9Einleitung
Aus einer überfüllten U-Bahn strömt eine Menschenmenge zum Ausgang. In entgegengesetzter Richtung drängt ein zweiter Menschenstrom in die zur Weiterfahrt bereitstehende Bahn. Er trifft auf bereits auf dem Bahnsteig Wartende. Es entfaltet sich ein alltägliches öffentliches Geschehen, das sich stets auf gleichförmige Weise vollzieht. Über die Bildschirme der Video-Überwachung kann man beobachten, wie vor den Wagentüren links und rechts Trauben von Einstiegswilligen wachsen, die den Aussteigenden den Vortritt lassen. Zwischen denen, die zum Ausgang streben, und jenen, die in die andere Richtung drängen, entsteht eine unsichtbare Trennungslinie. Sie verläuft ungefähr in der Mitte des Bahnsteigs. Mit dem An- und Abschwellen der beiden Ströme verschiebt sie sich mal zur einen, mal zur anderen Bahnsteigseite hin.
Dieses kollektive Bewegungs- und Verhaltensmuster löst sich mit dem Abfahren der U-Bahn auf, um sich in ähnlicher Weise wieder neu zu bilden, wenn der nächste Zug einfährt. Es wird durch ein Zusammenspiel verschiedenster Elemente möglich. So sind zum einen Konventionen wirksam: Man wartet eben auf die beschriebene Weise. Man verhält sich auf U-Bahnhöfen eben so. Man vermeidet Zusammenstöße mit dem Gegenverkehr, toleriert in dieser Situation aber zugleich bis zu einem gewissen Grad körperliche Berührungen mit Unbekannten. Die Teilnehmer richten durch fortlaufende körperliche Darstellungen ihr Verhalten aneinander aus. Sie tasten sich mit Blicken ab, zeigen sich gegenseitig ihr Gehen, Warten oder Vorwärtsdrängen an und vertrauen darauf, dass alle auch gemäß der Informationen handeln, die sie durch ihre Darstellungen öffentlich zur Verfügung stellen.
An der kollektiven Bewegungsorganisation wirken zudem gegenständliche Artefakte und technische Vorrichtungen mit. Die Architektur der Zu-, Aus- und Übergänge, die farblichen Markierungslinien, die Treppen, Rolltreppen und Fahrstühle, die Anzeigetafeln, die das Einfahren der Züge ankündigen, oder die visuellen und akustischen Warnsignale an den Wagentüren sind an der Choreografie der Bewegungen auf dem Bahnsteig entscheidend beteiligt.
Das Geschehen verlangt bestimmte Formen der Teilnahme, und 10es lässt zugleich Abweichungen zu. Seine Regelmäßigkeit basiert auf einem Zusammenspiel von expliziten Regeln und Vorschriften, in die Artefakte eingelassenen Anweisungen, impliziten Regeln und normativen Verhaltensanforderungen. Dazu zählt auch die weitgehend geteilte Auffassung, dass man bestimmte Regeln ruhig übertreten kann: Hin und wieder werden – begleitet vom Warnsignal und unter den duldenden Blicken der schon Zugestiegenen – die sich schließenden Türen mit Körperkraft blockiert und für Teilnehmer offen gehalten, die unbedingt noch mitfahren wollen. Diese Nachzügler müssen kurz vor ihrem Sprung in den Wagen darauf vertrauen, dass die beteiligten Fahrgäste das Türenschließen wirklich verhindern werden. Zugleich müssen sie demonstrieren, dass sie entschlossen sind, das Risiko, von den Türen eingeklemmt zu werden, auf sich zu nehmen. Eine in dieser Hinsicht überzeugende Darstellung entlastet die, die sich anschicken, die Türen zu blockieren. Die Verantwortung für die kooperative Intervention gegen die technisch automatisierte Zutrittsregelung wird so auf alle Beteiligten verteilt.
Dieses Bild vom Geschehen auf einem U-Bahnhof zeigt die Konturen einer sozialen Ordnungsbildung und veranschaulicht eine soziale Praktik. Soziale Praktiken stehen im Mittelpunkt dieser Studie. Die Praktik des U-Bahn-Fahrens demonstriert bereits ihre wichtigsten Kennzeichen: Soziale Praktiken sind öffentlich. Sie sind an bestimmte Umstände, Orte, Kontexte und materielle Rahmungen gebunden. Sie vollziehen sich überwiegend im Modus des Gewohnten und Selbstverständlichen. Sie haben kollektiven Zuschnitt, das heißt, sie involvieren Teilnehmerschaften und Praktikergemeinschaften: Fahrgäste, Konzertbesucherinnen, Fachleute, Mitarbeiterinnen, Kundinnen, Ausübende, Kenner, Könner, Spezialistinnen. In sozialen Praktiken spielen körperliche Performanzen und Routinen, ein gemeinsam geteiltes praktisches Wissen und die beteiligten Artefakte eine wichtige Rolle. Und schließlich: Soziale Praktiken sind durch eine sich immer wieder aufs Neue bildende Regelmäßigkeit gekennzeichnet.
