereich abzugrenzen, in den der Fragende nicht eindringen kann oder sollte. Die Weigerung, zu erzählen, bleibt ein Verhältnis zum Erzählen und zur Anredeszene. Als vorenthaltene Erzählung verweigert sie entweder die Beziehung, die der Fragende unterstellt, oder sie verändert sie dahingehend, dass der Befragte den Fragesteller zurückweist.

Eine Geschichte über sich selbst zu erzählen ist nicht dasselbe, wie Rechenschaft von sich selbst abzulegen. Und doch können wir an unserem Beispiel sehen, dass die für eine Rechtfertigung in eigener Sache erforderliche Art von Erzählung von der Annahme ausgehen muss, dass das Selbst eine kausale 21Beziehung zum Leiden anderer hat (und letztlich, vermittelt durch das schlechte Gewissen, auch zu sich selbst). Natürlich nimmt nicht jede Erzählung diese Form an. Die Erzählung jedoch, die auf eine mutmaßende Behauptung antwortet, muss von vornherein die Möglichkeit der kausalen Kraft des Selbst akzeptieren, auch wenn dieses in einem bestimmten Fall nicht die Ursache des fraglichen Leidens war.

Die Rechenschaft nimmt also narrative Form an; sie hängt nicht nur von der Fähigkeit ab, eine Abfolge von Ereignissen mit plausiblen Übergängen wiederzugeben, sondern auch von der narrativen Stimme und Autorität, und sie richtet sich an ein Publikum mit dem Ziel, dieses zu überzeugen. Die Erzählung muss im Folgenden geltend machen, dass das Selbst Ursache jenes Leidens war oder eben nicht, also ein überzeugendes Medium anbieten, in dem sich die kausale Kraft des Selbst verstehen lässt. Die Erzählung entsteht nicht, nachdem ein Selbst kausal Ursache geworden ist, sondern sie bildet die Grundvoraussetzung einer jeden Erklärung moralischen Handelns, die wir uns denken können. In diesem Sinne ist die Fähigkeit, zu erzählen die Voraussetzung dafür, Rechenschaft von sich selbst ablegen und mit diesem Mittel Verantwortung für die eigenen Handlungen übernehmen zu können. Natürlich kann man auch einfach nicken oder mittels einer anderen expressiven Geste eingestehen, dass man sehr wohl der Urheber der fraglichen Tat ist. Das Nicken fungiert dann als expressive Voraussetzung des Eingeständnisses. Eine vergleichbare expressive Kraft ist am Werk, wenn man die Frage »Haben Sie irgend etwas zu Ihrer Rechtfertigung vorzubringen?« mit Schweigen beantwortet. In beiden Fällen jedoch ist die Geste des Eingeständnisses nur sinnvoll vor dem Hintergrund eines implizierten Handlungsverlaufs: »Ja, ich habe tatsächlich in der von Ihnen angesprochenen Ereignisfolge die Rolle des kausalen Verursachers gespielt.«

Nietzsches Position wird der Anredeszene, in der nach der Verantwortung gefragt und diese dann übernommen oder ver22weigert wird, nicht ganz gerecht. Er geht von einer Frage aus, die innerhalb eines rechtlichen Rahmens gestellt wird, in dem eine der ursprünglichen Verletzung äquivalente Strafe droht. Aber nicht alle Formen der Anrede verdanken sich diesem System und diesem Grund. Das Strafsystem, das Nietzsche beschreibt, ist auf der Idee der Rache aufgebaut, auch wenn es für seine »Gerechtigkeit« gepriesen wird. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass das Leben ein bestimmtes Maß an Leid und Verletzungen mit sich bringt, dem sich nicht mit Rückgriff auf die kausale Dimension des Subjekts Rechnung tragen lässt. Tatsächlich fällt für Nietzsche die Aggression schlechterdings mit dem Leben zusammen, und wollten wir die Aggression ächten, liefe das in Wirklichkeit auf den Versuch hinaus, das Leben selbst zu ächten. Er schreibt, dass »das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter«. Er fährt fort, dass »Rechtszustände immer nur […] theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist«, sein dürfen. Für Nietzsche wäre der Versuch, mit rechtlichen Mitteln allen Kampf überhaupt abzuschaffen, »ein Attentat auf die Zukunft des Menschen«.[13]

...
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch / zur Autorin2
Impressum4
Inhalt5
Danksagung7
1. Kapitel Rechenschaft von sich selbst9
Anredeszenen17
Foucault’sche Subjekte33
Nachhegelianische Erkundungen39
»Wer bist du?«44
2. Kapitel Gegen die ethische Gewalt58
Grenzen des Urteilens62
Psychoanalyse69
Das ›Ich‹ und das ›Du‹90
3. Kapitel Verantwortung113
Laplanche und Lévinas: Der Vorrang des Anderen115
Adorno über das Menschwerden136
Foucaults kritische Rechenschaft von sich selbst149

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