An diesen letzten und entscheidenden Punkt knüpfen praxistheoretische Ansätze eine weit reichende These: Die Regelmäßigkeit von Verhaltensweisen, die Geordnetheit sozialen Geschehens und die Strukturiertheit sozialer Beziehungen, alle diese Grundmerkmale des Sozialen werden in und durch soziale Praktiken hervorge11bracht. Diese Generalthese wird – mal mehr, mal weniger explizit und stringent – von einem ganzen Bündel durchaus heterogener sozialwissenschaftlicher Ansätze verfolgt. Sie reichen von den Interaktionsstudien Erving Goffmans und der Ethnomethodologie über die von Norbert Elias entwickelte Figurationssoziologie, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens bis hin zur Praxeologie Pierre Bourdieus. Mit ihrer Konzentration auf die sozialen Praktiken positionieren sich diese Zugänge in kritischer Distanz sowohl zu objektivistischen, holistischen und kollektivistischen Vokabularen, die das Soziale mit Strukturen, Funktionen und Systemen identifizieren, als auch zu jenen Richtungen, die das Soziale aus dem Zusammenspiel von Einzelhandlungen ableiten.
Der anhaltende Erfolg praxistheoretischer Ansätze gilt mittlerweile als Indiz für einen practice turn, für eine an den sozialen Praktiken orientierte soziologische Neuausrichtung. In der vorliegenden Untersuchung wird diese Perspektive kritisch vermessen. Sie wird in Auseinandersetzung mit ihren wichtigsten Vertretern in ihrer methodologischen Dimension rekonstruiert, in empirischen Analysen erprobt und konzeptionell weiter ausgearbeitet.
Auf welche sozialen und wissenschaftssoziologischen Entwicklungen reagiert dieser practice turn? Man kann den Erfolg der praxistheoretischen Zugänge mit dem Scheitern der grand theories, mit der Krise des Funktionalismus, der ›systematischen Gesellschaftstheorie‹ und der in diese Konzepte eingelassenen Vorstellungen über ›die Gesellschaft‹ als eine geschlossene, nationalstaatlich verfasste Einheit in Zusammenhang bringen. In praxistheoretischen Ansätzen wird auf das Erkenntnisobjekt ›Gesellschaft‹ entweder ganz verzichtet, oder es wird von der Veränderlichkeit, Offenheit und den unscharfen Grenzen von ›Gesellschaft‹ ausgegangen. Statt ›der Gesellschaft‹ werden eher fortlaufende Prozesse der Vergesellschaftung untersucht – soziale Vollzüge in räumlich und zeitlich konkret bestimmbaren, materiell situierten und miteinander verknüpften Kontexten.
Für die Soziologie ergeben sich damit neue Aufgaben und Möglichkeiten. Wo sie ihre Zuständigkeit für die Kritik ›der Gesellschaft‹ eingebüßt zu haben scheint – angesichts globaler Gefährdungen werden alarmierende Gesellschaftsdiagnosen und Aufrufe zur Veränderung des gegenwärtigen way of life kaum noch von der 12Soziologie, sondern stattdessen von der Klimaforschung, der Biologie oder den Geowissenschaften formuliert –, da kann sie über die empirische Analyse lokaler, sozio-materiell verankerter und vernetzter Praktiken eine kritische Expertise zurückgewinnen.
Man kann den Aufschwung der Praxeologien aber auch auf die Krise der Rational-Choice-Ansätze mit ihren empirisch unplausiblen handlungstheoretischen Modellannahmen beziehen. Die Praxissoziologien wenden sich gegen Konzeptionen, die das Soziale als Verhalten vieler Einzelner entwerfen und deren interessenbestimmte Kooperationsmuster untersuchen. Sie rücken stattdessen die Analyse situierter communities of practice in den Mittelpunkt. Solche in und durch soziale Praktiken organisierten Kollektive werden als gegenüber den individuellen Handlungen vorgängige soziale Phänomene aufgefasst. Von den Teilnehmerinnen werden solche Praktikergemeinschaften, die über spezifische Formen von knowing how integriert sind, oft als besondere soziale Zusammenhänge erfahren. Sie sind häufig hinsichtlich ihres Klassen-, Milieu- und Geschlechterstatus exklusiv und produzieren fortlaufend soziale und kulturelle Differenzierungen. Mit dieser Sichtweise artikulieren die Praxissoziologien eine Sozialerfahrung, die sich nach dem Verblassen der Individualisierungsszenarien der 1980er und 1990er Jahre wieder verbreitet. Sie beschreiben das Soziale als eine hierarchisch strukturierte, dynamische und relationale Ordnung der sozialen Milieus von Eliten und Prekären, der Arbeits-, Wissenschafts- und Expertenkulturen, der Minderheiten, Szenen, Sportgemeinschaften und Subkulturen.
Neben die Zurückgewinnung kritischer Expertise und die Ausarbeitung einer zeitgenössischen sozialen Erfahrung treten zudem epistemologische Argumente für eine praxissoziologische Orientierung. Die praxistheoretische Perspektive verfolgt ein erkenntniskritisches Projekt. Sie reflektiert den Umstand, dass die sozialwissenschaftlichen Analysen immer selbst Teil der sinnhaften Sozialwelt sind, mit der sie sich befassen. Entsprechend machen die Praxeologien auch die wissenschaftlichen Praktiken von Soziologinnen und Soziologen zu ihrem Gegenstand. Sie bemühen sich darum, Selbstmissverständnisse und Scheinprobleme des wissenschaftlichen Arbeitens aufzuklären, um so zu einem realistischeren Verständnis sozialwissenschaftlicher Praktiken und Analysen beizutragen und deren Möglichkeiten zu entwickeln.
13Die praxistheoretische Perspektive begnügt sich folglich nicht damit, Theorie – wie etwa die marxistische...